Die 75. Filmfestspiele Berlin
Ein Festivalbericht von Kalle Somnitz & Anne Wotschke
Wie schon im letzten Jahr in Cannes ging auch die Berlinale mit einem eindeutigen Favoriten zu Ende. War es im letzten Jahr Sean Baker, der mit ANORA die Goldene Palme gewann und gerade bei den Oscars abgeräumt hat, so ging der Goldene Bär völlig unumstritten an den norwegischen Beitrag OSLO STORIES: TRÄUME (8.5.) von Dag Johan Haugerud. Dabei handelt es sich um den letzten Teil einer Trilogie, deren erster Teil OSLO STORIES: LIEBE (17.4.) im letzten Jahr auf der Berlinale in der Panorama-Sektion zu sehen war, während der zweite Teil OSLO STORIES: SEHNSUCHT (22.5.) letztes Jahr in Venedig am Wettbewerb teilnahm. Alamode bringt nun alle drei Teile im Frühjahr in unsere Kinos.
OSLO STORIES: TRÄUME war nicht nur bei Presse und Publikum der Favorit, neben der Internationalen Jury entschieden sich auch die Jurys der FIPRESCI und der Gilde Deutscher Filmkunsttheater dafür, ihn als besten Film des Festivals auszuzeichnen. Die Begründung der Gilde Jury bringt die Stärken dieses Films auf den Punkt, weshalb wir sie hier im Wortlaut zitieren:
“Ein Zauber wohnt allem inne: der ersten Liebe, dem bebenden Kribbeln, der unstillbaren Sehnsucht – und der stimmungsvollen Annäherung an jene Gefühle durch dieses sinnliche und leichtfüßige Filmwerk aus Norwegen. Quereinsteigerin und Künstlerin Johanna wird im Unterricht zur Projektionsfläche für die Gefühle und Träume der 17-jährigen Johanne. Mit intimen Aufzeichnungen möchte sie sich immer an diese Liebe erinnern und eine möglicherweise irritierende Erfahrung verarbeiten. Ganz allein gelingt ihr dies jedoch nicht und so gibt sie den Text ihrer schriftstellernden Großmutter, die ihn an die Mutter weitergibt. Alle drei – toll gespielten Frauenfiguren – werden durch den Text der Jüngsten mit eigenen Wünschen und Sehnsüchten konfrontiert. Vielschichtig und komplex sortiert der warmherzig melancholische und toll erzählte Film die sich verändernden Gefühlslagen der Frauen aus drei Generationen immer wieder neu.”
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Ebenso berechtigt war der Silberne Bär für Rose Byrne als beste Darstellerin. In IF I HAD LEGS I‘D KICK YOU von Mary Bronstein spielt sie Linda, eine berufstätige junge Mutter, deren Leben gerade aus dem Ruder läuft. Ihr Kind hat eine unerklärliche Krankheit und muss beinahe täglich in die Klinik, dazu gibt es Stress im Job und das Verhältnis zu ihrem Psychotherapeuten wird auch immer feindseliger. Da könnte sie eigentlich Unterstützung von ihrem Ehemann gebrauchen, doch der glänzt durch Abwesenheit und meldet sich nur gelegentlich mit einem Kontrollanruf, bei dem er Linda oft vorhält, eine schlechte Mutter zu sein. Schlimmer kann es nicht mehr kommen, denkt Linda, doch dann bricht die Decke ihres Wohnzimmer aufgrund eines Wasserschaden ein, und hinterlässt ein ominöses Loch, dass sie Integrität des ganzen Hauses bedroht, was man als Metapher für Lindas Familie lesen kann.
Neben einem einfallsreichen und flotten Drehbuch ist es Rose Byrne, die diesen Film ganz alleine nach Hause spielt. Sie gibt eine Mutter am Rande des Nervenzusammenbruchs, der Familie, Freunde und Gesellschaft immer wieder den Boden unter den Füßen wegziehen und spielt dabei auf der Klaviatur ihrer Gefühle von Verantwortlichkeit, Überforderung, Hass bis Kapitulation. Eine Achterbahn der Emotionen, die sich mit zunehmender Dauer des Films auch auf das Publikum überträgt und uns im bequemen Kinosessel zumindest psychisch durchrüttelt.
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Der Silberne Bär für Rose Byrne war also völlig berechtigt, ließ dann nach dem neuen Reglement nicht mehr zu, dass auch ein männlicher Schauspieler ausgezeichnet werden konnte.Dabei kam die Jury eigentlich gar nicht an Ethan Hawke vorbei. In Richard Linklaters BLUE MOON spielt er den berühmten Songtexter Lorenz Hart, der zusammen mit seinem Kompagnon Richard Rodgers das berühmte Duo Rodgers & Hart bildete. Zwei deutsch-jüdische Immigranten, die gemeinsam 28 Bühnen-Musicals und über 500 Songs geschrieben haben, darunter „My Funny Valentine“, „The Lady Is a Tramp“ und das titelgebende Stück “Blue Moon”. Trotzdem hatte es Hart nicht leicht, er litt unter seiner Homosexualität, wurde deswegen oft angefeindet und wurde zum Alkoholiker, was zur Trennung der beiden Musiker führte. Der Film spielt nun am Premierenabend des Musicals „Oklahoma!“ im Jahr 1943. Es war das erste Stück von Rodgers, für das nicht Hart, sondern dessen Schulfreund Oscar Hammerstein die Texte geschrieben hat. Hart hält es nicht lange im Konzertsaal aus, sondern flüchtet lieber an die Bar, wo er den ganzen Abend vergeblich versucht, dem Alkohol zu widerstehen. Dabei trifft er auf allerlei Kollegen, die er gerne an seinen Gedanken teilhaben lässt, nach ihrer Meinung befragt und um ein wenig Aufmerksamkeit flirtet.
