Berlinale 2019

Berlinale 2019

Ein Festivalbericht von Kalle Somnitz, Silvia Bahl und Anne Wotschke

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Es war die 18. und letzte Berlinale von Festivaldirektor Dieter Kosslick, der aller Kritik zum Trotz noch einmal ein Festival nach seinem Gusto präsentierte. Mit immer mehr Sektionen hat er die Berliner Filmfestspiele zu einem branchenübergreifenden Treffen ausgeweitet, das zugleich als Publikumsfest mit 335.000 verkauften Tickets die Zuschauer begeistern konnte. Gegen alle Versprechungen hat er diesmal auch einen Film vom Streaming-Giganten Netflix in den Wettbewerb berufen, was ihm den Protest der unabhängigen Kinobetreiber Deutschlands einbrachte. Insgesamt präsentierte sich der Wettbewerb der 69sten Berlinale stärker als in vergangenen Jahrgängen, auch wenn der Eröffnungsfilm wie so oft zu schwach war.

Lone Scherfigs THE KINDNESS OF STRANGERS (Alamode) ist ein Großstadt-Märchen, in dem eine junge Frau mit ihren beiden Söhnen nach Downtown Manhattan flüchtet, um Schutz vor ihrem gewalttätigen Mann zu suchen. Nicht nur sie selbst, sondern auch die Kinder sind reichlich traumatisiert. Mittellos und ohne Bleibe stoßen sie dennoch auf große Hilfsbereitschaft. Ein modernes Märchen, eine soziale Utopie? In einem New York, das seine Identität längst durch die Gentrifizierung verloren hat, treffen Menschen aufeinander, die den unterschiedlichsten Background haben und hier zusammenfinden. Die Gastfreundschaft gegenüber Fremden stark zu machen, ist gerade im Zuge der neuen Abschottungspolitik Trumps ein ehrenwertes Motiv, die filmische Umsetzung löst jedoch allzu viele Erzählstränge in Wohlgefallen auf, so dass die Geschichte an Ernsthaftigkeit einbüßt. Starke Schauspieler wie Zoe Kazan, Andrea Riseborough und der wunderbare Bill Nighy können die holzschnittartig angelegten Figuren auch nicht davor bewahren, komplett ins Melodram abzurutschen.

Im Gegensatz dazu überzeugte François Ozons GELOBT SEI GOTT (Pandora), der gerade in den französischen Kinos angelaufen ist  und den sexuellen Missbrauch innerhalb der Katholischen Kirche und dessen Vertuschung thematisiert. Zu Recht erhielt der bewegende Film den GROßEN PREIS DER JURY. Grundlage ist ein wahrer Fall: die Geschichte des Pfarrers Bernard Preynat, dessen Prozess wegen Missbrauchs von rund 80 Kindern Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre seit Januar läuft. Eines seiner Opfer hatte ihn zivilrechtlich angeklagt, als es entdeckte, dass dieser immer noch in der Kirche mit Kindern arbeiten durfte. Das Urteil steht Anfang März an. Ebenfalls angeklagt sind der Erzbischof von Lyon und einige seiner Mitarbeiter wegen Vertuschung eben dieser Fälle. Diese scheiterten gerade erst mit ihrem Antrag auf Verschiebung des Starttermins zur Vermeidung einer Vorverurteilung. Aktueller war die Berlinale nie. Ozon schlägt sich konsequent auf die Seite der Opfer und schildert die Ereignisse über verschiedene Zeitebenen hinweg ganz aus deren Perspektive. Anhand von drei Beispielen aus unterschiedlichen sozialen Schichten zeigt er einfühlsam die durch den Missbrauch verursachten Traumata, mit denen die Betroffenen ihr Leben lang zu kämpfen haben. Erst ihr Zusammenschluss zu einer Selbsthilfegruppe macht sie stark und fähig, die Anklage durchzuziehen. „Nur wenn man an einer Wunde nicht kratzt, heilt sie“, so eine der zynisch anmutenden Rechtfertigungen eines Kirchenvertreters im Film, warum diese statt Aufklärung die Schuldigen, die stellvertretend für viele andere Fälle weltweit stehen, immer noch deckt.

Ein ähnlich sensibles Thema behandelt Nora Fingscheidts Film SYSTEMSPRENGER (Port au Prince). So nennt man Kinder, die radikal jede Regel brechen, Strukturen konsequent verweigern und nach und nach durch alle Raster der deutschen Kinder- und Jugendhilfe fallen. Die neunjährige Bernadette oder Benni, wie sie genannt werden will, ist solch ein Fall, ein zartes Mädchen mit ungestümer Energie, das auf seine Mitschüler oder Erzieher einschlägt und die jeweilige Einrichtung zerlegt, in der sie sich gerade befindet, sei es die Schule, das Heim oder ihr Elternhaus. Dem Jugendamt ist bekannt, dass Benni im Säuglingsalter ein schweres Gewalttrauma zugefügt wurde, entsprechende Therapieplätze sind jedoch alle belegt. Am liebsten würde sie zuhause bei ihrer Mutter leben, doch die gibt sich überfordert und schiebt die Verantwortung lieber auf die öffentlichen Einrichtungen ab. Als man es am Ende mit einer 1:1-Betreuung versucht, schlägt ein Sozialarbeiter, der sonst nur mit straffällig gewordenen Jugendlichen arbeitet, eine Auszeit in einer entlegenen Waldhütte vor. Es gelingt ihm tatsächlich, eine Beziehung zu dem Mädchen aufzubauen – allerdings sieht er sich schon bald darauf in gefährliche Rettungsfhantasien verstrickt, die dem Kind falsche Hoffnungen machen und eine neue Eskalation provozieren.
Nora Fingscheidt setzt ihr mehrfach preisgekröntes Drehbuch zu einem intensiven Filmerlebnis um, das nicht nur psychologisch genau arbeitet, sondern in jedem Moment eine atemlose Spannung erzeugt. Dabei zeichnet sie auch ein Bild der Schwierigkeiten, mit denen das System Kinder- und Jugendhilfe zu kämpfen hat: Ein Großteil der Betreuer hat nicht die psychoanalytische Ausbildung, um Bennis inneren Leidensdruck zu verstehen, statt dessen wird disziplinarisch gegen sie vorgegangen. Die Psychiatrie wiederum verschreibt nur Pillen und misst seelischen Bindungen keinerlei Bedeutung bei. Die Sozialarbeiter, die Benni schließlich auf Augenhöhe begegnen, haben einfach nicht die Kapazität, um ihr so beizustehen, wie sie es bräuchte. Dazu müssten die Institutionen anfangen umzudenken und die Probleme nicht immer weiter ins Abseits schieben.
Die inzwischen 11-jährige Helena Zingel spielt die Kleine mit der Löwenmähne kongenial zwischen tobender Wut und tiefer Verletzlichkeit. Auch wenn man Kindern ungern den Preis für die Beste Schauspielerin verleiht, verdient hätte sie ihn allemal. So blieb es bei einem SILBERNEN BÄREN (ALFRED-BAUER-PREIS) für einen Spielfilm, der im wahrsten Sinne des Wortes neue Perspektiven eröffnet.

