Die Lebenden reparieren

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Das Organspende-Drama der Regisseurin Katell Quillévéré, nach dem gleichnamigen, gefeierten Roman, wirft einen Blick auf ein heikles Thema. Im Mittelpunkt steht die moderne Transplantationsmedizin. Die Reise eines Spenderherzens verfolgt die 37jährige akribisch, bis hin zum chirurgisch präzisen Aufschneiden des Körpers im Operationssaal. Die damit verknüpften Schicksale, Beziehungen und Konflikte treten freilich durch derart, spektakuläre Szenen zeitweise in den Hintergrund. Ihr ergreifendes Protokoll eines viel zu frühen Todes wirkt dadurch streckenweise fast wie ein verfilmter Arztroman. Die Wucht der Verzweiflung auf der einen und Hoffnung auf der anderen Seite berührt trotzdem. Vor allem durch das exzellente Spiel der weiblichen Hauptdarstellerinnen Emanuelle Seigner und Anne Dorval.

Webseite: www.wildbunch-germany.de

Frankreich, Belgien 2016
Regie: Katell Quillévéré
Drehbuch: Maylis De Kerangal, Katell Quillévéré, Gilles Taurand
Darsteller: Tahar Rahim, Emmanuelle Seigner, Anne Dorval, Bouli Lanners, Kool Shen, Monia Chokri, Alice Taglioni, Karim Leklou, Alice de Lencquesaint, Finnegan Oldfield, Théo Cholbi, Gabin Verdet, Galatéa Bellugi, Dominique Blanc.
Länge: 103 Minuten
Verleih: Wild Bunch Germany / Central
Kinostart: 7 Dezember 2017

FILMKRITIK:

Simon (Gabin Verdet) stiehlt sich im Morgengrauen aus dem Bett seiner schlafenden Freundin.  Der 17-jährige bricht mit seinen Kumpeln zum Surfen  im eiskalten Atlantik auf. Fasziniert von der unbändigen Kraft der Wellen wirft er sich unbeschwert in die Fluten an der französischen Steilküste. Erschöpft sitzt der leidenschaftliche Wellenreiter danach im Auto. Unterkühlt, aber glücklich schläft er an der Schulter seines Freundes ein, um nicht wieder aufzuwachen. Ihr Minibus überschlägt sich auf der glatten Fahrbahn. Die beiden anderen Jungs überleben, weil sie angeschnallt waren.

Simon dagegen liegt wenige Stunden später im Krankenhaus von Le Havre im Koma. Pierre Revol (Bouli Lanners) der Stationsarzt muss Simons Mutter Marianne (Emmanuelle Seigner) den Hirntod ihres Sohnes mitteilen. Ein Irrtum, denkt sie, gleich wird er die Augen aufschlagen, lächeln, von der perfekten Welle erzählen, die er an diesem Morgen kurz nach fünf geritten hat. Verzweifelt versucht sie Simons Vater Vincent (Kool Shen), von dem sie getrennt lebt, zu erreichen.

Für die Ärzte, Pfleger und Krankenschwester freilich ist der Leichnam, in dem noch ein Herz schlägt, ein Glücksfall. Denn in Paris leidet die 50jährige Musikerin Claire (Anne Dorval) an einer degenerativen Herzkrankheit. Viel Zeit bleibt ihr nicht mehr. Zwischen Angst und Hoffnung wartet sie auf den Moment, in dem ein Spenderherz ihr die lebensrettende Operation ermöglicht. Ihre beiden erwachsenen Söhne versuchen ihr beizustehen. Dass der Jüngere (Théo Cholbi), den sie besonders liebt, sein Studium abgebrochen hat, weiß sie nicht.

Schon fast kraftlos versucht sie ihr Verhältnis mit ihrer ehemaligen Partnerin Anne (Alice Taglioni) zu klären. Inzwischen läuft den Ärzten in den beiden Städten die Zeit davon. Ein gemeinsamer Kampf  rund um die Uhr bahnt sich an. Drei scheinbar zusammenhangslose Schicksale verknüpfen sich auf untrennbare Weise. Moralische und persönliche Konflikte brechen auf.  Dabei müssen Simons Eltern eine schwere Entscheidung treffen. Sein Herz soll ein anderes Leben retten.

Stimmig erfasst das bewegende Organspende-Drama der Regisseurin Katell Quillévéré als  ergreifendes Protokoll eines viel zu frühen Todes ein Panorama an Lebens- und Arbeitswelten. Etwa wie die Verwalterin der nationalen Organ-Datenbank die Listen durchgeht, Blutgruppen vergleicht, Transportzeiten berechnet. Gleichzeitig fordert die filmische Reise in jene Schattenwelt zwischen Herztod und Hirntod, jener Zeit, in der das Leben noch nicht endgültig weg und der Tod noch nicht endgültig da ist, den Zuschauer. Das komplexe und emotional stark aufgeladene Thema Organtransplantation ist nicht einfach zu verkraften.

Vor allem, wenn der Countdown bis zum endgültigen Abschalten eines Menschen und dem Einsetzen seines Herzens in einen anderen derart akribisch, bis hin zum chirurgisch präzisen Aufschneiden des Körpers im Operationssaal, gezeigt wird. Beunruhigend wirkt auch, wenn der sensible Pfleger Thomas (Tahar Rahim) alles stoppt, um dem hirntoten Simon ins Ohr zu flüstern, dass seine Eltern und seine Freundin an ihn denken, ihm Kopfhörer in die Ohren stöpselt, den MP3-Player anmacht, wie er es den  Eltern versprochen hat, und Meeresrauschen ertönt. Eine Geste, die zeigen soll, dass hier keine herzlose Gerätemedizin am Werk ist. Aber im ersten Moment weckt sie eher Zweifel. Schließlich gilt das Herz in der Romantik als Sitz der Seele, der Liebe und des Leids.

Luitgard Koch