Linklaters Dialoge zeigen dabei erstaunliche Gegensätze, wechseln von lustig bis traurig, von euphorisch bis sentimental und von klug bis albern, was dem Film eine ungeheure Dynamik verleiht. Dabei sind sie so messerscharf, pointiert und witzig, dass am Ende des Abends das Psychogramm eines großen Künstlers von trauriger Gestalt entsteht, den Ethan Hawk ohne jegliche Eitelkeit, ja mit Mut zur Hässlichkeit spielt. Sein Lorenz Hart ist ein kleiner, unauffälliger Mann, der sein schütteres Haar mit viel Pomade nach hinten gekämmt trägt, von dem niemand Notiz nehmen würde, wäre da nicht sein brillanter Witz und seine ungemeine Eloquenz, die zeigen, dass in einem jämmerlichen Körper ein großer Geist stecken kann.
Hier rächte sich dann das neue Reglement, das verbietet, einen zweiten Darsteller auszuzeichnen und so verlieh man den Silbernen Bären für den Besten Nebendarsteller an Andrew Scott, der in einer winzigen Nebenrolle Oscar Hammerstein spielt. Eine ebenso armselige wie salomonische Lösung.
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Mit dem Silbernen Bären für eine besondere künstlerische Leistung wurde das Ensemble des Films TOUR DE GLACE (Der Eisturm) der französischen Regisseurin Lucile Hadžihalilović ausgezeichnet. Darin erzählt sie eine Version des Hans Christian Andersen-Märchens „Die Schneekönigin“, die diesmal in den siebziger Jahren angesiedelt ist. Die 16-jährige Jeanne ist nach dem Tod ihrer Mutter in einem Waisenhaus auf dem Land aufgewachsen. Erfüllt von einer tiefen Sehnsucht nach Veränderung, büchst sie eines Tages aus in die Stadt und findet dort zunächst Unterschlupf in einem scheinbar leer stehenden Gebäude, das sich bald als Filmkulisse erweist. So stolpert sie in die Dreharbeiten des Films „Die Schneekönigin“, just ihr Lieblingsmärchen, das sie an ihre verstorbene Mutter erinnert, und wird als Statistin angeheuert. Sie trifft auf die Hauptdarstellerin (Marion Cotillard), von deren kalter Schönheit sie sich magisch angezogen fühlt, doch auch umgekehrt findet die Diva Gefallen an dem jungen Mädchen. Bald verschwimmen Wirklichkeit und Illusion, in eindringlichen, atmosphärisch dichten Bildern schafft die Regisseurin eine magische Welt, die ihre eigenen Gesetze hat. Gelegentlich erscheint TOUR DE GLACE jedoch allzu verrätselt und stilisiert, was den Zuschauer im wahrsten Sinne des Wortes daran hindert, mit dem Film warm zu werden.
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Fiktion und Realität vermischen sich auch im Wettbewerbsbeitrag des belgischen Ehepaars Hélène Cattet und Bruno Forzani REFLECTION IN A DEAD DIAMOND, eine Art Parodie auf Agentenfilme der sechziger Jahre, die von den Erinnerungen des alternden Ex-Spions John gespeist werden. Gespielt wird dieser von Fabio Testi, selbst ein Star des Italo-Kinos der sechziger und siebziger Jahre. Er erinnert sich in seinem Alterssitz, einem Luxushotel an der Cote d’Azur, an seine alten Widersacher in zersplitterten Sequenzen auf verschiedenen Zeitebenen, die zum Teil elegant, teilweise aber auch extrem blutig daherkommen und sich zu einem Bilderrausch steigern, bei dem es nicht ratsam ist, einen allzu großen Anspruch an Logik zu stellen. Ein amerikanischer Kollege fasste es in Anspielung auf den Titel zusammen mit den Worten: “Viele Tote und wenig Reflektion!”
Die Story an sich ist dünn: Johns ruhiges Dasein wird auf den Kopf gestellt, als seine Zimmernachbarin im Hotel spurlos verschwindet. Er befürchtet, seine alten Feinde seien zurückgekehrt und steigert sich zunehmend in die Vorstellung, man wolle ihm seinen idyllischen Lebensabend zerstören. Konzipiert als Hommage an das Eurospy-Genre der sechziger Jahre taugt dieser Film vor allem als Zeitvertreib für Bond-Fans, die sich das Warten auf die nächste Auflage des beliebten Kino-Sequels ein wenig verkürzen wollen.
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Der mexikanische Ausnahme-Regisseur Michel Franco hat in den letzten Jahren beeindruckende Filme vorgelegt, die alle auf dem Filmfest in Venedig uraufgeführt wurden: NEW ORDER (Grand Jury Prize 2020), SUNDOWN (2021) und zuletzt MEMORY (Bester Schauspieler in 2023). Für seinen neuen Film DREAMS arbeitete er wieder mit Jessica Chastain als Hauptdarstellerin zusammen. Die beiden haben inzwischen eine gemeinsame Firma gegründet und produzieren völlig unabhängig von Hollywood. “Uns sagt niemand, was oder wie wir was machen sollen. Wir machen nur das, was uns gefällt!” stellte er sein Verhältnis zu Hollywood klar, und Jessica Chastain fügte hinzu: “Durch unsere Firma habe ich an Selbstbewusstsein gewonnen, will gar nicht mehr unbedingt gefallen, sondern provoziere auch mal gerne.”
Das tut sie tatsächlich in DREAMS. wo sie eine erfolgreiche, amerikanische Geschäftsfrau spielt, die sich einen jungen mexikanischen Balletttänzer hält, wie ein Schoßhündchen. Sie lockt ihn nach Amerika, besorgt ihm eine Wohnung und bringt ihn sogar in einer Tanzschule unter. Doch spätestens als er eigene Träume und Begehrlichkeiten entwickelt, beginnen die Probleme, und als sich dann noch die Einwanderungsbehörde meldet, lässt sie ihn genauso schnell wieder fallen, wie sie ihn aufgegabelt hat.