Ein weiterer deutscher Wettbewerbsbeitrag war Angela Schanelecs ICH WAR ZUHAUSE, ABER (Piffl), der es an der Kinokasse schwerer haben wird. Für seine Kunstfertigkeit wurde er jedoch mit dem PREIS FÜR DIE BESTE REGIE ausgezeichnet. Schanelecs Drama ist nicht nur ein hoch artifizieller Film, der sich selbst als Diskurs über die Frage der Inszenierung versteht, er ist auch eine zutiefst melancholische Form der Trauerarbeit.
Dazu muss man wissen, dass Schanelec mit Jürgen Gosch verheiratet war, der vor zehn Jahren verstorben ist – und so hat auch ihre Protagonistin Astrid (Maren Eggert) vor zwei Jahren ihren Mann verloren, der ebenfalls Theaterregisseur war. Ihr Leben ist seitdem konfus und ungeordnet und sie schiebt das Übriggebliebene wie Möbelstücke hin und her, auf der Suche nach einer neuen Ordnung. Dies gipfelt in einem philosophischen Dialog mit einem Kollegen des verstorbenen Mannes; über Leben und Tod und über Spiel und Wahrhaftigkeit des Körpers. Nicht nur der Titel des Films erinnert an Yasujiro Ozus „I was born, but“, die Nähe zu ihm ist für Schanelec ein Gegenpol zur Wirklichkeit, Film als Erfindung, als reine Form.

Unverarbeitete Trauer steht auch im Mittelpunkt des chinesischen Wettbewerbsbeitrags SO LONG, MY SON (Piffl) von Wang Xiaoshuai, der schon mit seinem Film “Beijing Bicycle” den Silbernen Bären sowie Preise für die Besten Nachwuchsschauspieler gewann. Auch in seinem aktuellen Beitrag wird deutlich, wie hervorragend Wang seine Akteure führen kann, denn SO LONG, MY SON lebt von dem berührenden Spiel seines ganzen Ensembles, das den Zuschauern in drei Stunden den politischen Wandel Chinas durch private Schicksalsschläge nahe bringt. Yaojun und seine Frau Liyun haben ihren kleinen Sohn verloren, der beim Spielen an einem Stausee ums Leben gekommen ist. Ein befreundetes Kind hatte ihn zu einer Mutprobe angestachelt, dessen Eltern verheimlichen diesen Umstand jedoch vor dem trauernden Paar, das den Verlust nicht verarbeiten kann. Sie adoptieren sogar einen weiteren Jungen, dem sie denselben Rufnamen geben, doch dieser spürt die gespenstische Last auf sich und wendet sich schließlich von den beiden ab. Über drei Jahrzehnte drastischer Veränderungen komprimiert Wang in seinem Film und macht die Folgen der Ein-Kind-Politik ebenso deutlich, wie die der Massenentlassungen aufgrund des wirtschaftlichen Strukturwandels. In kunstvollen Rückblenden entfaltet er eine epische Familiengeschichte, die melodramatische Momente aufnimmt, ohne dabei je dem Kitsch zu verfallen. Die beiden Hauptdarsteller Wang Jinchung und Yong Mei spielen mit so großer Lebhaftigkeit und Sensibilität, das sie beide mit dem SILBERNEN BÄREN FÜR DIE BESTEN DARSTELLER ausgezeichnet wurden.

Eine bewegende Familiengeschichte erzählte auch der norwegische Beitrag OUT STEALING HORSES von Hans Petter Moland, der den gleichnamigen Bestseller-Roman von Per Petterson mit Stellan Skarsgård in der Hauptrolle adaptierte. Darin blickt er als 67jähriger Trond voller Bitterkeit in einer verschneiten Waldhütte auf die unausgeschöpften Möglichkeiten seines Leben zurück. Wie David Copperfield zu Beginn seines Lieblingsromans von Charles Dickens muss Trond sich fragen, ob es ihm gelungen ist, zum Held seiner eigenen Geschichte zu werden – oder ob jemand anders seinen Platz eingenommen hat. Immer wieder kommt er in Gedanken auf den alles verändernden Sommer des Jahres 1948 zurück, den er mit seinem Vater gemeinsam beim Holzfällen an der schwedischen Grenze verbracht hat. Sein bester Freund verschuldet durch unglückliche Umstände den Tod seines kleinen Bruders – und der traumatische Riss, der sich plötzlich in Tronds jugendlicher Leichtigkeit auftut, führt nicht nur durch beide Familien, sondern auch zurück in die Zeit der deutschen Besatzung. Äußerst subtil gelingt es Moland, die sprachliche Ausdruckskraft der Romanvorlage in Bilder zu übersetzen, die als Seelenlandschaften der Protagonisten fungieren. Dafür wurde sein Kameramann Rasmus Videbæk zu Recht mit dem PREIS FÜR EINE HERAUSRAGENDE KÜNSTLERISCHE LEISTUNG ausgezeichnet. Die beeindruckenden Naturaufnahmen der norwegischen Landschaft sind niemals mystisch oder pittoresk, sondern erzeugen im Wechselspiel mit den charismatischen Darstellern eine sogartige Spannung, in der ödipale Konflikte, Vaterverlust und die schwierige Rolle des norwegischen Widerstands im Zweiten Weltkrieg gleichermaßen einen Ausdruck finden.

