Der Spitzenkandidat

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Zurücktreten? Wegen einer Affäre? Auf so ein Ansinnen würde Donald Trump wahrscheinlich mit amüsiertem Unverständnis reagieren. Und doch ist es schon mal vorgekommen: 1987 trat der demokratische Präsidentschaftskandidat Gary Hart zurück, weil ihn Journalisten mit einer langbeinigen Blondine gesehen hatten. Regisseur Jason Reitman („Juno“) greift diesen Fall nun auf – im Stil eines Wahlkampfthrillers, der einem Robert Altman alle Ehre machte. In der Hauptrolle: Hugh Jackman.

Webseite: www.derspitzenkandidat.de

The Front Runner
USA 2018
Regie: Jason Reitman
Darsteller: Hugh Jackman, Vera Farmiga, J. K. Simmons
Länge: 113 Min.
Verleih: Sony
Kinostart: 17.1.2019

FILMKRITIK:

Es hat einmal eine Zeit gegeben, da brachte eine außereheliche Affäre einen Politiker in den USA zu Fall. Man muss diese Tatsache ein wenig im Hinterkopf behalten, wenn man den neuen Film von Jason Reitman, zuletzt mit „Tully“ in unseren Kinos, schaut. Denn heutzutage kann man auch Präsident der Vereinigten Staaten werden, wenn man Frauen belästigt und sich mit Pornostars einlässt.
 
In Deutschland kennt man ihn kaum, und doch hätte dieser Mann Geschichte schreiben können: Gary Hart, Spitzenkandidat der Demokraten für die Präsidentschaftswahl 1988 und aufgrund seiner Intelligenz und Eloquenz großer Hoffnungsträger junger Wähler. Doch ein Sex-Skandal zwang ihn zum Rücktritt - Harts Stern strahlte nur drei Wochen, dann war er gezwungen abzudanken, der kürzlich verstorbene George Bush wurde statt seiner Präsident. Wäre Hart in den Golfkrieg gezogen?
 
Der Autor Matt Bai verarbeitete diesen Skandal in seinem Buch “All the Truth Is Out: The Week Politics Went Tabloid” und schrieb zusammen mit Reitman und Jay Carson auch am Drehbuch mit. Nach einem kurzen Prolog im Jahr 1984 - Hart verliert beim Parteitag der Demokraten die Nominierung an Walter Mondale - springt der Film ins Jahr 1987. Hart, dargestellt von Hugh Jackman, der mit eigenwilliger Perücke etwas unvorteilhaft aussieht, tritt erneut an, und die Menschen vertrauen ihm. Er ist fortschrittlich, hat überzeugende Argumente, will die richtigen Dinge. Doch dann passiert’s: Hart folgt der Einladung eines Freundes auf eine Yacht mit dem schlüpfrigen Namen „Monkey Business“. Er erliegt dem Charme einer langbeinigen Blondine namens Donna Rice und trifft sich gelegentlich mit ihr. Reporter mehrerer Zeitschriften gehen den Gerüchten nach und belagern Harts Dienstwohnung in Washington, stellen ihn sogar mitten in der Nacht im Hinterhof und bombardieren ihn mit Fragen. Hart reagiert mit Unverständnis: Was geht andere sein Privatleben an? Doch dann ist die Schlagzeile draußen, der Präsidentschaftskandidat geht offensichtlich fremd. Harts Frau Lee (Vera Farmiga) ist geschockt, seine Mitarbeiter können die Berichterstattung nicht verhindern. Ein junger, aufstrebender Reporter der Washington Post, der eigentlich noch einen traditionellen Sinn für die Integrität der Medien hat, will sich die große Geschichte ebenfalls nicht entgehen lassen. Zu groß ist der Druck der Chefredakteure.
 
Reitman verfolgt den Wahlkampf im Stil eines Robert Altman („Tanner 88“) und eines Franklin Schaffner („The Best Man“), auch George Clooneys „Die Iden des März“ könnte Pate gestanden haben. Er beobachtet Mitarbeiter, Journalisten, Unterstützer, Gegner, Familienmitglieder, es wird energisch diskutiert, Dialoge überlappen sich. Trotzdem vereint der Regisseur die unterschiedlichen Schnappschüsse zu einem stimmigen Ganzen. Interessant: Zum ersten Mal verschmelzen Boulevardjournalismus und politische Berichterstattung, mit verheerenden Folgen, die auch die Brücke zu heute schlagen: Solch ein intelligenter und idealistischer Mann wie Hart sitzt heute eben nicht im Weißen Haus.
 
Michael Ranze