Character One: Susan

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Autor und Regisseur Tim Lienhard widmet sich in seiner außergewöhnlichen Dokumentation „Character One: Susan“ der 51-jährigen Deutsch-Italienerin Susan, die dem Filmemacher über mehrere Tage und Wochen verteilt aus ihrem Leben erzählt. Das Endergebnis ist ein intimer Einblick in einen Alltag mit schizoaffektiver Störung.

Webseite: ucm.one/de/character-one-susan

DE 2018
Drehbuch und Regie: Tim Lienhard
Verleih: UCM.One
Länge 80 Min.
Start: 16. Januar 2020

FILMKRITIK:

Sie nennt sich selbst gestört, krank und beschreibt sich kurze Zeit später wiederum als Mischung aus Desiree Nick, Maria Callas und Romy Schneider. Mit derselben Offenheit schildert die Protagonistin in Tim Lienhards Dokumentation von dem sexuellen Missbrauch, den sie als 11-jähriges Mädchen erleben musste und ihren sexuellen Vorlieben, die sie heute, im Alter von 51 besitzt. Zwischendurch weist sie immer wieder selbst darauf hin, dass sie unter einer schizoaffektiven Störung leidet. Sie, das ist Susan. Susan ist Halb-Italienerin und lebt in Berlin. Ihre zweite Heimat ist die italienische Küste. Freunde hat sie nicht viele, zu viele wiederum hat sie mit ihrer emotionalen Lebensgeschichte verschreckt. Frauen, sagt sie, können mit ihr nicht umgehen. Es sei denn, sie haben „was auf dem Kasten“, wie ihre Therapeutin oder Anwältin. „Character One: Susan“ ist ein authentisches Dokumentarfilmprojekt von Idependent-Filmer Tim Lienhard, das Anfang 2020 in einige ausgewählte Kinos kommt.

Als im Jahr 2016 der Film „Mängelexemplar“ über eine depressive Mittzwanzigerin in die deutschen Kinos kam, las man in deutschen Kritikern immer mal wieder etwas davon, dass die schwierige Hauptfigur den Film unbequem mache; nicht bedenkend, dass genau das ja eben der Kern der Geschichte ist. Psychisch labile respektive psychisch kranke Personen machen es ihrem Umfeld so schwer wie möglich, weshalb Statistiken belegen, dass sich der Freundeskreis ausdünnt, sofern man sein Umfeld mit einer Diagnose konfrontiert. Der Vergleich zwischen Laura Lackmanns „Mängelexemplar“ und Tim Lienhards „Character One: Susan“ liegt auf der Hand: Wenngleich nicht fiktional, sondern dokumentarisch steht auch in diesem Film ein auf den ersten Blick fast schon provokant anstrengender Mensch im Mittelpunkt. Die 51-jährige, für ihr Alter und die sich sukzessive offenbarende Lebensgeschichte, inklusive jahrzehntelangem Drogenkonsum, noch bemerkenswert jung aussehende Susan gibt sich vor der Kamera bemerkenswert offen, nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn sie von Sex, vom Rausch, Missbrauch und eben auch ihren psychischen Krankheiten erzählt.

Dabei gibt sie sich bisweilen als Dampfplauderin, will plötzlich mitten im Gespräch eine neue Perücke aufsetzen, weil sie plötzlich feststellt, dass diese besser zu ihr passt. Sie erzählt sprunghaft, wie viele ihrer Geschichten wahr oder eventuell erfunden sind, erfährt man nie. Eine von ihr in Cannes verbrachte Phase offenbart ein Leben im Reichtum – sie habe sogar angeblich in der Präsidentensuite gewohnt, in der sonst nur Hollywoodstars wie Sylvester Stallone absteigen. Auch ihre Erzählungen vom Drogenschmuggel über die italienische Grenze wirken zwar so leidenschaftlich vorgetragen, dass man sie sich vor dem eigenen Auge vorstellen kann. Doch wie zuverlässig Susan als Erzählerin ist, das weiß man bis zuletzt nie. Und genau das ist der Reiz an „Character One: Susan“, schließlich geht es hier in erster Linie darum, wie es ist, mit dem Krankheitsbild Schizoaffektive Störung zu leben.

Unter einer schizoaffektiven Störung versteht man eine psychische Erkrankung, die mehrere Symptome umfasst: Betroffene leiden mitunter unter Schizophrenie sowie an Symptomen einer bipolaren Störung. Hinzu kommen depressive sowie manische Phasen. Und wird es besonders schlimm, tritt alles zur selben Zeit auf. Es kann zu Wahnvorstellungen sowie Halluzinationen führen. Susan sagt im Film selbst, dass sie einige Ereignisse wie etwa den Missbrauch rückwirkend nicht mehr genau nachempfinden kann – eine Art Schutzmechanismus des Gehirns. Wie viel von ihren mutmaßlichen Erinnerungen also der Wahrheit entsprechen und welche sie infolge ihres Krankheitsbildes gar nicht erlebt, sondern sich nur eingebildet hat, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Genauso wenig, ob vielleicht doch alles genau so passiert ist wie hier geschildert.

Tim Lienhard nutzt für seinen Film vor allem Aufnahmen, die seine Hauptfigur in ihren Hochphasen zeigen. Susan redet und redet, zeigt sich als gleichermaßen exzentrische wie extrovertierte Frau. Von den depressiven, traurigen Phasen bekommt man nicht einmal dann etwas mit, wenn es der Inhalt des Gesagten eigentlich hergeben würde. Auch die Postproduktion passt sich dem an. Die Kamerabilder wirken oft überbeleuchtet, die Kontraste und Farben bis zum Anschlag aufgezogen. Was genau das unterstreichen soll, bleibt fraglich. Inszenatorisch ist „Character One: Susan“ nicht vollends geglückt, sondern wirkt mit seinen vielen Farbspielereien vielmehr wie gewollt, aber nicht gekonnt. Wann immer Lienhard die Bühne komplett seiner Hauptfigur überlässt, sind es ihre Geschichten, die den Film vollends allein tragen. Man hätte Susan vermutlich auch vor eine schwarze Wand setzen und sie einfach erzählen lassen können – es hätte ihrem Schicksal nichts an emotionaler Wucht geraubt. Ganz gleich ob sie nun wirklich eine Drogenschmugglerin, eine Zuhälterin und ein Drogenopfer war, oder nicht.

Antje Wessels