Mit dem GILDEPREIS DER AG-KINO wurde von der Jury um Adrian Kutter der mazedonische Wettbewerbsbeitrag GOD EXISTS, HER NAME IS PETRUNJA ausgezeichnet, der zu den komödiantischen Highlights des Festivals gehörte. Drehbuchautorin und Regisseurin Teona Struga Mitevska setzt darin einen feministischen Kampf der besonderen Art in Szene: Als wie jedes Jahr der Priester in einem entlegenen mazedonischen Dorf ein Holzkreuz in den eiskalten Fluss wirft, fangen es diesmal nicht die aufgestachelten durchtrainierten Burschen, sondern die eigensinnige Petrunja. Dabei hatte die stämmige junge Frau gar nicht vorgehabt, das traditionell rein männliche Ritual zu stören, eher aus einer Laune heraus ist sie ins Wasser gesprungen – dennoch hat sie den Sieg davongetragen, der ihr nun von den entsetzten Dorfbewohnern streitig gemacht wird. Die Polizei nimmt sie vorsorglich in Gewahrsam, der Priester fordert vehement die Rückgabe des Kreuzes; doch Petrunja verteidigt einer Jeanne D’Arc gleich ihren Gewinn wie ein Totem. Immerhin soll dem Besitzer ein volles Jahr Glück zustehen – und warum sollte das eigentlich immer nur den Männern vorbehalten sein? Mit einer tollen Besetzung gelingt Mitevska eine liebenswerte Indie-Komödie, die in einem burlesken Dialogfeuerwerk mit kirchlicher Bigotterie und patriarchalen Strukturen aufräumt.

Auch der kanadische Regisseur Denis Côte legte nach “Vic+Flo haben einen Bären gesehen” wieder eine kleine Filmperle im Wettbewerb vor. GHOST TOWN ANTHOLOGY erzählt in poetischen Bildern von verschneiten Dörfern in Quebec, die der Landflucht zum Opfer gefallen sind. Schon in der ersten Szene reißt ein Bewohner abrupt das Lenkrad herum und setzt seinen Wagen gegen eine Betonwand. Die Angehörigen des jungen Mannes stehen unter Schock und müssen sich langsam damit auseinandersetzen, dass dies kein Unfall, sondern Selbstmord war. Eine psychologische Betreuerin wird von der Landesverwaltung in die kleine Gemeinde mit dem schönen Namen Irénée-les-Neiges abgestellt, aber die neurotische Bürgermeisterin heißt sie nicht Willkommen – nicht zuletzt, weil sie ein Kopftuch trägt. Doch nicht alle Dorfbewohner sind so engstirnig und borniert, es gibt auch einige verschrobene Außenseiter, die empfänglich sind für das Fremde und Unbekannte. Schon bald häufen sich merkwürdige Vorkommnisse, als wie aus dem Nichts plötzlich die Toten für alle sichtbar erschienen. Côté trifft die eigenwillige Entscheidung, die Gespenster tatsächlich manifest werden zu lassen und schafft damit eine Art Parabel auf das Verdrängte, das nicht länger verleugnet bleiben kann. Seine wie immer skurril gezeichneten Charaktere sorgen dabei für eine stimmungsvoll-melancholische Atmosphäre.

Eine spannende Geschichtsstunde mit Hollywoodstars in den Hauptrollen lieferte uns dagegen Agnieszka Holland mit MR. JONES. So spielt James Norton den walisischen Journalisten Gareth Jones, der 1933 nach Moskau reist, um sich in der Ukraine Stalins Landwirtschaftsreform und die Kolchosen anzuschauen. Hier stößt er zunächst auf einen mächtigen Kontrahenten, den Stalin-Freund und Pulitzer-Preisträger Walter Duranty (Peter Sarsgaard), der nichts von einer Misswirtschaft wissen will und Fake-News im Sinne Stalins im Westen verbreitet. Mit einem Trick gelingt es Jones das Einreiseverbot in die Ukraine zu umgehen und so macht er sich mit dem Zug auf nach Charkow. Zu Fuß durchstreift er das Land und erlebt die Schrecken einer landesweiten Hungersnot. Überall liegen Leichen im Schnee, ganze Dörfer sind zu Geisterorten geworden, in denen kein Leben mehr zu finden ist. Jones muss seine Erkenntnisse hüten und entgeht selber nur knapp dem Hungertod. Überall trifft er auf Geheimdienstler, die bemüht sind, keinerlei Nachrichten über die Katastrophe an die Öffentlichkeit dringen zu lassen. Denn Not und Verderben sind Folge von Stalins Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, einer Entscheidung, die einem Massenmord gleichkommt. Doch als Jones zu Hause berichtet steht sein Wort gegen das des mächtigen Pulitzerpreisträgers, dem man mehr Glauben schenkt. Lediglich George Orwell nimmt die Berichte seines Freundes ernst und als Grundlage für seinen Roman “Aufstand der Tiere”.

