Ein deutsches Leben – A German Live

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Sie war die Sekretärin von NS-Propagandaminister Joseph Goebbels und eine der letzten Zeitzeuginnen, die aus dem Machtzentrum des Nazi-Regimes berichten konnten. Mit 103 Jahren hat sich Brunhilde Pomsel der Kamera gestellt. Mit wachem Verstand erzählt die betagte Dame von damals. Redet über ihren Chef und ihr Wissen über die Existenz von KZs. Über die Frage von Schuld. Und die Unfähigkeit zum Widerstand. Kontrastiert werden die Interview-Passagen durch Archiv-Material: Von Ausschnitten aus Nazi-Propaganda-Werken bis zu Bildern der Befreiung der Konzentrationslager.  Als „Warnung an die heutige und künftige Generationen“ wollte Pomsel ihre Lebenserinnerungen verstanden wissen. Die überaus gelungene, zu Diskussionen über Moral und Menschlichkeit anregende Doku ist zugleich ihr letztes Zeugnis. Am 27. Januar 2017 ist Pomsel im Alter von 106 Jahren verstorben. Ihr Vermächtnis könnte lauten: „Make Verantwortung great again“.

Webseite: www.eindeutschesleben.de

Ö / D 2016
Regie: Christian Krönes, Olaf S. Müller, Roland Schrotthofer, Florian Weigensamer
Darsteller: Brunhilde Pomsel
Filmlänge: 113 Minuten
Verleih: Edition Salzgeber
Kinostart: 6. April 2017

FILMKRITIK:

„Nein. Ich würde mich nicht als schuldig betrachten“, sagt die alte Dame mit fester Stimme. 103 Jahre ist Brunhilde Pomsel alt, als die vor die Kamera tritt, um aus ihrem Leben zu erzählen. Sie war einst die schnellste Stenotypistin beim Rundfunk. 1942 kam sie in das Büro von Joseph Goebbels. Dem Propagandaminister blieb sie treu zu Diensten, bis zum Untergang. Im Führerbunker erlebte Pomsel den Selbstmord von Hitler und Goebbels. „Das Böse gibt es!“, zieht die Sekretärin Bilanz.
 
Das Gesicht ist unglaublich faltig. In kontrastreichem Schwarz-Weiß und in Großaufnahmen inszeniert, wirkt es fast surreal wie eine Landschaft. Es ist das Antlitz einer über Hundertjährigen, die im Machtzentrum der NS-Diktatur ihre Arbeit tat. Insgesamt 30 Stunden lang erzählte Brunhilde Pomsel vor der Kamera einem vierköpfigen Regieteam aus ihrem Leben. 13 Tage wurde in einem Studio gedreht, die alte Dame mit dezenter grauer Bluse und schlichter Halskette stets nur vor schwarzem Hintergrund. Das minimalistische Ambiente sorgt für die notwendig nüchterne Atmosphäre. Zwischen die Interview-Blöcke der Erinnerung freilich schleicht sich das Grauen ein mit realen Archivbildern. Erst fast harmlos, mit Ausschnitten aus Propaganda-Filmen und Wochenschauen. Dann erschütternd, mit Bildern der Befreiung der Konzentrationslager durch die Alliierten. Das zum Teil neu erschlossene Archivmaterial stammt unter anderem aus dem US Holocaust Memorial Museum sowie dem Steven Spielberg Film and Video Archive. Darunter findet sich auch der bislang unveröffentlichte NS-Film „Geheime Kommandosache“.
 
„Über Goebbels kann man nur sagen: Er war ein ausgezeichneter Schauspieler“, sagt seine damalige Sekretärin. Bei dessen berühmt berüchtigter Rede im Sportpalast sei plötzlich ein „tobender Zwerg“ aus dem sonst so vornehmen Mensch geworden, der im Büro nur ein einziges Mal gebrüllt habe. Ein gutaussehender Mann, gepflegte Hände und immer leicht gebräunt, beschreibt sie ihn: „Alles an ihm war makellos, Er tat mir nur ein wenig leid weil er humpelte.“
 
Mitleid mit einem Monster? Einem der größten Verbrecher der Geschichte? Verblendung? Faszination der Macht? Ganz so einfach kann man es sich nicht machen mit einem Urteil! Pomsel war das, was man eine unpolitische Mitläuferin nennt. Streng erzogen, stets pflichtbewusst. Der berufliche Aufstieg ging ihr über alles, ansonsten schaute sie lieber weg. „Dort zu arbeiten war nett. Alles angenehm. Freundliche Menschen“, sagt sie über ihre Stelle, die zudem üppig bezahlt wurde. Jemand, der so dicht im Zentrum der Macht arbeitet, soll von den Schrecken dieses Regimes nichts mitbekommen haben? Als ein beliebter Redakteur wegen seiner Homosexualität ins KZ kam, „wollte man das gar nicht wissen“, sagt Pomsel. „Das ganze Land war wie unter einer Glocke. Wir waren selber alle in einem riesigen Konzentrationslager. Das alles soll aber nichts entschuldigen.“ Das ganze Ausmaß der Verbrechen, „die Judengeschichte“ wie sie es nennt, sei ihr erst nach dem Krieg deutlich geworden. Da decken sich ihre Aussagen mit jenen Darstellungen der Hitler-Sekretärin Traudl Junge oder dessen Leibwächter Rochus Misch.
 
Mit diesem Prinzip Verdrängung funktioniert Opportunismus und Mitläufertum. Nicht nur bei einer kleinen Sekretärin, sondern einem ganzen Volk. „Das war mein Schicksal. Wer hat sein Schicksal in der Hand? Es geschah mit uns“, blickt Pomsel zurück. Und weiß gleichzeitig um ihre Schuld:
„Ich denke, dass ich viel in meinem Leben falsch gemacht habe“, räumt sie ein. „Ich könnte keinen Widerstand leisten. Ich würde mich das nicht trauen. Ich gehöre zu den Feiglingen.“
 
Diese bestechende Ehrlichkeit der alten Dame ist beeindruckend und provokativ zugleich. Wie hätte man denn damals selbst gehandelt? Und: Wie steht es heute um die persönliche Verantwortung im aktuellen Zeitgeschehen? Gut, wenn eine Doku solche Fragen implizit und ohne Pathos oder belehrenden Zeigefinger stellt. Vielleicht heißt bei manchen danach umso mehr eine erste Antwort: „Make Verantwortung great again!“.
 
Dieter Oßwald