Auch wenn die Story etwas holzschnittartig daherkommt, gelingt es Franco immer wieder, den alltäglichen Rassismus und den privaten Imperialismus der Amerikaner in den Film einzubauen. Das Verhältnis der beiden Liebenden ist nie auf Augenhöhe, und so wird für den begabten Tänzer der Amerikanische Traum bald zu einem Alptraum. Was das Drehbuch nicht hergibt macht Franco durch seine hochästhetische Inszenierung wieder wett: An illustren Plätzen in edelster Ausstattung choreografiert er Tanz- und Sex-Szenen stilsicher auf höchstem Niveau, um sie dann der sozialen Wirklicchkeit gegenüber zu stellen.
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Gespannt war man auch auf das Regiedebüt der preisgekrönten Autorin Rebecca Lenkiewicz, die zusammen mit Pawel Pawlikowski das Drehbuch zu IDA geschrieben hat. In HOT MILK (Mubi) erzählt sie von Sofia, die sich seit Kindertagen um ihre Mutter Rose kümmert. Die sitzt seit einem traumatischen Erlebnis im Rollstuhl, obwohl kein Arzt dafür einen physischen Grund finden kann. Gemeinsam versuchen sie nun bei einer Art Wunderheiler in Spanien Hilfe zu finden. Der Aufenthalt an dem spanischen Küstenort bringt einiges ins Rollen. So lernt Sofia hier eine junge Touristin (Vicky Krieps) kennen, und unter strahlend blauem Himmel in der sengenden Sommersonne bahnt sich eine Beziehung zwischen den beiden Frauen an, die zumindest für Sofia die Enge ihres durch die Mutter sehr eingeengten Lebens sprengt und ihr eine Zukunft zeigt, die ihr viel mehr verspricht. Sie beginnt, das Verhältnis zu ihrer Mutter zu hinterfragen, will nicht länger die brave Tochter sein, sondern versucht gemeinsam mit dem Wunderheiler hinter das Geheimnis ihrer Mutter zu kommen.
HOT MILK hat viele sehenswerte Momente, scheitert aber immer wieder an seinen Dimensionen. So ist das Mutter-Tochter-Verhältnis derart toxisch, dass es nur wenig real wirkt und auch die Liebesbeziehung kann am Ende nicht einlösen, was das Setting erwarten lässt. So bleibt vieles unausgesprochen, diffus und unglaubwürdig, und auch der Versuch, die Geschichte mehr durch Emotionen als durch Worte zu erzählen, geht am Ende nicht wirklich auf.
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Deutsch-österreichischer Horror ist gar nicht so ungewöhnlich im Berlinale Wettbewerb, denkt man beispielsweise an den letztjährigen Beitrag DES TEUFELS BAD von Veronika Franz und Severin Fiala. Leider erreicht MOTHER’S BABY nicht dessen cinematographische Dichte, sondern verharrt eher auf dem Niveau eines Fernsehspiels, weiß aber immerhin, mit einer spooky Story seine Zuschauer in den Bann zu ziehen.
Die 40-jährige Julia ist eine erfolgreiche Dirigentin und hat mit Georg einen liebevollen Ehemann. Sie träumen von einem kleinen Familienglück, doch mit dem Nachwuchs will es einfach nicht klappen, und so suchen sie Hilfe in einer Privatklinik. Dr. Vilfort (Claes Bang) verspricht, ihren Kinderwunsch zu erfüllen, und tatsächlich wird Julia bald schwanger. Bei der Geburt, der vielleicht einzigen kinogerechten Szene in diesem Film, kommt es zu Komplikationen, und das Folgende ist nichts für schwache Nerven und vielleicht auch nichts für Schwangere. Als das Baby endlich auf der Welt ist, wird es erstaunlich still im Kreißsaal und Julia ist ihr Kind schneller wieder los als ihr lieb ist. Es muss sofort auf die Intensivstation. Eine bange Nacht muss das junge Elternpaar im Krankenhaus verbringen, bevor Dr. Vilfort am nächsten Morgen ihr Baby zurückbringt. Doch irgendetwas scheint nicht zu stimmen, und während Georg sein Glück kaum fassen kann, wächst in Julia mehr und mehr der Verdacht, dass es gar nicht ihr Baby ist.
Die österreichische Regisseurin Johanna Moder versucht sich hier an einem Thriller, der in seinen starken Momenten an ROSEMARIES BABY erinnert und dann doch wieder fernsehhaft um Themen wie postnatale Depression und Schizophrenie kreist. Immerhin macht er deutlich, dass unsere Gesellschaft von Frauen erwartet, selbst nach einer schweren Geburt zu funktionieren und die Mutterrolle anzunehmen. Julias fortgesetzte Recherchen, was in der Geburtsnacht passiert ist, werden von ihrem Arzt als Schizophrenie diagnostiziert, während Georg sich um das alleinige Sorgerecht bemüht. Zum Schluss dann doch noch ein Kinobild, wenn sich Georg und Julia, beide mit einem Baby auf dem Arm, das sie für das richtige halten, gegenüberstehen.
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Ähnlich fernsehhaft ging es mit Regisseur Frédéric Hambalek weiter, der mit WAS MARIELLE WEISS (DCM) angetreten war und zumindest mit einer originellen Geschichte, pointierten Dialogen und sympathischen Darstellern aufwartet. Er schaut hinter die Fassade einer scheinbar perfekten Familie, deren Gleichgewicht erheblich gestört wird, als die 13-jährige Tochter Marielle nach der Ohrfeige einer Schulkameradin telepathische Fähigkeiten entwickelt. Sie kann plötzlich alles sehen und hören, was ihre Eltern tun – und damit auch ihre Lügen aufdecken. Als Vater Tobias abends erzählt, wie er einen Konkurrenten in die Schranken gewiesen hat, bekommt er nur ein lakonisches „Das stimmt nicht“ zu hören, denn in Wirklichkeit hat er – gar nicht heroisch – klein beigegeben. Auch die sexuellen Avancen eines Kollegen von Mutter Julia, denen diese zumindest verbal nicht abgeneigt ist, bleibt Marielle nicht verborgen. Bald fühlen sich die Eltern einer 24-Stunden-Überwachung ausgesetzt, was zwar die Familiendynamik durcheinanderbringt, dem Zuschauer aber durch die entstehenden absurden Situationen viel Spaß bringt. Leider zeigt Hambalek wenig Mut zu Kino-Bildern und verharrt in einem reinen Kammerspiel mit leicht unterkühlter Ästhetik. Da wäre mehr drin gewesen.
