Shut Up and Play the Piano

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Chilly Gonzales ist ein echtes Multitalent: Musiker, Komiker und Entertainer. Philipp Jedicke zeigt ihn als unruhigen Geist, dessen Experimentierfreude nur noch von seiner Kreativität übertroffen wird, als Vollblutkünstler, der viele Rollen spielt und alles andere als authentisch sein will. Auch wenn das Biopic fast nur von seiner musikalischen Karriere erzählt und wenig über Chilly Gonzales‘ Privatleben, ist die unterhaltsame Dokumentation sehenswert, vor allem für Musikinteressierte.

Webseite: http://rapideyemovies.de/

Deutschland/Großbritannien 2018
Dokumentarfilm, OmU
Regie und Buch: Philipp Jedicke
Kamera: Marcus Winterbauer, Marcel Kolvenbach
82 Minuten
Verleih: Rapid Eye Movies
Kinostart: 20. September 2018
 

FILMKRITIK:

Während die meisten Künstler großen Wert darauf legen, sich auf der Bühne und privat möglichst authentisch zu präsentieren, ist Chilly Gonzales ein Meister der Verstellung. Sein Bühnen-Ich und sein privates Selbst scheinen dabei immer in dieselbe Richtung zu weisen: Mit viel Ironie gibt er den größenwahnsinnigen Künstler, der gern mal in Bademantel und Filzpantoffeln klassisches Piano spielt oder sich beim Crowdsurfing von seinem Publikum durch den Saal tragen lässt. Philipp Jedicke lässt den Künstler oft selbst sprechen – ein Interview mit der Schweizer Autorin Sibylle Berg läuft als roter Faden durch den Film, aber er zeigt auch eine Unmenge von Archivmaterial: Konzertaufnahmen, Video-Clips und private Fotos. Daneben kommen vor allem seine beiden Kolleginnen Peaches und Leslie Feist zu Wort, während Chilly Gonzales‘ Bruder, der bekannte Filmkomponist Christophe Beck (u. a. RED ARMY, DIE EISKÖNIGIN – VÖLLIG UNVERFROREN), lediglich auf Fotos präsent ist. Chilly Gonzales hat es nicht so mit dem Persönlichen, Privaten, so scheint es. Zwar gibt es ein paar Kinderfotos und ein paar eingefügte Spielszenen, die einen jungen Chilly Gonzales, damals noch Jason Beck, am Klavier zeigen, aber Philipp Jedickes Biopic ist eigentlich ein CV-Pic: Es erzählt zu ca. 98 Prozent von seiner musikalischen Karriere und überlässt es dem Publikum, sich aus den wenigen Informationen über sein Privatleben einen eigenen Reim zu machen. Das hat viel mit Psychologie zu tun, einige Interpretationen bieten sich hier geradezu an, aber ein Chilly Gonzales lässt sich nicht so leicht durchschauen.

Der Künstler Chilly Gonzales erweist sich im Verlauf des Films immer mehr als schillernde Persönlichkeit, die den Wandel zur einzigen Konstante im Leben ernannt hat. Offenbar ist er ein blitzgescheiter, hochintelligenter Mann, der seinen schnell unterbeschäftigten Verstand dauernd füttern muss. Philipp Jedicke zeigt chronologisch die musikalischen Anfänge in Montreal, noch gemeinsam mit dem Bruder, dann die ersten Gehversuche als Bandleader von THE SHIT, wo er schon mit Peaches und Leslie Feist zusammenarbeitete, gefolgt von der Übersiedlung gemeinsam mit Freundin/Kollegin Peaches nach Berlin. Hier wurden Chilly Gonzales und Peaches zu Idolen der Nachwende-Underground-Bewegung. Eine eindeutige musikalische Richtung ist kaum erkennbar, vielleicht passt „Spaßpunk“? Da treffen sich Jazz, Rap, Electro, Klassik, Punk – alles gemischt mit Komik, Selbstironie und einer überbordenden, mitreißenden Bühnenpräsenz. Irgendwann gibt es dann einen radikalen Schnitt. Die Vermutung liegt nahe, dass das wilde Berliner Leben den Künstler Gonzo an seine Grenzen und darüber hinaus führte. Paris wird die nächste Station. Hier nimmt Chilly Gonzales ein vielbeachtetes Album mit Eigenkompositionen auf. SOLO PIANO wird 2004 zum Neubeginn seiner Karriere, die ihn nun statt in die Clubs in die Konzertsäle führt, wo er gern mal ein ganzes Sinfonieorchester aufmischt oder die klassisch braven Musikerkollegen mit unerwarteten Improvisationen verblüfft.

Im Film deutlich zu erkennen ist Philipp Jedickes Absicht, das spielerische Element im Werk des Chilly Gonzales aufzugreifen und visuell umzusetzen. Das Tempo ist zügig bis rasant, erst in Paris gibt es etwas mehr Ruhe. Manchmal geht es ziemlich wild zu, der Film mischt reale und fiktive Bilder, Videoschnipsel und Konzertaufnahmen zu einer farbenfrohen Melange, die nur selten beliebig wirkt. Als Ruhepol fungiert dabei das Interview mit Sibylle Berg, die ihre Fragen mit so viel Zurückhaltung stellt, dass sie beinahe spröde wirkt. Vielleicht will sie auf diese Weise versuchen, den Unruhegeist Chilly Gonzales auf Spur und im Zaum zu halten? Vielleicht soll aber auch dieses Interview eine Art Parodie darstellen … Chilly Gonzales jedenfalls ist in der Wahl seiner Mittel wenig zimperlich. Wenn es um die Musik und seine Kunst geht, wirft er gern mit der Wurst nach der Speckseite, er ist eine gottbegnadete Rampensau und nimmt sich in seinem Interview sehr zusammen, was tatsächlich beinahe ein bisschen schade ist. Seine Bühnenpersönlichkeit kann ansonsten durchaus mit seinem musikalischen Talent mithalten und übertrifft es vielleicht sogar. Er ist Entertainer, Clown und Musiker zugleich, aber in erster Linie geht es ihm um die Musik, und so ist dieser Film nicht nur ein buntes visuelles Spektakel, sondern auch ein Hörgenuss. Chilly Gonzales ironisiert sich dabei selbst stets und ständig, und ob er jemals ernsthaft wird, bleibt sein Geheimnis. Das ist manchmal ein bisschen anstrengend, aber der Künstler bleibt dennoch sympathisch. Und auch wenn er es sich zu Beginn wünscht, wird ihn wohl nach diesem Film niemand hassen, sondern es ist davon auszugehen, dass ihm alle Herzen zufliegen.

Gaby Sikorski