Carmine Street Guitars

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So unprätentiös wie ihr Titel ist auch der Ansatz von Ron Manns Dokumentation „Carmine Street Guitars“, ein Porträt der gleichnamigen Gitarren Manufaktur im New Yorker Greenwich Village. Seit Jahrzehnten baut Rick Kelly dort Gitarren aus Holz, das er am liebsten aus verfallenen New Yorker Häusern bekommt. Doch die Gentrifizierung könnte das Kleinod bald verdrängen.

Webseite: www.realfictionfilme.de

Dokumentation
USA 2018
Regie: Ron Mann
Buch: Len Blum
Länge: 81 Minuten
Verleih: Real Fiction
Kinostart: 29. August 2019

FILMKRITIK:

Fast alle Gitarren, die Rick Kelly herstellt folgen den klassischen, weichen Formen der Fender Telecaster, einer legendären Gitarre aus den 50er Jahren. Doch was Kellys Gitarren so besonders macht ist ihre Individualität. Jede Gitarre ist aus besonderem, einzigartigen Holz gebaut, das Kelly oft in verfallenen Häusern oder gar Abfallcontainern seiner Heimatstadt New York auftut.
 
Man könnte also sagen, dass die Gitarren von Rick Kelly ein Stück von New York in sich tragen und damit von all den Geschichten, Legenden und Menschen, die die amerikanische Ostküsten Metropole prägten. So eine Geschichte ist längst auch das Geschäft, das Kelly seit den 70er Jahren in der Carmine Street im Bohemian Viertel Greenwich Village betreibt.
 
Voll gestopft mit Gitarren und Zubehör ist Carmine Street Guitars ein Mekka für Musiker, von Amateuren bis Legenden, die oft ein Jahr auf eine Maßanfertigung warten. Im Laufe der gerade einmal 80 Minuten kurzen Dokumentation von Ron Mann geben sich bekannte Musiker die Klinke in die Hand. Sicher nicht zufällig sind sie alle in der einen Woche zu Besuch, die der Film vorgeblich beschreibt, auch wenn die Dreharbeiten fraglos länger gedauert haben. Ein wenig bemüht wirkt dieses Konstrukt in Momenten, doch spätestens wenn die Musiker eine von Kellys Gitarren in der Hand halten und die ersten Akkorde erklingen, ist jede Verkrampftheit vergessen.
 
Jamie Hince von den Kills schaut etwa vorbei und erzählt von seiner linken Hand, die nach einem Autounfall kaum noch funktionsfähig ist; Stewart Hurwood, Freund und Gitarren-Techniker von Lou Reed spielt Passagen aus dem Velvet Underground-Klassiker Venus in Furs und erinnert sich an die alle auf den gleichen Ton gestimmten Saiten, die Reed bevorzugte; oder Lenny Kaye, der in Patti Smiths Band spielt oder Charlie Sexton aus Bob Dylans Band oder oder oder…Aus filmischer Sicht bekanntester Besucher ist Jim Jarmusch, der mit Kelly über bevorzugte Holzarten fachsimpelt und seine akustische Gitarre von der Reparatur abholt. 
 
Neben Kelly arbeiten seine Mutter Dorothy im Geschäft, die auch mit ihren 93 Jahren noch die Büroarbeit erledigt, dazu die junge, wasserstoffblonde Cindy Hulej, die seit Jahren das Handwerk von Kelly lernt, vor allem aber Gitarrenkörper und -hälse mit aufwändigen Gravuren versieht, deren Photos auf Instagram für Aufsehen sorgen.
 
Doch die Idylle könnte in den nächsten Jahren verschwinden, denn wie so viele ähnliche kleine Geschäfte in New York und den meisten anderen Städten der Welt, sieht sich auch Carmine Street Guitars von der Gentrifizierung bedroht. Auch das New Yorker Greenwich Village verwandelt sich rapide, Häuser werden aufgekauft, ursprüngliche Geschäfte von Ketten verdrängt. Doch noch hält Rick Kelly die Stellung und baut unermüdlich weiter Gitarren, die seine prominente Kundschaft zu musikalischen Hochleistungen treiben. Sollte sein Geschäft einst verschwunden sein, werden die Gitarren bleiben - und nun auch Ron Manns entspannte, zurückgenommen Dokumentation.
 
Michael Meyns