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Die Sehnsucht nach der Heimat thematisiert Ameer Fakher Eldin im zweiten deutschen Wettbewerbsbeitrag YUNAN. Sie befällt den syrischen Autor Munir, dessen Asyl in Deutschland bewilligt wurde. Doch kann er nun nicht mehr in seine Heimat zurückkehren, was ihm so sehr zusetzt, dass er psychosomatische Atembeschwerden entwickelt und sogar an Selbstmord denkt. Seine letzte Hoffnung ist eine Reise auf eine abgelegene nordfriesische Hallig, um zur Ruhe zu kommen. Dort trifft er auf die Zimmerwirtin Valeska (Hanna Schygulla), die ihn zunächst nur widerwillig aufnimmt. Doch die Beiden kommen sich näher und Yunan taut mehr und mehr auf und lernt auch die anderen Inselbewohner kennen. Allmählich schöpft er neuen Lebensmut.
YUNAN ist der zweite Teil der Homeland-Trilogie des in Kiews als Sohn syrischer Eltern geborenen Regisseurs und hat viel mit seiner eigenen Geschichte zu tun. Eine tiefe Melancholie durchzieht das Werk, das mit seinen Landschaftsaufnahmen punktet. Besonders wird dies deutlich in den Träumen des Protagonisten, die hauptsächlich bestimmt werden von einer Erzählung seiner in Syrien lebenden Mutter, in denen eine mysteriöse Hirtin (Sibel Kekilli) in einer archaisch anmutenden Landschaft eine wichtige Rolle spielt. Diese Erzählung wird zum Sinnbild eines Gemütszustands, den viele Exilanten nach dem Verlust ihrer Heimat entwickeln.
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Nach IN WATER nahm der südkoreanische Regisseur Hong Sangsoo mit WHAT DOES THAT NATURE SAY TO YOU schon nach zwei Jahren erneut am Wettbewerb teil. Drei Jahre ist der Dichter und Mittdreißiger Donghwa schon mit seiner Verlobten Junheedarin zusammen und lernt nun endlich ihre Eltern und deren Anwesen kennen. Und das nicht etwa bei einem arrangierten Treffen, sondern eher zufällig, als er Junhee nach Hause bringt und über das riesige Anwesen staunt. Junhee lädt ihn ein, sich das Haus von außen anzusehen. Bald trifft man auf den Vater, der sich freut, seinen potentiellen Schwiegersohn endlich kennenzulernen und ihn zum Essen einlädt. Später gesellen sich noch die Mutter, selbst eine Dichterin, und die Schwester Junhees dazu und Donghwas Aufenthalt verlängert sich bis zum nächsten Morgen. Die Gespräche entwickeln sich vom Smalltalk bis hin zu verkappten Verhören in Hinblick auf seine Eignung als künftiges Familienmitglied. Donghwa stammt zwar aus reichem Hause, sein Vater ist ein bekannter Star-Anwalt, will aber nicht von dessen Geld leben. Er sieht sich als Dichter, doch noch ohne Erfolg, beschränkt er sich auf ein einfaches Leben und schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch. Ein starker Gegensatz zu Junhees großbürgerlicher Familie, die ihm zwar nicht unfreundlich, aber mit einer gewissen Skepsis entgegenkommt. Fein verpackte Spitzen gegen seine Lebensphilosophie werden dargeboten in humorvollen Dialogen. Je später der Abend und je trunkener die Runde wird, desto offener kommen die wirklichen Gefühle und Befindlichkeiten zum Vorschein. Die Optik bleibt dabei – bedingt durch eine niedrige Auflösung der Bilder – verschwommen, analog zu Donghwas Kurzsichtigkeit und symbolisch für seine noch unklare, nicht endgültig festgelegte Sicht auf die Welt. Ein netter, aber nicht herausragender Wettbewerbsbeitrag, der ohne Preise blieb.
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So ging ein Wettbewerb zu Ende, der merkwürdig blass blieb und nur wenig Akzente setzen konnte, was schon der ausgeschiedene Festivalleiter Carlo Chatrian in seiner eigens kreierten Reihe “Encounters” versuchte. Diese Reihe wurde nun von der neuen Leiterin Tricia Tuttle durch ihre Reihe “Perspectives” ersetzt, in der sie sich wohl Ähnliches vorgestellt hatte, aber nicht wirklich durchdringen konnte.
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Wir haben in dieser Reihe den deutschen Beitrag MIT DER FAUST IN DIE WELT SCHLAGEN (Across Nation / 24 Bilder) gesehen. Der Debütfilm von Constanze Klaue erzählt von den Brüdern Philipp und Tobi, die um die Jahrtausendwende in der ostdeutschen Provinz aufwachsen. Ihre Eltern sind hierher gezogen und haben ein Stück Land gekauft, auf dem sie vorwiegend in Eigenarbeit ein Haus bauen. Nur mit der Elektrik tut sich der Vater schwer, findet aber Hilfe bei seinem hageren Jugendfreund Uwe. Doch als der eines Tages tot aufgefunden wird, erscheint das wie ein Omen. Von jetzt an geht’s bergab, der Vater verfällt immer mehr dem Alkohol, verliert seinen Job, nur die Mutter versucht die Familie mit ihrem Beruf als Krankenschwester zusammenzuhalten.
