Dem Leben entgegen – Kindertransporte nach Schweden

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Der ergreifende Dokumentarfilm erzählt die Geschichte von vier Kindern, die im Zweiten Weltkrieg von ihren Eltern ins sichere Schweden geschickt wurden, um sie vor dem Nazi-Terror zu retten. Auf diese Weise konnten sie, manchmal als einzige aus ihrer Familie, überleben. 80 Jahre ist es her, dass die Kinder in Schweden ankamen. Gülseren Şengezer gelingt es in ihrem Kinodebüt, bei den vier Zeitzeugen die Emotionen von damals zurückzuholen – und noch mehr: Ihr ruhiger, einfühlsamer Film lässt ihnen und dem Publikum Zeit für Momente der Besinnung und für eine Reise in die Vergangenheit, die zum Appell an die Nachwelt wird.

Webseite: www.gmfilms.de/

Dokumentarfilm
Schweden/Österreich 2019
Buch/Regie: Gülseren Şengezer
Länge: 94 Minuten
Verleih: GM films
Kinostart: 3. März 2022

FILMKRITIK:

Die kleine Herta ist gerade vier Jahre alt, als sie 1939 von Österreich aus, bald nach dem „Anschluss“ an das Deutsche Reich, zusammen mit ihrem älteren Bruder Norbert nach Schweden geschickt wird. Sie kann sich an nichts mehr erinnern, was ihre Heimat und ihre Eltern betrifft, nur das Weinen ihrer Mutter am Bahnhof ist ihr im Gedächtnis geblieben. Die Geschwister werden nach der Ankunft getrennt, und Norbert wächst in einer anderen Pflegefamilie auf. Bis heute fühlt sich Herta entwurzelt, in Schweden ist sie nie richtig heimisch geworden.

Mit 14 Jahren kommt Hans nach Schweden, zusammen mit seiner dreijährigen Schwester, von der er unterwegs getrennt wird. Erfüllt von Wut auf seine Eltern zerstört er alles, was an seine Heimat erinnert. Schon früh auf sich selbst gestellt, wird er zum misstrauischen Einzelgänger, der dem Leid seiner Eltern, das sie in ihren Briefen schildern, vollkommen gefühllos gegenübersteht.

In Wien geboren, reist Gertraud als Siebenjährige Anfang 1939 nach Schweden. Während der Zugfahrt wird sie von ihren beiden Geschwistern getrennt, doch sie hat Glück: Kurz vor Kriegsausbruch gelingt der Mutter die Flucht, so dass sie mit ihren Kindern vereint wird. In Schweden wird die Familie diskriminiert und benachteiligt. Zusätzlich leidet Gertraud unter dem Verhalten ihres älteren Bruders, der sich selbst zum Herrenmenschen hochstilisiert und Gertraud als Jüdin terrorisiert.

Die 14-jährige Elise wurde zuerst mit ihren Eltern nach Polen deportiert, bevor sie nach Schweden verschickt wird. Über zahllose Briefe hält sie den Kontakt zur Mutter – beinahe, bis die Eltern in den Todeszug steigen.

Wie konnten diese Kinder den Verlust der Heimat und der Familie ertragen? Was bedeutete es für sie, in einem fremden, ihnen oft nicht besonders freundlich gesinnten Land weiterzuleben? Welche Folgen hatte das für sie bis heute? Was diese vier Menschen erlebt haben, ist umso bewegender, weil man ihren alten Gesichtern ansieht, dass sie die furchtbaren Erfahrungen der Kindheit und der Jugend bis heute mit sich tragen. Umso wichtiger ist es, dass ihnen Gülseren Şengezer das Wort überlässt, ihnen Raum und Zeit gibt, um sich zu besinnen, sich zu fassen und manchmal, um sich fallen zu lassen. Manchmal kämpfen sie um Worte und um ihre Beherrschung. Dabei bewahren sie eine bewundernswerte Haltung. Gülseren Şengezer sorgt mit kleinen, sehr sensiblen Mitteln dafür, dass ihre Würde gewahrt wird: Die meisten Aufnahmen finden in den privaten Räumen der Zeitzeugen statt. Die Kamera gleitet ruhig über die gewohnten Bestandteile ihres Alltags: der Ausblick aus dem Fenster, der gemütliche Sessel, der Küchentisch … Zusätzlich findet Gülseren Şengezer Bilder für die jeweilige Stimmung der Sprechenden: ein Sonnenblumenfeld, der Sonnenuntergang über der Stadt, unberührte Wälder und Wasserflächen sowie ausgewählte Drohnenaufnahmen von bizarrer Schönheit, so wie von einem schneebedeckten Tannenwald, der auf den ersten Blick wie die kristalline Struktur einer Schneeflockensammlung wirkt. Mit sparsamen Inserts arbeitet sie die Fakten heraus: Dass sich sämtliche Länder der Welt (einzige Ausnahme: die Dominikanische Republik) weigerten, nach der Machtübernahme der Nazis Juden aufzunehmen – unvorstellbar! Auch die dubiose Rolle der damaligen schwedischen Regierung wird angesprochen. Schweden erklärte sich erst nach langen Verhandlungen bereit, 500 Kinder aus jüdischen Familien aufnehmen. In Zusammenarbeit mit jüdischen Hilfsorganisationen gelangten die Kinder in das ferne Land, wo sie – oft in Unkenntnis ihrer jüdischen Herkunft – in Pflegefamilien aufwuchsen. So konnten sie überleben. Vom Schicksal ihrer Eltern erfuhren viele erst nach Kriegsende. Hans, Elise, Gertraud und Herta gehören zu den wenigen noch lebenden Zeitzeugen dieser Kinderverschickungen. Sie zu sehen und zu erleben bedeutet auch zu erkennen, was Flucht und Vertreibung aus Kindern macht. Als Mahnung und als Appell.

Gaby Sikorski