Überwiegend wohlwollend aufgenommen wurde auch Marie Kreutzers DER BODEN UNTER DEN FÜSSEN. Die Österreicherin unternimmt darin eine Gratwanderung zwischen Charakterstudie und Psychothriller. Im Mittelpunkt steht die rund 30-jährige Lola, eine erfolgreiche Unternehmensberaterin auf dem Weg nach oben. Mit äußerster Ökonomie hat sie ihr Leben scheinbar im Griff. Ihr eigenes gestyltes Appartement in Wien sieht sie nur selten. Gerade wickelt sie eine Firmenrettung in Rostock ab, kühl kalkulierend und wie so oft in diesen Fällen verbunden mit Entlassungen größeren Umfangs. Mit ihrer unmittelbaren Vorgesetzten Elise hat sie ein Verhältnis, was sie in der Firma ebenso geheim hält wie die Tatsache, dass sie nicht wie von den Kollegen angenommen, alleinstehend und Waise, sondern Vormund ihrer 40-jährigen paranoid-schizophrenen Halbschwester ist. Ihr Leben gerät aus den Fugen, als diese nach einem Selbstmordversuch in die geschlossene Psychiatrie eingewiesen wird und Lola um Hilfe anfleht, sie dort herauszuholen. Der Versuch, ihren Job und die Betreuung ihrer Schwester unter einen Hut zu bekommen, ohne dass ihre Kollegen etwas davon mitbekommen, wird zur Tour de Force. Sie versetzt Marie in einen Ausnahmezustand am Rande des Nervenzusammenbruchs, der ihre Angst verstärkt, vielleicht erblich mit derselben Krankheit belastet zu sein. Kreutzers Schilderung der Arbeitswelt einer Unternehmensberatung mit 48-Stunden-Schichten, teuren Klienten-Diners und monotonen Hotelzimmern wirkt zeitweilig  – im Gegensatz zu Maren Ades ähnlich gelagertem und mit viel Humor durchsetztem Erfolgshit TONI ERDMANN  – zu sehr auf die Spitze getrieben, die Beziehung zu ihrer Kollegin zu steril und wenig glaubwürdig. Dennoch liefert Kreutzer ein spannendes Lehrstück über die zunehmende Unvereinbarkeit einer auf immer größere Effizienz ausgerichteten Berufswelt mit dem Privatleben. Geschickt dosiert streut sie Thriller-Elemente in die Handlung ein, ohne diese jedoch Oberhand gewinnen zu lassen. Vor allem die beeindruckende Leistung von Hauptdarstellerin Valerie Pachner, in deren Gesicht sich sowohl Härte als auch Verletzlichkeit spiegeln, machen DER BODEN UNTER DEN FÜSSEN sehenswert.

Kaum überzeugen konnte dagegen Fatih Akins selbsterklärter Horrorfilm DER GOLDENE HANDSCHUH. Die Adaption des Bestsellers von Heinz Strunk setzt den Hamburger Frauenmörder Fritz Honka in Szene und spart dabei nicht mit abscheulichen Details. Im Gegensatz zu dem 2016 erschienenen Roman verzichtet Akin bewusst auf biografische oder psychologische Einordnungen und konzentriert sich stattdessen auf die bloße Monstrosität der Taten im grellbunten Milieu von St. Pauli. Hier spielt sich „Fietzes“ Dasein meist in der heruntergekommenen Kneipe „Zum goldenen Handschuh“ ab, eine Art Endstation für gesellschaftliche Verlierer, die sich nicht in die Erfolgsgeschichten des bundesdeutschen Wirtschaftswunders einreihen können. Die Charaktere, die sich am Tresen kaum noch aufrechthalten können und zu Heintjes „Du sollst nicht weinen“ den Tränen freien Lauf lassen, sind in ihrer Leinwandpräsenz bewegend, und man würde ihnen den Blick eines Rainer Werner Fassbinder wünschen, der immer die Nähe zu seinen Figuren suchte und fand. Doch Fatih Akin flüchtet sich in die Groteske. Er begegnet ihnen eher mit aufdringlichem Humor und scheint vor allem seine eigene Glaubwürdigkeit als Kiez-Kenner profilieren zu wollen. Verstärkt wird dies durch eine Rahmenhandlung, in der zwei Teenager aus gutem Hause den „Goldenen Handschuh“ auf der Suche nach Abenteuer und Entgrenzung aufsuchen, was den Blick auf die Menschen darin unnötig sensationell auflädt. Während die Romanvorlage die Gratwanderung zwischen Tätergeschichte, Milieustudie und Kommentar zur deutschen Nachkriegszeit mit ihren unaufgearbeiteten Traumata gelang, verliert sich Akin im Sensationellen und verfehlt dabei die Zwischentöne, die für einen substantiellen Kiez-Film nötig gewesen wären.

Als Enttäuschung erwies sich auch der außer Konkurrenz gezeigte Spionagethriller DIE AGENTIN (Weltkino) mit Diane Krüger in der Hauptrolle. Sie spielt die Mossad-Agentin Rachel, die spurlos verschwindet. Ihr früherer Kontaktmann Thomas wird vom israelischen Auslandsgeheimdienst beauftragt, die Ursache ihres Verschwindens herauszufinden und zu klären, ob sie eine Gefahr für die Organisation darstellt. Zuletzt, als Englischlehrerin getarnt, sollte die gebürtige Britin im Iran bei einer Elektronikfirma spionieren. Sie beginnt eine Affäre mit dem Geschäftsmann Farhad, was beide in eine gefährliche Situation bringt. Für einen Thriller zu langatmig und für eine Charakterstudie zu konturlos, bleibt die Verfilmung einer Vorlage von Yuval Adler, selbst ehemaliger Mossad-Geheimdienstler, hinter den Erwartungen zurück.