In diesem Umfeld wachsen die beiden Brüder auf. Der schönen Natur, die sie voll auskosten, steht, je älter sie werden, eine immer größer werdende Perspektivlosigkeit entgegen. Philipp wird irgendwann in die Stadt ziehen, während sein kleiner Bruder Tobias neue Freunde findet, die Abenteuer und Freundschaft versprechen, aber Gewalt und Fremdenhass meinen. Als dann noch ein Flüchtlingsheim gebaut werden soll, sind wir in der deutschen Gegenwart angekommen.
Constanze Klaues Regiedebüt ist die Chronologie einer Jugend in der ostdeutschen Provinz, die scheinbar automatisch im Rechtsradikalismus mündet. Klaue erzählt ihre Geschichte unaufgeregt und behutsam und zeigt, wie der Abwärtsstrudel im Osten allmählich alle, die dort geblieben sind, erfasst und als Neonazis wieder ausspuckt.
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In der Reihe Panorama überraschten einige Debütfilme mit guter Qualität. Besonders die nuancierten darstellerischen Leistungen, allen voran der Hauptdarstellerin, konnten in Sarah Miro Fischers Abschlussarbeit an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin überzeugen. In SCHWESTERHERZ schildert sie eine sehr enge und vertrauensvolle Geschwisterbeziehung, die erschüttert wird, als plötzlich der Vorwurf der Vergewaltigung im Raum steht. Rose will es zunächst gar nicht glauben, als sie eine Vorladung erhält, als Zeugin zu dem Vorwurf gegen ihren Bruder Sam auszusagen. Tatsächlich war sie sogar in jener Nacht im Nachbarraum, ohne viel im Halbschlaf von den Vorgängen mitbekommen zu haben. Lediglich einen kurzen Blickkontakt gab es zwischen ihr und der ihr unbekannten Anklägerin, bevor diese die Wohnung verließ. Doch ihr unerschütterlicher Glaube an die Unschuld ihres Bruders bekommt Risse, bis sie schließlich erkennen muss, dass die Vorwürfe nicht unberechtigt sind. Sie wird in einen tiefen Gewissenskonflikt gestürzt, der ihre moralische Integrität auf die Probe stellt.
Marie Bloching spielt ihre Rolle als Rose nuanciert und glaubhaft. Besonders als sie bei der Polizei aussagen muss, spiegeln sich in ihrem Gesicht alle widersprüchlichen Regungen, ihre inneren Zweifel ebenso wie der unbedingte Wunsch, sich ihrem Bruder gegenüber loyal zu verhalten. Ein wichtiger Beitrag zum Thema sexuelle Gewalt, bei dem die subtile Kamera und das ausgefeilte Drehbuch die Leistungen der Schauspieler optimal ergänzen.
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Um ein Familientrauma geht es auch in Andreas Prochaskas WELCOME HOME BABY (Wild Bunch), der von der Berliner Notärztin Judith erzählt, die ein Haus in der österreichischen Pampa geerbt hat. Dort ist ihr Vater gestorben, den sie kaum gekannt hat und der sie als Kind weggegeben hat. Zusammen mit ihrem Ehemann fährt sie nach Österreich, um es zu verkaufen, es wird jedoch ein Trip in ihre Kindheit, die für Judith zeitlebens ein unlösbares Rätsel war. Durch die Begegnung mit Familienmitgliedern und Dorfbewohnern kommt einiges an die Oberfläche, was in ihrem Unterbewusstsein tief verschüttet war. Ihr Vater war der Dorfarzt und irgendwie geht jeder hier davon aus, dass Judith in seine Fußstapfen treten muss. Dies ist keine Hoffnung der Dorfbewohner, auch keine Bitte, sondern eher eine Gesetzmäßigkeit, die Tradition und Jahrhunderte alte Riten verlangen. Judith spürt immer mehr diesen Zwang, ohne zu wissen, wer ihn eigentlich ausübt. Zuerst bemerkt sie die Veränderung bei ihrem Gatten, der längst nicht mehr nach Hause will und einer rädelsführenden Dorfbewohnerin (Maria Hofstätter) hörig zu sein scheint. Überhaupt sind es die Frauen, von denen dieser mystische Zauber ausgeht, und je mehr sich Julia wehrt, desto drastischer werden ihre Methoden. Zum Schluss scheinen sich Raum und Zeit aufzulösen, verliert Judith alte Ankerpunkte, an denen sie sich festhalten kann und wird immer mehr zum Opfer eines Fluches, der über diesem Dorf liegt.
Andreas Prochaska ist da ein wahrer österreichischer Thriller gelungen, der durchaus an seinen Western DAS FINSTERE TAL erinnert und uns in die Abgründe der menschlichen Seele schauen lässt. Er erzählt von Traumata, Schuld und Selbstermächtigung, benutzt Assoziationen und Atmosphäre als narrative Mittel und konfrontiert uns in einem bildgewaltigen Rausch mit einer fremden Heimat.
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Auch in Ina Weisses (DER ARCHITEKT) viertem Kinofilm ZIKADEN (DCM) kommt die Protagonistin heim. Iin ihrem Heimatdorf auf dem Land in Brandenburg will sich Isabell (Nina Hoss) um ihre pflegebedürftigen Eltern kümmern und eine auseinanderbrechende Ehe verarbeiten. Ihre Eltern sind zwar gut situiert und haben mehrere Pflegekräfte, aber irgendwie müssen diese gemanagt werden, so oft wie sie ausfallen oder wieder kündigen. Isabell lernt hier die alleinerziehende Anja kennen, die sich von Job zu Job hangelt, um sich und ihre kleine Tochter durchzubringen. Die beiden ungleichen Frauen finden Interesse füreinander, beginnen sich mit den Problemen des anderen zu beschäftigen. Sie kommen sich immer näher, beobachten sich, ergreifen gegenseitig Partei füreinander und versuchen gemeinsam ihren jeweiligen Dilemmata zu entfliehen. Wenn sie am Ende Isabells Vater einfach sterben lassen, kann man das als unterlassene Hilfeleistung, Sterbehilfe oder Selbstbefreiung interpretieren.
