Willkommmen in Marwen

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Im April 2000 wurde der US-amerikanische Künstler Mark Hogancamp brutal von mehreren Schlägern attackiert. Die Folge: fünf Tage Koma und keine Erinnerung an den Tathergang. Um das daraus entstandene Trauma aufzuarbeiten, flüchtete sich Hogancamp in eine von Puppen bevölkerte Fantasiewelt - und in die taucht jetzt auch Robert Zemeckis in seiner Tragikomödie „Willkommen in Marwen“ ein.

Webseite: upig.de

OT: Welcome to Marwen
USA 2018
Regie: Robert Zemeckis
Darsteller: Steve Carell, Leslie Mann, Diane Kruger, Eiza González, Gwendoline Christie
Länge: 116 Minuten
Verleih: Universal Pictures
Kinostart: 28. März 2019

FILMKRITIK:

Am liebsten spielt er mit seinen Puppen aufregende Kriegsabenteuer nach, doch hinter Mark Hogancamps (Steve Carell) außergewöhnlichem Hobby steckt eine dramatische Geschichte: Es ist noch nicht allzu lange her, da wurde der leidenschaftliche Maler und Sammler von Damenschuhen in einer Bar überfallen und fast zu Tode geprügelt. Mit viel Aufwand und unter jeder Menge Schmerzen musste Mark ganz alltägliche Dinge neu lernen. Auch wenn er mittlerweile wieder einwandfrei laufen und sprechen kann, wird er von den bruchstückhaften Erinnerungen an die besagte Nacht verfolgt. Vor dem bevorstehenden Gerichtstermin der festgenommenen Täter hat er große Angst. Als ins Haus gegenüber die charmante Nicol (Leslie Mann) einzieht, traut sich Mark erstmals auch ohne seine ihm zu Stärke und emotionalem Halt verhelfenden Puppen vor die Tür. Doch mittlerweile ist Mark so sehr in seiner eigenen Welt gefangen, dass es schwer für ihn ist, wieder ein normales Leben zu führen…
 
Das Skript zu „Willkommen in Marwen“ (Robert Zemeckis und Caroline Thompson) entwickelt seinen Reiz aus der vollkommen subjektiven Erzählperspektive. In kaum einer Szene ist nicht entweder Mark Hogankamp als reale Person, oder sein puppenhaftes Alter Ego Captain Hoagie zu sehen. Dadurch kommen wir den Beweggründen seiner Figur, seinen Gedanken und Ängsten ganz nah und können auch die Verbindung herstellen zwischen dem, was in der Realität passiert und der Art, wie Mark das alles über sein Puppenspiel verarbeitet. Das ist mitunter durchaus schmerzvoll; wenn den Mann plötzlich die Erinnerungen an die brutale Nacht heimsuchen und das für ihn in dem Moment einer nicht weniger furchtbaren Kriegsattacke gleichkommt, spüren wir die Angst des Traumatisierten am eigenen Leib. Gleichzeitig hat Mark den Bezug zur Realität in vielen Momenten aber schon so weit verloren, dass sein Verhalten zum unfreiwilligen Schmunzeln einlädt. Ein missglückter Heiratsantrag entbehrt aus Zuschauersicht zwar jedweder Logik und Lebenserfahrung, sagt aber enorm viel über Hogancamps Geisteszustand aus und ist tatsächlich alles andere als zum Lachen, sondern stattdessen einer der tragischsten Momente in „Willkommen in Marwen“.
 
Steve Carell, der nach „Foxcatcher“ (mindestens) ein zweites Mal Oscar-würdig aufspielt, legt seine Figur mit einer feinfühligen Mischung aus absoluter Selbstaufgabe und zaghafter Zuversicht an und sammelt damit auch trotz merklicher Ecken und Kanten Sympathiepunkte. Trotzdem scheffelt er nie bewusst Mitleid; wenn man als Zuschauer mitfühlt, geschieht das immer aus der Situation heraus und nicht, weil Regisseur Robert Zemeckis („Zurück in die Zukunft“) diese Emotionen zusätzlich mittels musikalischer Untermalung oder anderweitigem inszenatorischen Kalkül provozieren. Neben Carell spielen in „Willkommen in Marwen“ vorwiegend Frauen eine Rolle – der ursprüngliche Titel des Films lautete entsprechend „The Women of Marwen“. Das ist kein Wunder: Wurde Marks Leben explizit von einer Gruppe Männer zerstört, halfen ihn im Nachhinein ausschließlich Frauen dabei, seinen Platz zurück ins Leben zu finden. Dadurch wird aus „Willkommen in Marwen“ nicht nur ein mitreißendes Charakterdrama über einen Traumatisierten, der sich auf unkonventionelle Art und Weise zurück ins Leben kämpft, sondern auch eine aufrichtige Liebeserklärung an Frauen im Allgemeinen.
 
Nicht unerheblich am positiven Eindruck von „Willkommen in Marwen“ beteiligt, ist die technische Aufmachung. Nicht umsonst findet sich der Film auf der Oscar-Shortlist für die „Besten visuellen Effekte“; neben CGI-Schleudern wie „Ant-Man and the Wasp“, „Avengers: Infinity War“ und „Solo: A Star Wars Story“. Die an „Small Soldiers“ aus dem Jahr 1998 erinnernden Effekte von zum Leben erwachten Puppen machen es möglich, dass man nie einfach nur das Gefühl hat, hier am Computer entstandenen Figuren vor realer Kulisse zuzusehen. Stattdessen spielt Robert Zemeckis mit den Möglichkeiten, die es ihm bietet, wenn die Hauptfiguren in Mimik und Bewegungsmöglichkeiten reduzierte Puppen sind. So stellt sich von der ersten dynamischen Kriegsszene über den Wolken das Gefühl ein, dass man hier wirklich einem Menschen dabei zusieht, wie dieser gerade mit Puppen spielt. Dass die dabei entstandenen Aufnahmen sogar eine eigene Kunstausstellung erhielten, wundert im Anbetracht dieser Geschichte überhaupt nicht mehr.
 
Antje Wessels