Elternschule – Ein Erfahrungsbericht

ELTERNSCHULE – Ein Erfahrungsbericht aus dem Kino

Ein Phänomen beschäftigt gerade viele engagierte Kinos: Der Film „ELTERNSCHULE“ dokumentiert die Arbeit mit verhaltensgestörten Kindern/Familien an der Psychosomatischen Klinik Gelsenkirchen – eigentlich ein guter Film für diverse Sondervorstellungen für ein engagiertes (Fach-)Publikum. Dieser Film aber ist in den letzten Wochen zu einem Medienereignis geworden – der „umstrittene“ Film werde im Internet diskutiert, heißt es zum Teil. Was mehr als verharmlosend ist: der Film ist nicht umstritten, er bekommt schlileßlich durchweg gute Filmkritiken, er wird „angefeindet“.

Was man meist nur in Nachrichten las und hörte, dass „Shitstorms“ gegen Politiker oder Prominente im Internet losgingen – hier hat es nun einen engagierten Film getroffen, und die Macher, Beteiligten und der Verleih wissen gar nicht, wie ihnen geschieht. Der Film zeige „Folter an Kindern“, propagiere „Dressur“ von Kindern, zeige Aufnahmen, wie Kindern „Gewalt“ angetan werde, wie man sie hilflos schreien und in hochgezogenen Gitterbetten in der nächtlichen Dunkelheit allein lassen würde.

Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG hat mittlerweile dazu recherchiert und in einem abgewogenen Kommentar erläutert, dass die Wurzeln dieser Proteste aus einer evangelikalen Richtung kommen. Aber im Internet scheinen viele Mitmenschen ihren Verstand zu verlieren und lassen ihren Vorurteilen hemmungslos freien Lauf. Hasskommentare verbreiten sich in Windeseile, Urteile werden übernommen ohne jegliche Kenntnis, rein aufgrund einzelner Bilder aus dem Trailer – und so ist es dazu gekommen, dass mittlerweile rund doppelt so viele Internetuser dafür sind, den Film zu verbieten, als ihn überhaupt Menschen gesehen haben! Die Filmemacher haben ihre Facebook-Seite aus dem Netz genommen, weil tausende Hasskommentare nicht mehr zu moderieren waren, und der Verleih hat aktuell die Kinotour mit dem Protagonisten des Films, Dipl.-Psychologe Dietmar Langer, eingestellt – kapituliert wäre das richtigere Wort, aber man kann alle Beteiligten mehr als verstehen. Denn mittlerweile ist die Kampagne so weit gegangen, dass einzelne „Aktivisten“ der Kinotour hinterher gefahren und die Vorstellungen gestört und Dietmar Langer nicht nur verbal, sondern auch körperlich angegangen sind.

Wir im Cinema-Arthouse Osnabrück waren als erste betroffen von der Absage von Dietmar Langer. Wir haben die Sondervorstellung natürlich trotzdem durchgeführt – und mehr als positive Erfahrungen gemacht.
Aber von vorne…

Unsere lang angekündigte Vorstellung („…wird Dipl.-Psychologe Dietmar Langer zum anschließenden Filmgespräch anwesend sein“) scheint gut besucht zu werden – wir tauschen hoch von einem mittleren Saal in einen etwas größeren. Dann auf einmal kommen Emails bei uns an, der Film zeige „wie Kindern Gewalt angetan werde“, wir müssten „den Film aus dem Programm nehmen, zumindest weitere Gäste zur Diskussion einladen, die das klar stellten können“ etc. – Mails u.a. sogar von einer Fraueninitiative, mit der wir schon bei „Die sichere Geburt“ gut zusammengearbeitet hatten. Wir fragen nach: Haben Sie denn den Film schon gesehen, dass sie so über ihn urteilen können? Wir verweisen auf den mittlerweile erschienenen SZ-Kommentar, der alles widerlegt. Dann habe die SZ eben schlecht recherchiert, ist die lapidare Antwort. Wir merken: hier tun sich die berühmten Internet-Blasen auf, in der Menschen nur noch das wahrnehmen, was sie wahrnehmen wollen, Fakten sind nicht gefragt.

Vom Verleih und dank Mailweiterleitungen von Kinokollegen hören wir, dass es in anderen Orten ähnlich zugeht. In Münster kommt es noch zu einer halbwegs gehaltvollen Diskussion, aber in Hannover ist die Lage anscheinend eskaliert, ist Dietmar Langer beim Filmgespräch verbal und körperlich angegangen worden.

Montag morgen: der Verleih teilt uns kurzfristig mit, dass Dietmar Langer den Anfeindungen nicht mehr gewachsen ist und das wegen der angespannten Situation die folgenden Termine der Kinotour leider abgesagt sind. Wir überlegen, was wir tun: mittlerweile ist die Nachfrage aufgrund der Medienberichte so groß, dass wir in den größten Saal getauscht haben. Er ist mit über 300 Vorverkäufen und Reservierungen ausverkauft. Wir kündigen auf unserer Website an, dass der angekündigte Gast leider nicht anwesend sein wird und notieren dies auch auf den aushängenden Plakaten und Ankündigungen.