Ein langsamer, einfühlsamer Film, der in der von Perspektivlosigkeit geprägten ostdeutschen Tristesse spielt und die Fragilität der Beziehung zwischen den Frauen immer wieder durchschimmern lässt. Keine leichte Kinokost.
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Erst kürzlich hat Trine Dyrholm in Desirée Nosbuschs POISON ihre Schauspielkunst bewiesen. Nun glänzt sie erneut im dänischen Panorama-Beitrag BEGINNINGS. Sie spielt die Akademikerin Ane, deren Ehe kurz vor der Scheidung steht. Sie und ihr Mann Thomas haben nur noch nicht den richtigen Zeitpunkt gefunden, um es ihren beiden Töchtern zu sagen. Doch Thomas hat bereits eine neue Partnerin gefunden, die schon die gemeinsame neue Wohnung einrichtet. Alle Pläne werden auf den Kopf gestellt, als Ane plötzlich einen gravierenden Schlaganfall erleidet, der sie zunächst völlig außer Gefecht setzt. Die beiden beschließen, erst mal zusammen zu bleiben, bis es Ane besser geht. Die neue Situation verändert auch ihre Beziehung. Sie rücken wieder näher zusammen, doch hat ihre Ehe wirklich noch eine Chance?
Ruhig und detailgetreu schildert Regisseurin Jeanette Nordahl das Beziehungsgeflecht einer sich auflösenden Familie, die sich durch einen Schicksalsschlag neu arrangieren muss. Ihr naturalistischer Stil umgeht allzu große Sentimentalität und macht es den Zuschauern leicht, sich mit den Figuren zu identifizieren. Die Kamera und Musikuntermalung forcieren die zurückhaltende, authentisch wirkende Inszenierung. Was ein wenig fehlt, sind Rückblenden in die Vergangenheit, die das Scheitern der Ehe plausibler gemacht hätten.
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Irgendwie hat man das Gefühl, dass es ein guter Zeitpunkt sein könnte, einen Film über Hildegard Knef in die Kinos zu bringen. Irgendwie scheint sie vergessen, man erinnert sich zwar noch an ihren Namen, doch von ihrem Werk und ihrem Leben hat man einiges vergessen. Umso besser, dass ihr 100. Geburtstag nun Anlass ist für den Dokumentarfilm ICH WILL ALLES. HILDEGARD KNEF (Piffl), der einer älteren Generation ermöglicht, sich ihrer zu erinnern und einer jüngeren sie zu entdecken.
Denn die Knef war schon eine ungewöhnliche Frau in diesem Nachkriegs-Deutschland, in dem sie es mit allerlei schwarzweiß gekleideten Moderatoren aufnahm, die sich in ihrer eigenen toxischen Männlichkeit suhlten und sie als bunten Paradiesvogel in ihrer Show vorführen wollten. So musste sie nach ihrer Schönheits-Operation Fragen von Journalisten parieren wie etwa: “Haben sie schon einmal über Selbstmord nachgedacht?” und sich gegen allerlei Frechheiten verwehren, die heute zur fristlosen Entlassung des Talkmasters führen würden. Aber Hildegard Knef ließ sich davon nicht beeindrucken, und sie ließ sich von Nichts und Niemandem vereinnahmen. Das spiegeln auch ihre Chansons wider, in der sie für Frauenrechte kämpft und Forderungen stellt zu einer Zeit, als Frauen noch gar nichts zu sagen hatten. So ist dieses Biopic, das ein Wiederhören mit so vielen Chansons ermöglicht und sie dem Vergessen entreißt, auch ein Spiegelbild jener spießigen Bundesrepublik, die im Rausch des Wiederaufbaus wenig Toleranz zuließ.
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Alles in allem kann man feststellen, dass das diesjährige Programm ausgesprochen dünn war und nur selten über ein Mittelmaß hinauskam, dafür aber umso öfter auf Fernsehniveau abstürzte. Insbesondere der Wettbewerb dümpelt seit vielen Jahren dahin und scheint international abgehängt. Ihm neues Leben einzuhauchen, dafür ist die neue Leiterin Tricia Tuttle, was ihr aber in der Kürze der Zeit nicht gelungen ist. Gelungen ist ihr allerdings ein furioser Auftakt, der die Berlinale mit Stars, Glamour und guten Filmen in die Schlagzeilen brachte. Leider spielte der sich jenseits des Wettbewerbs ab und reichte auch nur für das erste Wochenende.
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So eröffnete Tom Tykwer bereits zum dritten Mal die Berlinale. Sein Film DAS LICHT (X-Verleih) fiel zwar bei der Presse durch, konnte aber mit guten Darstellern, pointierten Dialogen und einer atemberaubenden Kamera punkten. Leider will Tykwer zuviel, versucht alle Probleme der Welt in viel zu langen 160 Minuten zu verhandeln und dann noch Lösungswege aufzuzeigen. An letzterem scheitert der Film endgültig, während die Bestandsaufnahme unserer Krisen durchaus überzeugend ist. Tykwer macht sie klar an seiner fünfköpfigen Vorzeigefamilie, bestehend aus Vater, Mutter, den Zwillingen und einem Sohn aus der ersten Ehe der Mutter. Sie alle wohnen in einer großen Berliner Altbauwohnung, wo sie alle ihr eigenes Zimmer haben und strikt aneinander vorbei leben. Jeder kümmert sich nur um sein Ding, sieht die anderen kaum und selbst am Essenstisch ist man nie vollzählig. Eine typisch dysfunktionale Familie, könnte man sagen, aber da hakte Lars Eidinger bei der Pressekonferenz schon ein: „Was soll das sein, eine dysfunktionale Familie? Funktional sind Roboter oder Maschinen, aber eine Familie besteht aus Menschen und die sind immer fehlerhaft“, wandte er ein. Tykwer hingegen sieht ein großes Problem unserer Zeit in unserem Nichtloslassenkönnen. Angesichts der Probleme um uns herum fokussiert sich jeder auf sein eigenes Ziel und versucht es egal wie zu erreichen. Dabei nimmt er seine Umgebung längst nicht mehr war und vielleicht wäre es besser mal innezuhalten, eine Auszeit zu nehmen und die Dinge aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Das gelingt Tykwer sehr gut, dank der phänomenalen Kamerafahrten seines österreichischen Kameramanns Christian Almesberger, der vielfach in der Vertikalen unterwegs ist und Bilder von Berlin schafft, wie wir sie noch nicht kennen. Dabei kletter seine Kamera an Baugerüsten und Hochhausfassaden hoch, um von oben auf die Stadt herunterschauen, was einem manchmal wie eine Nahtod-Erfahrung vorkommt, bei der man den eigenen Körper verlässt und ganz anders auf die irdischen Dinge hinunterschaut.