Die Verleihung des GOLDENEN BÄREN an die israelisch-französische Ko-Produktion SYNONYMES von Nadav Lapid stimmte schließlich die Kritiker wieder versöhnlich, auch wenn das Publikum teilweise recht irritiert im Saal zurückblieb. Die Jury um Juliette Binoche zeichnete mit dem Hauptpreis auf jeden Fall den originellsten Film im Wettbewerb aus, der durch seine wilde und atemlose Erzählweise voller abstruser Einfälle erstaunte, auch wenn nicht immer ganz klar wurde, was er eigentlich erzählen wollte. Der gutaussehende junge Yoav (Kongenial: Tom Mercier) ist aus Israel nach Paris geflohen, die Gründe dafür sind komplex und werden auch nicht aufgelöst. Insofern ist SYNONYMES gerade keine typische Migrationsgeschichte, sondern eher ein Tanz auf der Grenze des Erzählbaren, die immer wieder von den traumatischen Leerstellen der Geschichte eingeholt wird. Yoav lernt ein junges Paar aus der Pariser Oberschicht kennen, das von seiner Privilegiertheit so gelangweilt ist, dass sie den mittellosen Mann mit allem ausstatten, was der zum Leben braucht. Doch das ist nicht genug. Yoav will die Vergangenheit samt seiner Identität abstreifen, er will ein völlig neuer Mensch werden, vielleicht ein Franzose, warum nicht. Dafür kauft er sich ein Wörterbuch und beginnt sich in Ekstase zu reden, wenn er daraus Synonyme vorträgt. Sein Großvater hat nach dem Überleben des Holocaust die eigene Sprache aufgegeben, weil er in ihr zu viel Gewalt erfahren hat, sagt Yoav. Nun will er selbst nicht mehr israelisch sprechen, die Gründe dafür werden in kurzen Rückblenden deutlich, in denen Yoav als Soldat der israelischen Armee gedient hat. Ähnlich kritisch wie Samuel Maoz setzt Nadav Lapid sich somit auch mit seinem Herkunftsland und dessen Politik auseinander und findet durch den Film zu einer neuen Sprache, gerade dann wenn die Worte seines Protagonisten sich erschöpfen.
SYNONYMS ist eine Tour-de-Force, getragen von dem fantastischen Newcomer Tom Mercier, die beweist, dass man das Kino doch immer noch weiter treiben kann, auch wenn man denkt bereits alles gesehen zu haben.

Einen krönender Abschluss des Berlinale-Wettbewerbs bildete die außer Konkurrenz gezeigte Musik-Doku AMAZING GRACE nach Aretha Franklins gleichnamigen Doppelalbum, das als das meistverkaufte Gospel-Album aller Zeiten gilt. Aufgenommen wurde das Material für die Filmversion 1972 an zwei Abenden in der New Temple Missionary Baptist Church von Los Angeles. Begleitet wird der Star von ihrer Band und dem Southern California Community Choir. Regisseur Sydney Pollack hatte die Aufzeichnung im Auftrag des Warner Brother Studios übernommen. Wegen technischer Probleme waren Bild- und Tonaufnahme aber nicht synchron, das Projekt wurde auf Eis gelegt, das Material wanderte ins Archiv. Kurz vor Sydney Pollacks Tod im Jahre 2008 hatte sich der US-Produzent Alan Elliott das Filmmaterial gesichert, ein jahrelanger Rechtsstreit mit Aretha Franklin und Verhandlungen um ihre finanzielle Beteiligung folgte. Nun, rund ein Jahr nach deren Tod, wurde das Projekt endlich realisiert und erntete viel Applaus. Vor allem natürlich für Anhänger Franklins sowie Soul- und Gospel-Fans ist die Doku ein Genuss. Pollak hat nicht nur die musikalische Qualität der „Lady des Soul“ eingefangen, sondern auch mit den auffallenden Kostümen der siebziger Jahre und hoch aufgetürmten Afro-Frisuren viel Zeitkolorit. Die Inbrunst und Hingabe der Beteiligten überträgt sich auch auf die Zuschauer – im damaligen Kirchen- wie im heutigen Kinosaal, viele wippten im Friedrichstadtpalast im Takt der Musik und hätten wohl am liebsten mitgesungen.

Eine weitere Perle konnte man im Panorama finden: MID90s (Die Filmagentinnen), inszeniert vom US-Amerikaner Jonah Hill, bislang vor allem als Schauspieler und Komödiant bekannt. Für seine Rollen in dem Sportdrama DIE KUNST ZU GEWINNEN – MONEY BALL und in Martin Scorseses  THE WOLF OF WALL STREET wurde er für einen Oscar nominiert. Im Mittelpunkt steht der 13-jährige Stevie, der mit seiner alleinerziehenden Mutter und seinem ihn drangsalierenden älteren Bruder Mitte der neunziger Jahre in den Suburbs von Los Angeles lebt. Ein eher tristes, wenig aufregendes Leben, das neuen Schwung erhält, als er eine Skater-Gang aus der Nachbarschaft kennen lernt. Diese verkörpert jene Coolness, die sich Jungs in seinem Alter wünschen. Mit viel Charme pirscht er sich an sie heran und kann tatsächlich ihre Aufmerksamkeit erregen.  Ein aufregender Sommer beginnt, in dessen Verlauf Stevie lernt, was wahre Freundschaft bedeutet.
Voller Humor und Poesie zeigt uns Hill die Skater-Welt als kosmopolitischen Treffpunkt, bei dem es keine Ausgrenzung gibt, weder durch Hautfarbe, Alter noch Nationalität. Alle halten zusammen und bieten so einen Gegenentwurf zu Stevies zerbrochener Familienidylle. Die Philosophie: positiv bleiben, auch wenn das Leben hart ist. Ein viel versprechendes Debüt mit autobiografischen Bezügen, dass Erwachsene ebenso ansprechen sollte wie Kids und uns Lust macht auf mehr.

