Der Klavierspieler vom Gare du Nord

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Im jungen Erwachsenen Mathieu schlummert ein Talent. Immer wieder setzt er sich an ein öffentliches Piano in der Halle des Pariser Nordbahnhofs und spielt gedankenversunken und in großer Perfektion klassische Musik. Als Kind der Vorstadt ist ihm diese Gabe vor seinen teils kriminellen Freunden jedoch peinlich. Die zufällige Begegnung mit dem Leiter eines Musikkonservatoriums könnte nun die Chance für Mathieu auf eine Musikerkarriere sein, um etwas Vernünftiges aus seinem Leben zu machen. Ob er reüssiert, ist nicht immer gewiss – bis zu einem gewissen Grad aber zu erahnen. Die konventionell erzählte Geschichte punktet mit einem starken Hauptdarstellertrio, vor allem aber mit der Sogkraft der Musik.

Webseite: www.neuevisionen.de

OT: Au bout des doigts
Frankreich 2018
Regie: Ludovic Bernard
Darsteller: Jules Benchetrit, Lambert Wilson, Kristin Scott Thomas, Karidja Touré
Länge: 106 Minuten
Verleih: Neue Visionen
Kinostart: 20.6.2019

FILMKRITIK:

Verboten ist es nicht, auf dem inmitten der Ankunftshalle des Pariser Kopfbahnhofs Gare du Nord stehenden Klavier zu spielen. Es ist sogar ausdrücklich erwünscht. Trotzdem nimmt der talentierte Mathieu Malinski (Jules Benchetrit) beim Anblick von zwei Polizisten die Beine in die Hand. Als er dies ein zweites Mal tut, weiß man als Zuschauer im Unterschied zu Pierre Geitner (Lambert Wilson), dem Leiter des Pariser Musikkonservatoriums, allerdings schon, warum. Geitner, dessen Position in der musikalischen Ausbildungsstätte mit einem Fragezeichen versehen ist, hofft darauf, dass Mathieu endlich jenes Talent sein könnte, das bei einem renommierten Klavierwettbewerb den Ruf der Schule würdig vertritt. Dazu aber sind letztlich noch einige Übungsstunden nötig – und muss der aus schwierigen sozialen Verhältnissen stammende Mathieu sich entscheiden, ob er diesen Weg tatsächlich auch gehen will. Er begegnet dabei einem Fräulein, das ihm gefällt, und einer anderen Dame, die ihn triezt. Und er wird konfrontiert mit einer Vergangenheit, die ihn daran erinnert, dass ihn die Musik schon als Kind faszinierte, bevor sein Leben eine andere Wendung nahm.

Schon diese kurze Umschreibung der Handlung macht deutlich: hier folgt ein Filmemacher einer Geschichte, in der Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten aufeinandertreffen, scheinbar Unmögliches unter Zeitdruck zu beweisen ist und die ein oder andere Schwierigkeit aus dem Weg geräumt gehört. Ganz ähnlich hat sich das vor noch nicht allzu langer Zeit erst in einem anderen französischen Drama abgespielt, nur wusste die Hauptprotagonistin in Yvan Attals „Die brillante Mademoiselle Neila“ sehr gut um ihre Fähigkeiten und Karrieremöglichkeiten, während Mathieu offenbar keinen Schimmer davon hat, mit einem absoluten Gehör gesegnet zu sein und davor zurückschreckt, nun einem Kindheitstraum zu folgen.

Sucht man nach anderen Vergleichen, fallen einem eine ganze Reihe weiterer Filme ein, in denen das Zusammentreffen von Talent, Mentoren und harter Arbeit zu einer unterhaltsamen Geschichte über junge Menschen, deren Lebensweg ohne eine zufällige Begegnung vermutlich in einer Sackgasse geendet hätte, verquirlt wurden (u.a. „Billy Elliott“, „Good Will Hunting“). Eine wichtige Rolle im „Klavierspieler“-Drama spielt die Musik selbst, die sensibel die unterschiedlichen emotionalen Aggregatszustände und Situationen zu verdeutlichen weiß. Allerdings wird im Falle des impulsiven Mathieus nur angedeutet, woher sein Gefühlschaos tatsächlich rührt und warum es ihn gegenüber seiner Lebenschance so misstrauisch macht.

Der für Regie und Drehbuch verantwortliche Ludovic Bernard (es ist sein dritter Spielfilm) erfindet das Rad im Fall seines Klavierspielers nicht neu, kann aber auf ein starkes Hauptdarstellertrio zählen. Lambert Wilson steht als Leiter des Konservatoriums selbst an einem privaten wie beruflichen Scheideweg, Kristin Scott Thomas verschmilzt mit der Rolle der elitären Klavierlehrerin geradezu. Neben ihnen agiert der 1998 geborene Jules Benchetrit, Sohn der 2003 auf tragische Weise ums Leben gekommenen Marie Trintignant und des Schauspielers und Schriftstellers Samuel Benchetrit. In der konventionell inszenierten Geschichte mag vieles klischeehaft sein, bekannten Mechanismen folgen und zum Ende hin eine wenig plausible Hatz durch das abendliche Paris stehen – der Sogkraft der Musik kann man sich ebenso wenig entziehen wie der Botschaft, dass es noch nie geschadet hat, seinem Glück und seinen Träumen zu folgen, wenn sich dazu die Chance bietet.

Thomas Volkmann