Mein Stottern

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In der österreichischen Dokumentation „Mein Stottern“ berichten Stotterer von ihrem Leben mit der Störung und erzählen von Strategien, die ihnen den Alltag erleichtern. Die Interviews mit den Betroffenen wirken auch deshalb so authentisch und offen, da eine der Regisseurinnen selbst jahrelang stotterte und sich deshalb gut in ihre Gesprächspartner hineinversetzen kann. Der mit phantasievollen Animationen angereicherte, zutiefst aufrichtige Film zeigt Menschen, die sich ihrer Problematik stellen und individuelle Wege gefunden haben, diese als Teil ihres Lebens zu akzeptieren.

Webseite: www.meinstottern.at

Österreich 2017
Regie & Drehbuch:  Petra Nickel und Birgit Gohlke
Darsteller: Birgit Gohlke, Gerald Paul, Benedikt Krainz, Volker Stieblich
Länge: 90 Minuten
Kinostart: 25. Oktober 2018
Verleih: filmdelights

FILMKRITIK:

Mehr als 800.000 Menschen in Deutschland stottern, in Österreich sind es knapp 85.000. Auch Birgit Gohlke ist von dieser Beeinträchtigung des Redeflusses betroffen. Zwar hat sie ihr Stottern mittlerweile sehr gut im Griff. Ein Erweckungserlebnis aber erfährt sie, als sie vor einigen Jahren den Film „The King’s Speech“ im Kino sieht. Das Oscar-prämierte Werk über den stotternden King George  reißt bei Birgit alte Wunden auf. Sie entschließt sich, mit dem Stottern endlich Frieden zu schließen und das Thema dokumentarisch zu bearbeiten: Sie trifft auf andere Stotternde, befasst sich mit Therapiemöglichkeiten und lässt zudem Spracht-herapeuten zu Wort kommen.

Für Petra Nickel und Birgit Gohlke ist „Mein Stottern“ die erste gemeinsame Arbeit an einem Film. Nickel arbeitet hauptberuflich als freie Logopädin in Wien, außerdem ist sie ausgebildete Schauspielerin. Protagonistin Gohlke ist Theaterwissenschaftlerin. Sie drehten „Mein Stottern“ im zweiten Halbjahr 2016 unter anderen in Wien, Tirol sowie an verschiedenen Orten in der Steiermark.

Dokus, die aus der Ich-Perspektive erzählen und letztlich auch der Überwindung persönlicher Traumata dienen laufen oft Gefahr, allzu schnell in Sentimentalitäten und seichte Gefilde abzudriften. Die Regisseurinnen Nickel und Gohlke umschiffen diese Gefahr jedoch gekonnt, indem sie „Mein Stottern“ von der ersten Minute an eine locker-leichte, angenehme Aura des Verspielten und Ungezwungenen einverleiben. So verzichten sie zum Beispiel (weitestgehend) auf rührselige, melancholische Musik und untermalen einige Szenen stattdessen mit frischen, lebensbejahenden und positiv anmutenden Instrumentalklängen. Hinzu kommen liebevoll umgesetzte Animationen, die unter anderem prägende Ereignisse im Leben von Gohlke visualisieren oder das von den Interviewpartnern Geäußerte in hübsche Schwarz-Weiß-Trickaufnahmen übersetzen.

Größter Gewinn für den Film sind die vier Betroffenen, die im Zentrum stehen: Volker, Gerald und Alexander, drei Herren zwischen 46 und 53 Jahren, sowie Benedikt, ein 17-jähriger Schüler. Sie fassen Vertrauen zu ihrer Gesprächspartnerin und berichten Gohlke freiheraus und ohne Scheu etwa von ihren größten Unsicherheiten und Problemen im Alltag. Die Interviews sind von einem tiefen Verständnis füreinander  geprägt, nicht zuletzt weil Gohlke nur zu genau weiß, wie sehr das Stottern und die damit einhergehenden (sozialen) Ängste die Lebensqualität beeinträchtigen können.

Spannend ist zu beobachten, dass alle Betroffenen einen individuellen, gänzlich unterschiedlichen Umgang mit dem eigenen Stottern pflegen. Und jeder nutzt eine andere Strategie, um das Leben besser bewältigen zu können. Der mit seinem Stottern zum Beispiel sehr selbstbewusst umgehende Benedikt singt leidenschaftlich gern und nutzt die Musik als Ventil. Der emotionale Gerald hingegen schreibt Gedichte, um seinen Gefühlen und Gedanken Ausdruck zu verleihen. Auf diese Weise könne er frei kommunizieren, wie er an einer Stelle im Film sagt. Neben den genauen Beobachtungen des Alltags der Porträtierten, begleitet Gohlke sie zu Therapien und befragt Angehörige. Durch intensive Gespräche mit ausgewiesenen Experten und Logopäden, räumt „Mein Stottern“ außerdem mit so manchem, das Stottern betreffende Vorurteil und Klischee auf.

Björn Schneider