Einen starken Auftritt hatte auch Jamie Bell (BILLY ELLIOT) als geläuterter Neonazi in SKIN, einem bewegenden Drama des israelischen Regisseurs Guy Nattiv, der gerade erst mit der Kurzfilm-Version des Films einen OSCAR gewonnen hat. Und auch die lange Fassung überzeugt durch das hervorragende Zusammenspiel der Darsteller und gibt zugleich einen erschütternden Einblick in die Rekrutierungsmechanismen der rechten Szene in den USA. Die wahre Geschichte des Aussteigers Byron, der sich ins Zeugenschutzprogramm begibt und in einer aufwendigen und schmerzhaften Prozedur all seine Tätowierungen entfernen lässt, ist schonungslos erzählt, und erinnert in ihrer Intensität an AMERICAN HISTORY X. Was SKIN jedoch zu einem so außergewöhnlichen Film macht, ist sein Blick auf Geschlechterverhältnisse. Während die meisten Filme über Neonazis sich an der gebrochenen Männlichkeit des Protagonisten abarbeiten, ist Byron jemand, dessen Gewalt eine große Sensibilität verbirgt, die nicht in die stereotypen Genderrollen passt. Als er die dreifache Mutter Julie (Danielle McDonald) kennen und lieben lernt, realisiert er, dass er sich eigentlich immer danach gesehnt hat, Teil einer Familie zu sein und für andere zu sorgen. Diese Sehnsucht hat ihn als hilflosen Jugendlichen von der Straße zum Opfer einer rechten Gruppierung gemacht, die gezielt Jungs wie ihn aufnehmen, ihnen ein Dach über den Kopf geben und mit einer White-Supremacy-Ideologie indoktrinieren. Wie eine Sekte leitet das Paar Shareen (Vera Farmiga) und Fred (Bill Camp) den von ihnen geschaffenen Clan, der durch familiäre Abhängigkeitsstrukturen und Brutalität eng verschweißt ist. Ein Ausstieg ist lebensgefährlich – das weiß auch der schwarze Menschenrechtsaktivist Daryle. Gemeinsam mit ihm findet Byron schließlich einen Weg aus der Gewalt. Jamie Bell und Danielle McDonald spielen zusammen ein außergewöhnliches Liebespaar, dessen Geschichte tief berührt und sich für eine Kinoauswertung anbietet.

Von einer schwierigen Liebe handelte ebenfalls THE SOUVENIR der britischen Autorenfilmerin Joanna Hogg, die ihre Jugendfreundin Tilda Swinton und deren Tochter Honor Byrne für die Hauptrollen besetzte. Die autobiografische Geschichte blickt zurück auf die Studienzeit Hoggs im London der 1980er Jahre, als diese gerade ihre ersten Schritte an der Filmhochschule unternahm. Julie (Byrne) kommt aus einem gehobenen Elternhaus, das ihr eine großzügige Wohnung in Kensington finanziert, damit sie in Ruhe ihrem Studium nachgehen kann. Doch ein künstlerisches Projekt zu realisieren, ist gar nicht so einfach, da ihr als überbehütete Tochter dramatische Erfahrung fehlen, von denen sie erzählen könnte. Jeder Drehbuchentwurf erscheint unauthentisch und aufgesetzt. Als sie den älteren Dandy Anthony (Tom Burke) kennenlernt, scheint endlich Bewegung in ihr Leben zu kommen. Er fordert die junge Frau heraus und ermutigt sie gleichzeitig auch ihren eigenen Weg zu gehen. Doch Julies maßlose Bewunderung wird tief enttäuscht: In ihrer Naivität merkt sie erst spät, dass der sich weltmännisch gebende Anthony heroinabhängig ist. Mit britischer Kühle und nüchternem Blick zeigt Hogg wie die co-abhängige Beziehung zu einem Drogensüchtigen die junge Frau bis an ihre psychischen Grenzen bringt – und damit schließlich auch zu einer authentischen Stimme als Künstlerin verhilft. Dezent, aber mit sehr viel Liebe zum Detail entwirft sie das Porträt einer turbulenten Zeit in Großbritannien, das gerade von den Anschlägen der IRA heimgesucht wird. Tilda Swinton hat dabei einen vergleichsweise kleinen Auftritt als Mutter, die genauso weltfremd und enttäuscht wirkt, wie ihre Tochter. Doch Julie wird am Ende ihren Klassenprivilegien zum Trotz einen anderen Weg einschlagen. In SUNDANCE hatte der Film bereits den GROßEN PREIS DER JURY gewonnen. Als kunstvoll inszeniertes, etwas zu dialoglastiges Coming-of-Age-Drama vermag er auch hierzulande sicherlich ein kleineres Publikum anzusprechen.

Ein vielversprechendes Spielfilmdebüt war im Panorama zu sehen. In O BEAUTIFUL NIGHT nimmt uns Xaver Böhm mit auf eine faustische Reise durch die Nacht. Hier begegnet der zur Hypochondrie neigende, etwas neurotische Musiker Yuri dem Tod in Form eines Österreichers. Der hat Mitleid mit dem sympathischen Looser und bietet ihm an, in dieser seiner letzten Nacht nochmal etwas zu erleben. Yuri darf wählen, doch seine geringe Entscheidungsfreudigkeit macht den Start in die Nacht etwas holprig und fahrig. Erst als sie Nina begegnen, weiß Yuri, was er will, doch bis er seine Angebetete wiedersieht und eine zweite Chance erhält, muss er sich seinen Ängsten stellen. In der Ausstattung merkt man dem Film seinen kleinen Etat zwar an, doch er hat ein großes Herz für seine Protagonisten, was sich auch auf den Zuschauer überträgt, der schnell Gefallen findet an dieser kleinen faustischen Spielerei.

