Astrid

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Wenn der Name Astrid fällt, weiß in Schweden jedes Kind, wer gemeint ist: die größte Tochter des Landes, die berühmteste Kinder- und Jugendschriftstellerin der Welt, Astrid Lindgren. Das Biopic über ihre Jugend und ihren holperigen Start ins Erwachsenenleben ist ein wunderschöner Film mit einer Heldin, die sich nicht unterkriegen lässt. Nur ganz nebenbei geht es ums Schreiben, vor allem aber um Astrid Lindgren als Persönlichkeit, die sich lebenslang für Menschenrechte einsetzte und sich - nicht nur in ihren Büchern - kreativ über Regeln und Normen hinwegsetzte. Von ihrem Weg dorthin erzählt Pernille Fischer Christensen („Eine Familie“) sehr sensibel, fesselnd und mit feinem, unterkühltem Humor. Allerbestes skandinavisches Erzählkino.

Webseite: dcmworld.com

Schweden/Deutschland/Dänemark 2018
Regie: Pernille Fischer Christensen
Drehbuch: Kim Fupz Aakeson, Pernille Fischer Christensen
Darsteller: Trine Dyrholm, Alba August, Maria Bonnevie, Björn Gustafsson, Magnus Krepper
Kamera: Erik Molberg Hansen
121 Minuten
Verleih: DCM
Kinostart: 6. Dezember 2018

FILMKRITIK:

Astrid wächst als Tochter einer streng protestantischen Familie im südschwedischen Vimmerby auf und ist zunächst vor allem mit dem Jungsein beschäftigt. Sie hat für die damalige Zeit – Anfang der 20er Jahre – viele Freiheiten, ist mutig, blitzgescheit und optimistisch, dabei alles andere als mädchenhaft – ein ziemlich temperamentvoller Wirbelwind. Mit 17, nach der Schule, erhält Astrid einen Job als Mädchen für alles in der Zeitungsredaktion des benachbarten Städtchens, und das bedeutet den Abschied aus dem Bullerbü-Land ihrer Kindheit. Endlich ein Hauch von Unabhängigkeit! Ihr Chef Reinhold Blomberg erkennt das erwachende Talent und lässt sie Reportagen schreiben. Astrid stürzt sich voller Begeisterung auf die Arbeit und bald darauf genauso begeistert in die Liebe zu Blomberg, der ebenfalls ein Freigeist ist, allerdings einer von der verheirateten Sorte. Astrid wird schwanger – wenn das bekannt würde, wäre es ein Skandal. Sie verlässt Vimmerby, geht nach Stockholm und macht eine Ausbildung als Sekretärin. Eine Anwältin für Frauenrechte rät ihr, das Kind in Dänemark zur Welt zu bringen. Dort müssen die Mütter, im Gegensatz zu Schweden, den Namen des Vaters nicht bekanntgeben. Um Blombergs Ehescheidung zu beschleunigen und ein drohendes Strafverfahren wegen Ehebruchs gegen ihn zu vermeiden, befolgt Astrid den Rat der Anwältin und lässt den neugeborenen Sohn bei einer Pflegemutter in Kopenhagen. Astrid entscheidet sich schließlich gegen die Heirat mit Blomberg und holt das Kind zu sich.
 
Astrid Lindgren, wie sie wurde, was sie war: Der Film von Pernille Fischer Christensen ist alles andere als eine typische Künstlerbiographie, es gibt also keine mehr oder weniger originellen Szenen, in denen die große Dichterin bleistiftkauend nach Worten sucht oder auf der Jagd nach Inspiration im Mondenschein tanzt. Hier geht es deutlich handfester und realistischer zu. Das Drehbuch reduziert den Menschen Astrid Lindgren nicht auf ihre Bücher oder Geschichten, sondern er lässt diese faszinierende Frau und ihre Zeit lebendig werden, mit allen Problemen und Hindernissen, die ihr in den Weg gelegt wurden oder die sie sich selbst geschaffen hat, je nach Standpunkt. Wie sich dieses anfangs so optimistische, immer leicht überschwängliche junge Mädchen vom wilden Kind zu einer selbstbewussten, couragierten Persönlichkeit entwickelt, die um ihre Selbständigkeit kämpft und ihre schwierige Situation in den Griff bekommt, das ist eine Frauengeschichte mit allem Drum und dran, mit allem, was auch heute noch gelegentlich Frauen daran hindert, ihre Träume zu leben: unerwartet schwanger, ein Kind ohne Vater, finanzielle Not, Familienprobleme, Schwierigkeiten im Job. Vermutlich hat all das mit dazu beigetragen, dass Pippi Langstrumpf, Ronja Räubertochter, Karlsson, Madita und die vielen anderen unsterblichen Figuren aus Astrid Lindgrens Werken entstehen konnten. Sicherlich aber war all das notwendig, damit der Mensch Astrid wachsen konnte, um sich später und lebenslang für die Rechte von Kindern, Frauen und Minderheiten einzusetzen. Abgesehen davon ist es eine schöne Idee, auf derart subtile Weise die Frage zu beantworten, woher eigentlich die Geschichten kommen. Aus dem Leben natürlich, ob direkt oder indirekt.
 
Vieles an diesem Film ist ganz besonders und ganz besonders gut: Wie es Pernille Fischer Christensen gelingt, die Stimmung und Atmosphäre der 20er Jahre einzufangen, die Kostüme, die in meist sanften Farben gehalten sind, herrliche Landschaftsbilder und die eindrücklichen Szenen von Astrids Leben in Angst und Armut. Doch zwei Aspekte ragen heraus: eine anfangs unscheinbare Rahmenhandlung, in der die greise Astrid Lindgren, deren Gesicht nie ganz zu sehen ist, die Briefe von Kindern liest. Am Ende wird hier ein schöner Bogen gespannt, der für eine sehr anrührende Schlussszene sorgt. Vor allem anderen aber ist es Alba August, die unfassbar gut und einfühlsam die junge Astrid spielt. Sie ist das übermütige Kind, die einsame Frau, die wartende Geliebte, die glückselige und die verzweifelte Mutter – manchmal alles gleichzeitig, aber immer mit faszinierender Leichtigkeit und großer schauspielerischer Intelligenz. Ihr spitzbübisches Lächeln lässt sie jünger und immer wieder beinahe kindlich wirken, gibt ihr aber auch einen atemberaubend ehrlichen Charme. Sie macht aus dem Film kein übliches Biopic, sondern eine sehr überzeugende Coming of Age-Geschichte. Und sie erweckt Astrid Lindgren buchstäblich zu neuem Leben.
 
Gaby Sikorski