Leave No Trace

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Will und seine Tochter Tom leben abseits der Zivilisation in den Farnwäldern eines amerikanischen Nationalparks. Die fragile Harmonie dieses Lebensentwurfs droht durch äußere Intervention und die Adoleszenz der Tochter zerstört zu werden. Zwischen Coming-of-Age und Kriegstraumata changierend, erzählt Debra Graniks „Leave No Trace“ einfühlsam von einer Flucht vor der Gesellschaft.

Webseite: www.leavenotrace-film.de

USA 2017
Regie: Debra Granik
Buch: Debra Granik, Anne Rosellini, Peter Rock (Roman)
Darsteller: Thomasin McKenzie, Ben Foster, Jeff Kober, Dale Dickey
Länge: 109 Minuten
Verleih: Sony Pictures Deutschland
Kinostart: 13. September 2018

FILMKRITIK:

Wills Heimweg führt eine Landstraße hinauf. Er folgt ihr bis an eine Waldlichtung und biegt ab – nicht auf einen neuen Weg, sondern direkt in das Dickicht. Er kämpft sich durch Gestrüpp und Büsche, bis er schließlich in den Wäldern verschwindet. Hier, am Rande eines Nationalparks, lebt der Army-Veteran mit seiner Tochter Tom. Fernab der Zivilisation gibt der Vater ihr Unterricht, geht mit ihr auf Nahrungssuche und teilt ein Zelt mit ihr. Standhaft wehrt sich die kleine Familie so gegen jegliche Bedrohungen, die von Außerhalb in ihren Lebensraum einzudringen versuchen.

So routiniert und erfahren das Vater-Tochter-Gespann die Bedrohungen durch die Außenwelt abwehrt, so erschütternd wirkt die kleinste Veränderung innerhalb der Beziehung. Nicht der Zugriff einer Polizeieinheit, die den Aufenthalt beider im Nationalpark zumindest vorübergehend beendet, sondern ein kleines, scheinbar wertloses Stück Schmuck droht die fragile Harmonie zwischen Will (Ben Foster) und Tom (Thomasin McKenzie) zu zerstören. Es ist ein kleiner goldener Anhänger, der die winzige Unstimmigkeit markiert, die die Familienkonstellation das erste Mal nachhaltig ins Wanken bringt. Tom entdeckt ihn bei einer Einkaufstour in die nahe gelegene Stadt. Will erlaubt ihr, ihn zu behalten, allerdings nur wenn er bei ihrer Rückkehr noch immer an derselben Stelle des Waldbodens liegt. Als die Tochter ihrem Glück etwas nachhelfen und den Anhänger unter einem Farn verstecken will, ermahnt sie ihr Vater, ihn offen sichtbar liegen zu lassen. Nachdem er sich abwendet, legt Tom das Schmuckstück wieder auf den Weg, bedeckt es aber im Vorbeigehen mit einem Haufen Erde. Was in einer klassischen Familienstruktur eine absolut alltägliche Banalität wäre, ist für die so fragile Vater-Tochter-Beziehung ein Paradigmenwechsel. Die unabdingbare Ehrlichkeit und die zwingend erforderliche Folgsamkeit, die ihr Leben jenseits der Zivilisation verlangt, wird ein erstes Mal in Frage gestellt. Tom wird erwachsen. Die Adoleszenz, die schon ein reguläres Familienleben durchaus belasten kann, wird für Wills Lebensentwurf eine kaum zu tragende Last.

Regisseurin Debra Granik lenkt die, auf Peter Rocks Roman „My Abandonment“ basierende, Geschichte nicht linear auf Toms Abnabelung, bzw. das Zerwürfnis mit dem Vater hin. Der anti-Zivilisatorische Lebensentwurf implodiert nicht plötzlich, sondern wird vielmehr sukzessive als das tragische Ergebnis von Wills Vergangenheit enthüllt. Nachdem Tom und Will nach dem Polizeizugriff an ein soziales Betreuungsprogramm übergeben werden, das die Tochter in die Schule und den Vater in die Arbeit auf einer Tannen-Farm wiedereingliedert, offenbart sich das Trauma, das den Vater in das Leben in der Wildnis getrieben hat. Die Tannen, die mit schwerem Gerät abgeholzt, und transportiert werden, stehen auf der Farm nicht frei wie im Wald, sondern exakt aufgereiht wie die Reihen einer Militäreinheit. Die industrielle Arbeit, der Lärm, das schwere Gerät, die kreisenden Helikopter – all das bringt das Kriegstrauma zurück in Wills Leben. Sein Lebensentwurf ist keine Esoterik, kein Gegenmodell zur Konsumgesellschaft; er ist die Flucht vor einem Trauma, entstanden aus der Alternativlosigkeit, die sich Army-Veteranen bei der Rückkehr in die Heimat auftut. Ein Phänomen, das der Film nicht nur individuell, sondern auch gesellschaftlich festmacht: In gleich zwei US-Bundesstaaten werden Will und Tom auf weitere Veteranen-Communities treffen, die ihre Camps in den hiesigen Nationalparks aufgeschlagen haben.

Mit leisen Tönen balanciert Debra Granik diese posttraumatische Lebensrealität mit der Adoleszenz der Tochter. Was die sozial und erzählerisch grundverschiedenen Welten von Coming of Age und Kriegsheimkehrergeschichte so bedachtsam miteinander vereint, ist nicht etwa ein präzise geschliffene dramaturgische Gewichtung, sondern eine vorbehaltlose Empathie, mit der die Regisseurin sowohl von der Flucht aus der Gesellschaft, als auch von der Hinwendung zur Gesellschaft erzählt. Die Liebe, die Vater und Tochter, trotz der sich allmählich gegensätzlich ausrichtenden Lebenswege zusammenhält, wird keiner dramaturgischen Volte geopfert. „Leave No Trace“ folgt stets der erratischen Fluchtbewegung des Veteranen, ohne ihm dabei ein offenkundig geeignetes Lebensmodell oder einen Ausweg entgegenzuhalten. So liegt auch die Tragik letztlich nicht in den auseinanderdriftenden Lebenswegen von Vater und Tochter, sie liegt in der Feststellung, dass ein Kriegstrauma schlicht keine heilbare Krankheit, keinen vergänglichen Lebensabschnitt und kein Einzelschicksal darstellt – und das Heranwachsen eben keine umkehrbare Bewegung.

Karsten Munt