In der Reihe “Generations” sorgte ein der Dokumentarfilm ESPERO TUA (RE)VOLTA für große Begeisterung: Er  zeigt den Kampf jugendlicher Aktivisten gegen die rassistischen Strukturen in Brasilien und wurde mit dem FRIEDENSFILMPREIS sowie dem AMNESTY INTERNATIONAL FILMPREIS ausgezeichnet. Der kollektiv gedrehte Film sprüht nur so vor Energie und erklärt auf mitreißende Weise die jüngsten politischen Entwicklungen, die schließlich zur Wahl des Rechtspopulisten Jair Bolsonaro geführt haben. Regisseurin Eliza Capai zeigt das Engagement von Kindern und Jugendlichen, die dagegen protestieren, dass ihre Schulen aus Kostengründen geschlossen werden sollen, obwohl gleichzeitig immer mehr Gefängnisse gebaut werden. Sie zeigt, welche Konsequenzen es hat, dass die Sklaverei in Brasilien erst sehr spät abgeschafft wurde und noch immer die gesellschaftlichen Strukturen und das Denken beherrscht – und wie schwer es ist, gegen den institutionellen Rassismus und Sexismus anzukommen. Damit gelingt ihr nicht nur einer der engagiertesten und aktuellsten Filme des ganzen Berlinale-Programms, sie macht auch deutlich wie viel junge Menschen bewegen können, wenn sie ein politisches Bewusstsein entwickeln und Verantwortung für die Zukunft übernehmen, ähnlich wie es die Schülerin Greta Thunberg in Bezug auf den Klimaschutz gerade erst vorgemacht hat.

Standing Ovations in allen Vorstellungen bekam ein bewegender Dokumentarfilm, der schließlich auch die Reihe “Perspektive Deutsches Kino” gewann: In ihrem Debütfilm BORN IN EVIN (Real Fiction) begibt sich die Regisseurin und Schauspielerin Maryam Zaree, die in einem der berüchtigsten politischen Gefängnisse im Iran geboren wurde, auf eine persönliche Spurensuche. Vor genau vierzig Jahren wurde der Shah und die iranische Monarchie gestürzt. Ayatollah Khomeini, der neue religiöse Führer, ließ nach seiner Machtergreifung Zehntausende von politischen Gegnern verhaften und ermorden. Unter den Gefangenen waren auch die Eltern der Filmemacherin, die nach Jahren im Gefängnis beide überlebt haben und nach Deutschland fliehen konnten. Innerhalb der Familie konnte nie über die Verfolgung und das Gefängnis gesprochen werden. Maryam Zaree stellt sich dem jahrzehntelangen Schweigen und geht den eigenen Fragen nach dem Ort und den Umständen ihrer Geburt nach. Sie trifft andere Überlebende, spricht mit Experten und sucht nach Kindern, die wie sie im gleichen Gefängnis geboren wurden. Dabei versucht sie Antworten zu finden auf ihre persönlichen wie politische Fragen. Was sind die persönlichen Konsequenzen von Verfolgung und Gewalt, wenn dieselben Täter bis heute an Macht sind und die Opfer ihre Geschichte internalisieren?

In den Perspektiven war auch der Gewinner des GWFF Preises für den Besten Erstlingsfilm zu sehen. Mehmet Akif Büyükatalay. gewann ihn für seinen Film ORAY (Déjà-vu), in dem der titelgebende junge Muslim aus Köln hin- und hergerissen ist zwischen seiner Liebe zum Glauben und seinem Glauben an die Liebe. Jedenfalls besteht sein Hauptproblem darin, dass seine Ehefrau Burcu nicht nach Köln ziehen will und es in der Folge zu einigen existentiellen Problemen kommt, die ihre Liebe immer wieder auf die Probe stellen. Beide suchen sie Hilfe beim Iman ihrer jeweiligen Gemeinde, doch während Burcus geistlicher Beistand eher weltlich und gemäßigt ausgerichtet ist, drängt der Kölner Kollege Oray sich zu entscheiden. Jedenfalls gelingt dem blutjungen Regisseur,  elbst als Sohn strenggläubiger Eltern erzogen, ein Einblick, was hinter den Türen einer Moschee so vor sich geht, wie wir es selten im Kino gesehen haben. Von Integration ist da längst keine Rede mehr, der Film macht nachvollziehbar, wie schnell sich junge Männer hier radikalisieren können, er zeigt aber auch, wie wichtig der seelische Beistand für diese Jugendlichen ist, die oft ihren Weg erst noch finden müssen. Zejhun Demirov  erhielt für seine darstellerische Leistung als Oray bereits den FIRST STEPS Award.

Weitere deutsche Filme, die fürs Kino von Interesse sind, waren in feierlichen Premieren in den Berlinale Specials zu sehen: Der Friedrichstadt-Palast in Berlin hat die größte Theaterbühne Europas und unterhält ein Kinder- und Jugendensemble, für das jährlich neue Mitglieder gecastet werden. Alice Agneskirchner begleitet in ihrem Dokumentarfilm LAMPENFIEBER (NFP), der als Berlinale Special zu sehen war, fünf dieser Kinder vom Casting bis hin zur Premiere vor großem Publikum. Ein spannender und äußerst unterhaltender Einblick in das Leben von Jugendlichen, die hier ihrem Traum nachgehen, auf der Bühne zu stehen, um ihr schauspielerisches Talent zu beweisen. Dafür nehmen sie allerlei Entbehrungen in Kauf. Die vielen Proben lassen sie immer wieder mit familiären oder schulischen Angelegenheiten kollidieren, doch Agneskirchner zeigt auch, womit sie belohnt werden. Es macht Spaß mit anzusehen, wie die Kinder ihre anfängliche Unsicherheit überwinden und Selbstbewusstsein gewinnen und eine emotionale Reise zu sich selbst unternehmen. Sie berichtet unterhaltsam und tiefgründig vom Abenteuer des Erwachsenwerdens, von Erfolgen und Rückschlägen und dem Hinfiebern auf die große Premiere. Ein Film für die ganze Familie.