Auch wenn man Tykwers Film inhaltlich als esoterischen Humbug abtun kann, visuell versucht er großes Kino zu machen und das ist in Deutschland ziemlich selten geworden.
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Am Abend des Eröffnungstages rockte dann Timothée Chalamet den Roten Teppich. Er war ganz alleine nach Berlin gekommen, um das Bob Dylan-Biopic LIKE A COMPLETE UNKNOWN (Walt Disney) vorzustellen und löste die typische Chalamania bei Fans und Presse aus. Insgesamt hinterließ er einen sympathischen Eindruck. Auch wenn er auf der Pressekonferenz einige Fragen offen ließ, weil sie ihm zu kompliziert waren – “Sie stellen Fragen, hier in Europa, das ist mir in Amerika noch nie passiert!”, überzeugte er mit Bescheidenheit und Respekt. So wollte Fragen nach Bob Dylan nicht beantworten: “Bob lebt in Malibu, er ist quicklebendig und ich kann hier keine Fragen für ihn beantworten”, erklärte er seine Zurückhaltung und zu seiner kometenhaften Karriere meinte er nur: “Ich hatte einfach Glück, hatte nur die besten Regisseure und eigentlich habe ich nicht mehr getan, als immer genau das zu tun, was sie von mir wollten. Das war wohl nicht verkehrt.”
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War Chalamet ganz alleine auf dem Podium, platzte selbiges bei der Pressekonferenz zu MICKEY 17 (Warner) aus allen Nähten. Erfolgs-Regisseur Bong Joon-ho brachte gleich fünf Schauspieler:innen mit, die so viel gute Laune verbreiteten, dass man sich gut vorstellen konnte, wieviel Spaß sie beim Drehen der Verfilmung von Edward Ashtons Novel “Mickey 7” hatten. Insbesondere Robert Pattinson wuchs bei der Verkörperung von Mickey 17 und 18 über sich hinaus und spielt hier vielleicht nicht nur die beste, sondern gleich die zwei besten Rollen seiner Karriere.
Wegen finanzieller Probleme auf Erden hat sich Mickey entschlossen, als Expendable auf einem Raumschiff anzuheuern. Hier ist er für die gefährlichen Jobs zuständig und wenn er dabei umkommt, kommt er in den Recycler und wird von einer Art 3D-Drucker neu ausgedruckt mit allen Erinnerungen, die seine Vorgänger-Versionen gesammelt haben. Als er eines Tages bei der Erkundung des Eisplaneten Niflheim in eine Gletscherspalte stürzt, erscheint eine Rettungsaktion als zu aufwändig und es wird gleich mit der Produktion von Mickey 18 begonnen. Doch Mickey 17 ist nicht tot, im Gegenteil, er wird von den Bewohnern des Eisplaneten gerettet und so passiert das, was auf gar keinen Fall passieren darf: Zwei Klone von Mickey leben gleichzeitig, was nicht nur qua Weltraumgesetz verboten ist, sondern auch schnell zu allseitiger Verwirrung führt.
Was folgt ist ein Parforce-Ritt quer durch alle Genres, bei dem die Schauspieler so richtig aus dem Vollen schöpfen können und jede Menge gute Laune verbreiten.
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Auch die deutschen Filme HELDIN und KÖLN 75 konnten sich in diesen Hype einreihen und trugen zu einem fulminanten ersten Berlinale-Wochenende bei. HELDIN (Tobis) überzeugt durch seine Hauptdarstellerin Leonie Benesch, die uns, wie schon in DAS LEHRERZIMMER und SEPTEMBER 5, ganz in ihren Bann schlägt. Sie spielt Floria, eine Pflegekraft, die wir bei ihrer Nachtschicht auf der chirurgischen Abteilung eines Schweizer Krankenhauses eine Nacht lang begleiten dürfen. Eine Kollegin ist ausgefallen und so muss Floria 26 Patienten allein versorgen. Dennoch macht sie sich mit der ihr eigenen Leidenschaft auf ihren ersten Rundgang. Sie versucht, gelassen zu bleiben, vor allem ihre Freundlichkeit nicht zu verlieren und den Patienten das Gefühl zu geben, für sie da zu sein. Doch ihr Pieper zieht das Tempo stark an, sorgt dafür, dass sie den meisten ihrer Grundsätze nicht gerecht werden kann. Und so geschehen Fehler, enttäuscht sie Patienten, verliert sogar einmal komplett die Fassung. Am Ende scheint die Welt wieder in Ordnung zu sein, eine ganz normale Nacht auf Station. Doch wenn das normal ist, wird niemand diesen Job lange machen. Das jedenfalls macht uns die Schweizer Regisseurin Petra Volpe unmissverständlich klar und fordert uns auf, diesem Beruf mehr Respekt entgegenzubringen.
