As I Open My Eyes – Kaum öffne ich die Augen

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Beinahe ein Musikfilm, auf jeden Fall aber ein Drama, das frischen Wind in die Kinos trägt: Farah lebt in Tunesien, ist 18 und hat gerade ihr Abi gemacht. Doch statt brav Medizin zu studieren, träumt sie von einer Karriere als Sängerin in einer Rockband und davon, ihre Liebe zum Leadgitarristen Bourhène offen zeigen zu dürfen. Denn vom „Arabischen Frühling“ ist hier in Tunis im Jahr 2010 noch wenig zu spüren. Die Unterdrückung ist allgegenwärtig und reicht bis in die Familien.
Im Grunde geht es um eine Rebellin und ihr eigentlich privates Aufbegehren, doch Leyla Bouzid macht daraus ein energiesprühendes, kaum verhülltes politisches Statement aus der Sicht einer sehr jungen Frau und ihrer Mutter. Dabei verknüpft die tunesische Filmemacherin kunstvoll und beiläufig die Geschichte eines Mädchens und ihrer Familie mit den Problemen eines Landes. Das ist spannend und hat – auch dank der enormen schauspielerischen Leistung der jungen Baya Medhaffer – viel Power.

Webseite: www.kairosfilm.de

Tunesien / Frankreich 2015
Regie: Leyla Bouzid
Drehbuch: Leyla Bouzid, Marie-Sophie Chambon
Darsteller: Baya Medhaffer, Ghalia Benali, Montassar Ayari, Lassaad Jamoussi, Aymen Omrani, Deena Abdelwahed, Youssef Soltana, Marwen Soltana
Originalmusik: Khyam Allami
102 Minuten
Verleih: Kairos Film
Kinostart: 6. Oktober 2016

FESTIVALS/PREISE:

Filmfestival Venedig 2015: Publikumspreis, Europäischer Kinopreis
Festival Namur: „Bayard d’or“: Bester Debütfilm
Festival Saint-Jean de Luz: Publikumspreis, Jurypreis, Preis für die beste Hauptdarstellerin

FILMKRITIK:

Tunis im Jahr 2010: Farah ist äußerlich eher zart, aber hinter dieser Fassade wartet ein Vulkan auf seinen Ausbruch. Soeben hat sie erfolgreich die Schule absolviert, die ganze Familie ist stolz darauf, dass sie Medizin studieren wird, aber Farah hat ganz andere Pläne: Sie singt in einer Rockband, deren Musik und Texte ziemlich offen das herrschende politische System kritisieren, und zusätzlich ist sie heimlich mit dem hübschen Gitarristen Bourhène verbandelt. Niemand aus der Band und niemand sonst darf das erfahren. Die tunesische Gesellschaft ist, freundlich ausgedrückt, eher spießig. Tatsächlich gibt es eine allgegenwärtige Unterdrückung und Bespitzelung, die bis in die Familien und in den Freundeskreis reicht, wie Farah bald schmerzlich erkennen wird. Um sie zu schützen, versucht Farahs Mutter ihre Tochter vom echten Leben fernzuhalten. Damit bewirkt sie jedoch eher das Gegenteil. Farahs Vater hingegen kümmert sich wenig um seine Tochter. Sein familiärer Einsatz beschränkt sich im Wesentlichen darauf, dass er ihr recht gibt. Als sich herausstellt, dass ein Spitzel in der Band ist, eskalieren die Ereignisse. Farah wird verhaftet, und ihre Mutter macht sich auf, die Tochter zu retten.
 
Eigentlich ist Farah die weibliche Ausgabe eines „jungen Wilden“: ein rebellisches Wesen, unangepasst, leidenschaftlich und voll von Idealismus. Ihre Lust am Ausbruch aus den Zwängen der tunesischen Männergesellschaft, die auf einer Diktatur gründet, ist zu großen Teilen privat, also persönlich bedingt, hat aber darüber hinaus eine starke politische Dimension, die sich im Verlauf der Handlung immer mehr steigert. Parallel dazu wandelt sich nicht nur das Bild von Farah, die anfangs ein zwar ziemlich ungebärdiges, aber doch irgendwie typisches Mädchen ist, sondern auch das ihrer Mutter. Aus der lebenslangen Unterdrückung erwächst hier eine neue Kraft, die zunächst auf Zerstörung bedacht zu sein scheint, aber schließlich doch zur Solidarität mit der Tochter führt, die vielleicht die verlorenen Träume der Mutter erfüllen könnte.
 
Die gesamte Handlung spielt vor Beginn des „Arabischen Frühlings“, der in Ansätzen spürbar ist. Die Jugend, nicht nur Farah, scheint gelegentlich vor Energie zu vibrieren, und es gibt deutliche Indizien dafür, dass das Land von einer Diktatur gelenkt wird. Irgendwann steigert sich die Bedrohung und wird offenkundig. Doch Leyla Bouzid verzichtet mit voller Absicht darauf, die Dinge beim Namen zu nennen; sie arbeitet eher mit subtilen Andeutungen als mit der Politkeule, und das tut dem Film gut. Sie beschränkt sich auf die Erzählung einer kleinen Geschichte, die von Minute zu Minute größer wird: Ein junges Mädchen versucht, ihr Leben in Freiheit und Unabhängigkeit zu leben und geht beinahe daran zugrunde. Farah ist die Stimme der Jugend und der Hoffnung.
 
Eine wichtige Rolle im Film spielt nicht nur der Probenraum, in dem sich die Band trifft, sondern auch ihre Musik: arabischer Rock, der ebenso eingängig wie innovativ ist. Hier verbinden sich traditionelle Rhythmen mit elektronischen, manchmal sogar unerwartet glamourösen Klängen. Dass Farah nicht die große Rockröhre ist, sondern eine eher kleine Stimme hat, passt dann umso mehr zur Persönlichkeit und zum Film, der bereits vielfach dekoriert wurde und nun auch in Deutschland seinen Weg ins Kino findet.
 
Gaby Sikorski