Ähnlich sympathisch war auch das Porträt von Mario Adorf in ES HÄTTE SCHLIMMER KOMMEN KÖNNEN (NFP), mit dem Dominik Wessely dem inzwischen 88-jährigen ein kleines Denkmal setzt. Die Aufnahmeprüfung an der Münchner Schauspielschule hätte er beinahe nicht bestanden. Doch ein Lehrer erkannte sein Talent: „Er hat zwei Dinge: Kraft und Naivität.”  Zwei Eigenschaften, die offensichtlich ausreichten für eine internationale Karriere.  Wessely beginnt mit Adorfs Kindheit in Mayen, seinen ersten Theatererfahrungen in München und seinem ersten Kinoerfolg in Robert Siodmaks “Nachts, wenn der Teufel kam”. Die Interviews mit Senta Berger und Margarethe von Trotta sind bezaubernd, lassen aber durchschimmern, dass er dem internationalen Jetset wie auch der Münchner Schickeria distanziert gegenüber stand, aber auch nie so recht zum Neuen Deutschen Film dazu gehörte, was ihn heute noch wehmütig werden lässt. So hat er sein Glück in Italien gefunden. Dreißig Jahre lebte er in Rom, und als die Dreharbeiten ihn zu seiner einstigen Wohnung führen, wird er vom Wirt der Kneipe gegenüber wiedererkannt. Was allein diese Szene an Menschlichkeit und Lebensfreude vermittelt, lässt ahnen, dass er hier glücklichere Jahre verbracht hat, als dies in Deutschland wohl möglich gewesen wäre.

Weniger überzeugend war Jean Michel Vecchiets Dokumentarfilm PETER LINDBERGH – WOMEN STORIES (DCM) eher textlastig hauptsächlich in französischer Sprache gedreht ist. Vecchiet konzentriert sich dabei auf Lindberghs Biografie, angefangen im von den Deutschen besetzten Polen über seine Flucht nach Deutschland bis hin zu Stationen seiner Karriere. Offensichtlich benutzt der Regisseur found footage aus Lindberghs großem Archiv und lässt dies alles von einem Off-Sprecher wortreich begleiten. Eine wahre Textwüste, wo man sich doch auf charakterstarke Fotos eingestellt hatte, denn mit denen ist Lindbergh berühmt geworden. Er war der erste, der es wagte, seinen Mode-Models einen eigenen Charakter zuzugestehen, und tatsächlich, wenn man seine Bildern in schwarzweiß betrachtet, wird ihr artifizieller Charakter offenbar. So bleibt der Film hinter den Erwartungen zurück und nur einmal schimmert Lindberghs Arbeitsweise auf, als es ihm in einer Szene gelingt, die wasserscheue Nichtschwimmerin Naomi Campbell zu einem Shooting im Swimmingpool zu überreden.

„Früher liefen die großen Partys immer auf Tour, heute eher zuhause, denn um am nächsten Tag fit auf der Bühne zu stehen, müssen wir eiserne Disziplin üben. Wir sind jetzt  in einem Alter , wo wir auch mal nüchtern auf der Bühne stehen dürfen.” erklärte Campino auf der Pressekonferenz zum Dokumentarfilm WEIL DU NUR EINMAL LEBST (NFP) von Cordula Kablitz-Post, die Die Hosen auf ihrer Tour 2018 von Deutschland über die Schweiz bis nach Argentinien begleitete.
“Die Band wurde 1992 gegründet und war nie für die Ewigkeit gedacht. Doch solange man uns noch hören will machen wir weiter.” so Campino und Andy erklärt:  “Wir sind halt nicht die großen Koryphäen … dann müssen wir halt mehr üben.”  Nur der kleine Drummer Vom kann das nicht verstehen: “Ich bin der jüngste und der Schönste und doch höre ich immer nur: Du musst arbeiten, arbeiten, arbeiten…” Überhaupt ist Kablitz-Post Doku nicht nur ein Tour-Portrait, sondern auch ein Blick hinter die Kulissen, wo Campino oft ein eisernes Regiment führt und auch schon mal Klartext redet. “Eine Tournee ist immer ein großes Abenteuer, wo du fremde Menschen kennen lernst und einen Abend mit ihnen verbringst.” sagt er. Dagegen ist der Studioalltag große Langeweile, wo die Band in der Regel auf Campino wartet und der auf eine gute Idee. Überhaupt bekommen wir allerhand Einblicke jenseits der Tour, so  in die Arbeitsweise der Band, ihr politisches Engagement und auch allerlei Historisches, wie das legendäre Konzert im berstend vollen SO36, der Auftritt vor dem Uerige in Düsseldorf und auch ein Wiedersehen mit dem ‘wahren’ Heino. Auch wenn sich das Thema Alter wie ein roter Faden durch den Film zieht,  kommt der Humor nie zu kurz und am Ende wird klar, dass es eigentlich nur darum geht, Spaß zu haben.

Mit einem besseren Statement hätte das Festival nicht enden können und so war man froh, neben einem insgesamt eher anspruchsvollen Wettbewerb mit schwierigen Themen, auch populäre Filme gesehen zu haben, die leichter zu vermarkten sein werden.

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