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Mit KÖLN 75 (Alamode) erhält der Zuschauer eigentlich zwei Filme zum Preis von einem. Der erste erzählt die märchenhafte, aber wahre Geschichte der 18-jährigen Vera Brandes, die das Opernhaus angemietet hat, um Keith Jarrett zu einem Konzert nach Köln zu holen. Es ist Freitagnachmittag, als sie feststellt, dass ein völlig verstimmter Stutzflügel auf der Bühne steht und nicht wie vereinbart der Grand Imperial von Bösendorfer. In der Verwaltung sind alle bereits im Wochenende und Veras ganzes organisatorisches Talent ist gefragt, um dieses Konzert heute Abend noch möglich zu machen.
Zur gleichen Zeit zwängen sich Keith Jarrett, sein Manager und ein Musikjournalist in ein winziges Auto, um von Lausanne nach Köln zu fahren. Eine wahre Quälerei, insbesondere für Keith, der unter enormen Rückenproblemen leidet. Am Flughafen nehmen sie nicht den Flieger nach Köln, sondern lösen ihre Flugtickets ein, um so ihre Europatour ein Stück weit finanzieren zu können. Im Auto haben die Beteiligten viel Zeit, um über Jazz zu fachsimpeln, und so entsteht ein tiefgreifendes Musikerporträt, das uns Jarretts Musikphilosophie vorstellt, die teilweise so konsequent ist, dass sie an Destruktivität grenzt.
In Köln angekommen, muss Vera Brandes den Maestro überreden, auf dem Stutzflügel zu spielen, den sie immerhin stimmen lassen konnte. Sie packt ihn bei seiner Ehre und kann ihm auch die Zustimmung abgewinnen, das Konzert aufzeichnen zu lassen.
Daraus wurde das „Köln Concert“, eine der meistverkauften Jazzplatten aller Zeiten.
Auf der Pressekonferenz erklärte der israelische Regisseur Ido Fluk auf die Frage, warum keine Musik aus dem Köln-Konzert im Film vorkommt, dass Keith Jarrett ihm die Rechte nicht geben wollte, wie er auch nicht viel von dem Film hielt und auch nicht gerne auf das legendäre Köln-Konzert angesprochen wird. “Er ist ein schwieriger Mann, aber ich bin ihm nicht böse, kann ihn sogar verstehen, denn wenn ich die Rechte bekommen hätte, hätte ich in die improvisierten Stücke hineinschneiden müssen, was wirklich nicht die Art ist, wie man diese Musik hören sollte. Da ist es mir lieber, die Leute schauen den Film, gehen nach Hause und legen nochmal die Platte auf.”
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Ebenfalls als Berlinale Special war Jan Ole Gersters (OH BOY, LARA) dritter Spielfilm ISLANDS (Leonine) zu sehen. Er entführt uns auf die Insel Fuerteventura, wo wir Tom folgen, der in einem Luxushotel als Tennistrainer arbeitet. Die Nächte sind lang und morgens hat er oft Probleme, pünktlich auf dem Tennisplatz zu sein, was ihm schon die ein oder andere Abmahnung eingebracht hat. Er ist reichlich gelangweilt von seinem Job, bis durch die Ankunft einer neuen Ferienfamilie sein Leben umgekrempelt wird. Irgendwie hat er eine Affinität zu dieser Familie, gibt dem Sohn Tennisstunden, meint, dass Mutter Anne ihm schöne Augen macht, und geht mit ihrem Mann Dave nachts auf Sauftour, von der der aber nicht zurückkommt. Er ist vermisst und alle Suchaktionen führen zu nichts, so dass schließlich die Polizei eingeschaltet wird. Die dreht jeden Stein um und hat jeden Tag eine andere Theorie, bei der auch Tom und Anne in Verdacht geraten.
Unter sengender Sonne zieht Gerster das Tempo an, steigert die Suche in einen thrillerhaften Krimi mit Film Noir Attitüden. Es macht Spass, den beiden Hauptdarstellern zu folgen: Sam Riley spielt den verliebten Tennislehrer mit einer Mischung aus Melancholie und Langeweile, wärend Stacy Martin die undurchschaubare Femme fatalel gibt.
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Ein kleines Highlight war auch Dylan Southerns THE THING WITH FEATHERS mit Benedict Cumberbatch in der Hauptrolle. Er spielt einen Comic-Zeichner, der den Tod seiner Frau überwinden muss, um seinen beiden Söhnen ein guter Vater zu sein. Aufgrund seiner unendlichen Trauer kann er diesem Anspruch nicht genügen, was sich in Albträumen niederschlägt, die stark von seinen Comics geprägt sind und eine menschengroße Krähe auf den Plan rufen. Sie ist derb und aggressiv, greift einerseits den Vater an und fordert ihn auf, sein Selbstmitleid abzulegen und für seine Söhne da zu sein, um ihnen zu helfen, ihre Trauer zu überwinden. Auf der anderen Seite schützt die Krähe aber auch die Familie und verteidigt sie gegen die anderen Dämonen, die da noch in des Vaters Kopf herumschwirren.
Vorlage des Films war das Buch „Grief Is The Thing With Feathers“ des britischen Schriftstellers Max Porter, ein viel gelobtes aber auch schwer zugängliches Werk, das der britische Regisseur Dylan Southern wie einen Schauerroman verfilmt und dabei mit Benedict Cumberbatch eine kongeniale Besetzung gefunden hat. Es ist ein verstörender Film mit impressionistischen, beinahe surrealen Bildern, die rund um Leben, Tod und Trauer kreisen und nur schwer zu enträtseln sind. Ein Film, der lange nachwirkt und zu Diskussionen anregt.
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So brachte das erste Wochenende ein Füllhorn guter Filme, die vielfach in den nächsten Wochen starten und uns einen guten Frühling bescheren könnten. Danach kam dann nur noch Schneetreiben, Dauerfrost und ein zweitägiger Streik des ÖPNV. Da hätte man auch schon am Montag abreisen können.