Candelaria – Ein kubanischer Sommer

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Es war einmal ein armes, alterndes Ehepaar in Kuba, dessen Liebe und Leidenschaft im Laufe der Zeit ziemlich eingerostet war. Der schicksalhafte Fund einer Videokamera bringt plötzlich völlig neuen Schwung in das Leben des Duos. Spontan werden kleine Filmchen gedreht. Prompt erwacht der Liebeszauber und sorgt alsbald für „Wolke 9“-Gefühle, unmoralische Angebote inklusive. Mit ausgesprochen unaufgeregtem Tempo, fast minimalistisch und meditativ, zelebrieren zwei charismatisch sympathische Senioren, wie charmant das Medium Film für den dritten Frühling sorgen kann. Kubanisch für Fortgeschrittene. Nicht umsonst hört hier der Held von Havanna auf den hübschen Namen Victor Hugo!

Webseite: dcmworld.com

Kolumbien, Deutschland, Norwegen, Argentienien, Kuba 2017
Regie: Jhonny Hendrix Hinestroza
Darsteller: Alden Knight, Veronica Lynn, Manuel Viveros, Philipp Hochmair  
Filmlänge: 87 Minuten
Verleih: DCM 
Kinostart: 5. Juli 2018

FILMKRITIK:

„Anfang der 90er Jahre zerfällt die Sowjetunion. Durch eine Wirtschaftsblockade fehlt es in Kuba an Erdöl und Nahrungsmitteln. Es ist die dunkle Zeit der ‚Sonderperiode’“, gibt der Vorspann die Orientierung. Die 75-jährige Candelaria (Veronica Lynn) und ihr 76-jähriger Ehemann Victor Hugo (Alden Knight) kennen das karge Leben. Noch immer müssen beide arbeiten: er in einer Zigarrenfabrik, sie als Waschfrau im Hotel. Im herben Alltag ist den beiden die Liebe längst abhandengekommen. Dann bekommt der Beziehungsstatus durch einen Zufall plötzlich ein ziemliches Upgrade.
 
Aktuell gehört allein den 5 frisch geschlüpften (illegal besorgten!) Küken die ganze Liebe von Candelaria. Dann fällt ihr bei der Arbeit in der Wäschekammer des Touristenhotels zufällig eine Videokamera in die Hände. Die Seniorin ist begeistert von dem Fund und macht zuhause spontan erste Aufnahmen. Der Gatte reagiert gewohnt griesgrämig. Sie solle die Kamera gefälligst wieder zurückbringen, fordert er. Von einem, der seinerseits Zigarren am Arbeitsplatz stiehlt, will sich die frischgebackene Hobbyfilmerin freilich keine Moralpredigt anhören. Die Probleme lösen sich wie von selbst, als auch Victor die Vorzüge der Videokamera kennenlernt. Durch die Linse entdeckt er seine Frau mit ganz anderen Augen - was seiner Gattin ausgesprochen schmeichelt.
 
Gemeinsam entwickelt man die neu entdeckte Leidenschaft für den Film - und für einander. Bald turtelt das betagte Paar wie Frischverliebte. Selbst ein Kuss steht nach Ewigkeiten wieder auf dem Programm. Sogar Eifersucht flammt wieder auf! Während sie sich, mit gewissem Risiko, ein schönes rotes Kleid ausleiht, geht er in das berüchtigte Kaufhaus für Schwarzhändler, um eine Uhr zu verhökern und damit ein üppiges Menu zu organisieren - für die chronisch hungernden Senioren ein wahres Freudenfest.
 
Als Viktor die Kamera gestohlen wird und er sie im Hehler-Kaufhaus zurückkaufen möchte, erwartete ihn dort eine ganz besondere Überraschung. Ein unmoralisches Angebot, gewissermaßen. Ausgesprochen lukrativ - aber ob seine Candelaria dabei mitspielen wird?
 
Beim Tempo geht es der aus Kolumbien stammende Regisseur Jhonny Hendrix Hinestroza bewusst recht gelassen an. Die ersten fünf Minuten darf die Heldin einfach nur ihr Klagelied singen. Weitere zehn Minuten vergehen mit Geplänkel, bis die Story schließlich startet. Diese gemütliche Dramaturgie wirkt durchaus schlüssig, bekommt die Geschichte so doch genügend Raum zur Entfaltung und kann in Ruhe reifen. Wer einen Ausgleich zur hektischen Realität sucht, findet hier die perfekte Entschleunigung auf der Leinwand. Nicht nur jenen Szenen des Zeitungsvorlesers in der Zigarrenfabrik oder eines gemächlichen Fahrrad-Unfalls mit anschließender Reparatur wirken wie just aus einem Jim Jarmusch entsprungen
 
Mit gelungen lakonischem Witz ausgestattet verlaufen die Verkaufsszenen im Hehler-Kaufhaus von Havanna - als dessen skrupelloser Chef (wie surreal!) der österreichische „Vorstadtweiber“-Star Philipp Hochmair auftritt.
 
In Venedig gewann das gut gechillte Drama den Giornate degli Autori - und dürfte auch hierzulande allemal sein Publikum finden.
 
Dieter Oßwald