Die örtliche Tageszeitung ruft an: ob wir den „umstrittenen“ Film denn trotzdem zeigen würden, ob wir Störungen befürchten würden, ob die Kinotour aus „Krankheitsgründen“ oder aus Angst vor den Störungen abgesagt sei. Klare Antwort: wir befürchten keine Störungen, ich kenne schließlich mein (Stamm-)Publikum, es werden mit Sicherheit viele engagierte Sozialarbeiter*innen, Psychologen*innen, Lehrer*innen, Kindergärtner*innen da sein. Und dass die nervliche Belastung durch die Anfeindungen durchaus als Krankheitsgrund zu verstehen sei.

Abends um 18.30 Uhr ist es soweit: Wir haben unsere „Hausaufgaben“ gemacht, ich habe den Film schon längst selber gesehen, habe auf unserer Website viele Verlinkungen eingestellt zur SZ, zum Spiegel, zum (katholischen) film-dienst, zur (evangelischen) epd-film und das ausführliche (8-seitige!) Fragen-Antworten-Papier der Regisseure als PDF-Download; außerdem haben wir es vielfach ausgedruckt und am Eingang ausgelegt für alle, die in den Saal gehen. Ich mache selber Einlass, begrüße viele Stammgäste. Viele sprechen mich an, auch unbekannte Gäste: „Wir kommen extra aus XY (ca. 60 km von Osnabrück entfernt), wir arbeiten auch in einer psychiatrischen Einrichtung. Wir sind sehr gespannt.“ Ein Osteopath aus Holland ist da, um sich zu informieren, viele Lehrerinnen, selbst eine Fachschulklasse. Das Publikum ist zu mindestens 70, 80 Prozent weiblich – aber das ist in diesem Fall wohl dem Faktor geschuldet, dass soziale Berufe immer noch als „weibliche“ Berufe gelten.

Ich mache die Begrüßung, erkläre, wieso der Psychologe und Protagonist aus dem Film nicht anwesend ist und weswegen es hinterher nun leider kein Gespräch gibt. Ich weise darauf hin, dass es eigentlich kein „umstrittener“, sondern ein „angefeindeter“ Film ist, dass aufgrund schlimmster Hassposts im Internet ein inhaltlicher Diskurs, ein Gespräch nicht mehr möglich ist, obwohl das mit dem hier anwesenden Fachpublikum sicherlich gut und konstruktiv gewesen wäre. Der Film würde nicht, wie behauptet, als allgemeine Erziehungsdoktrin „dressierte Kinder“ empfehlen, sondern ganz im Gegenteil, verhaltensgestörte Kinder und Eltern dabei helfen, aus ihrem Teufelskreis heraus zu kommen, um wieder halbwegs liebevolle Familien sein zu können. Die Familien, die in diese Klinik kommen, seien am Ende eines langen fatalen Prozesses – eine Mutter bringe es im Film auf den Punkt: „Wenn es hier nicht klappt, geben wir das Kind ins Heim, wir können nicht mehr.“ Ich danke den Besuchern, dass sie sich selbst ein Bild von diesem Film machen wollen. Und kündige an, im Anschluss für Gespräche zur Verfügung zu stehen.

Ich setze mich auch in den Saal, schaue den Film ein zweites Mal (er bleibt auch weiterhin ein guter Film!), höre und sehe, wie das Publikum aufmerksam mitgeht.

Als der Abspann halb durch ist, staune ich: APPLAUS! Nicht ein bißchen Applaus, nicht von einigen wenigen, der ganze Saal applaudiert! Ich bin sehr stolz auf mein Publikum! Sie haben sehr wohl verstanden, was es bedeutet, sich eine eigene Meinung zu bilden.

Beim Rausgehen sprechen mich viele an, am Ende werde ich fast eine Stunde lang Gespräche führen. Viele wollen ihre Meinung los werden – und sie ist immer (!) positiv: „Vielen Dank, dass Sie den Film gezeigt haben“, „ein sehr guter Film“, „ich verstehe gar nicht, was an dem falsch sein soll“; „…klar gibt es einige Szenen, die man aushalten muss, aber es geht ja auch um wirkliche Therapie“.
Eine Familie ist da, die selber vor knapp 20 Jahren in der Klinik waren – und weisen darauf hin, dass es nicht nur um schwererziehbare Kinder geht, ihnen wurde bei einem schweren Neurodermitis-Kind geholfen – der kleine Junge von damals, nunmehr erwachsene junge Mann ist dabei und nickt.
Einige fragen, ob ich eine Adresse von Herrn Langer habe, man müsste ihm schreiben, dass das alles gut lief, dass er auch mal was von den positiven Reaktionen hört…“
Viele outen sich als Fachleute: „Ich bin ja selber in der Therapie tätig…“, „…das ist ja noch sanft und harmlos, was da gezeigt wurde, das geht manchmal viel schlimmer ab“; „Bei uns in der Schule sitzen wir dann mit Familien, die keine solche Hilfe hatten“;

Ich hatte angekündigt, dass wir den Film evtl. wiederholen würden – auch darauf werde ich vielfach angesprochen: „Wir machen gerne bei uns im Kindergarten Werbung für den Film!“; „Ich werde ihn auf alle Fälle empfehlen“; „Sagen sie Bescheid, wenn sie ihn wiederholen, wir machen Werbung dafür…“; „Bitte zeigen sie ihn unbedingt noch mal…“

Werden wir!
Wegen der positiven Resonanz – und, da sind mein Kompagnon und ich ganz klar einer Meinung, damit die Hassprediger im Internet sich nicht durchsetzen und einen Film mit ihrer (virtuellen) Gewalt einfach plattmachen können.

Hermann Thieken
Cinema-Arthouse Osnabrück
Osnabrück, 24.10.2018

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