Anderson

Zum Vergrößern klicken

Fast ein Vierteljahrhundert ist die DDR nun schon Geschichte, doch die Aufarbeitung der Vergangenheit ist noch lange nicht abgeschlossen. Weder um unmittelbare Schuldzuweisung noch um persönliche Rechtfertigung geht es Annekatrin Hendel in ihrer bemerkenswerten Dokumentation „Anderson“, sondern um abstrakte Fragen nach Schuld und Sühne, Tätern und Opfern.

Webseite: www.salzgeber.de

Deutschland 2014 - Dokumentation
Regie, Buch: Annekatrin Hendel
Länge: 90 Minuten
Verleih: Edition Salzgeber
Kinostart: 2. Oktober 2014
 

FILMKRITIK:

In den 80er Jahren war der in Weimar geborene Schriftsteller Sascha Anderson Fixstern der alternativen Kunstszene im Berliner Prenzlauer Berg. In Hinterzimmern und Wohnküchen, nur scheinbar gut versteckt vor dem alles überwachenden Arm der Stasi, wurden subversive Texte gelesen, viel getrunken, manches geplant und einiges produziert. Mittendrin der Poet und Autor Sascha Anderson, der zu diesem Zeitpunkt als David Menzer, Fritz Müller bzw. Peters Zuträger der Stasi war.

Seit einem Gefängnisaufenthalt Ende der 70er Jahre lieferte Anderson Information über Freunde und Kollegen wie Ekkehard Maaß, Jan Faktor, Wolfgang Hilbig, Uwe Kolbe, Bert Papenfuß, Lutz Rathenow und Cornelia Schleime. Mit Genehmigung der Stasi reiste Anderson 1986 in den Westen aus, arbeitete aber weiter als Spitzel: Auch Roland Jahn, der momentane Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, zählte zu seinen damaligen Freunden und Opfern.

1991, kurz nach dem Mauerfall beschuldigte Wolf Biermann bei der Verleihung des Georg-Büchner-Preises Anderson als IM und löste einen bundesweiten Skandal aus. Lange stritt Anderson seine Informantentätigkeit ab, doch spätestens als Ende der 90er Jahre seine Akte auftauchte, war seine Schuld bewiesen. Insofern geht es Annekatrin Hendel in ihrem nach „Vaterlandsverräter“ zweiten Film einer geplanten Trilogie zum Thema auch nicht um einfache Fragen nach Schuld, um eine lineare Dokumentation über den Mensch Sascha Anderson.

Wie in seinen Glanztagen als Zentrum der Berliner Intellektuellenszenen steht Anderson jedoch auch in dem nach ihm benannten Film stets im Mittelpunkt: Entweder in den Aussagen ehemaliger Freunde oder als Zeuge in eigener Sache. Abgesehen von einigen Aufnahmen in seiner Frankfurter Wohnung hat Hendel Anderson vor allem in einem Filmset interviewt: Einer peniblen Nachstellung der Wohnküche von Ekkehard Maaß, bei dem Anderson einige Jahre wohnte und wo 1991 auch eines der letzten Gespräche zwischen Anderson und seinen Künstler-Freunden stattfand.

In dieser Fassade versucht Hendel hinter die Fassade von Andersons Selbstbild zu blicken, ihn mit unbequemen Fragen und den Folgen seines Handels zu konfrontieren. Und auch wenn die Fassade nicht bröckelt, Anderson in Jahren der Selbstverleugnung, aber auch der Reflektion augenscheinlichen Frieden mit sich und seinem Tun gemacht hat, offenbart „Anderson“ spannende Einblicke. Nicht nur in das Handeln eines Einzelnen, sondern auch in universelle Formen des Verrats.
Von Selbstüberschätzung war Anderson nach eigener Aussage lange Jahre geprägt, vom Irrglauben, dass System DDR/ Stasi kontrollieren zu können, es im Griff zu haben. Mag sein, dass die Freiheit, die die Stasi ihm gelassen hat auch seinen Künstlerfreunden viel ermöglicht hat, doch zu welchem Preis? So sehr Anderson auch der Entschuldigung so vieler Spitzel nachhängt, das er selbst ja niemanden ans Messer geliefert hat, so interessant ist seine Bemerkung, dass er jemanden, der illegale Flugblätter verteilt und deswegen von der Polizei verhört wird, schwerlich als ausschließliches Opfer betrachtet werden kann.

Solche Ambivalenzen, die nicht den Täter entschuldigen, aber aufzeigen, dass die Grenzen und Unterschiede zwischen Täter und Opfer bisweilen nicht ganz so eindeutig sind, wie sie auf den ersten Blick erscheinen, lassen „Anderson“ zu einem so vielschichtigen, sehenswerten Film werden.
 
Michael Meyns