Filmfestival Venedig 2019

Die 76. Internationalen Filmfestspiele von Venedig
Ein Festivalbericht von Kalle Somnitz, Silvia Bahl und Anne Wotschke

Zum ersten Male seit 2013 eröffnete heuer das Festival nicht mit einem amerikanischen Film. Hirokazu Kore-eda, der noch im letzten Jahr in Cannes die Goldene Palme für SHOPLIFTERS holte, hatte die Ehre, seinen neuen Film THE TRUTH vorstellen zu dürfen. Es ist sein erster Film außerhalb Japans in einer für ihn fremden Sprache gedreht und geht mit seiner illustren Besetzung schon fast als europäischer Film durch. Und so machte er mit seinen Darstellern Catherine Deneuve, Juliette Binoche und Ethan Hawke eine mindestens so gute Figur auf dem roten Teppich wie vor Jahresfrist Damien Chazelle (“Aufbruch zum Mond”) mit Ryan Gosling und Claire Foy. Das allein stellt natürlich noch keinen Bruch mit Hollywood dar, zumal das Festival sich in den vergangenen Jahren als Plattform für das amerikanische Kino gerierte, doch der Tonfall in der amerikanischen Presse gibt zu denken. Der “Hollywood Reporter” meinte, dass sich Venedig unter Festivalleiter Barbera zum “fuck you festival” entwickelt habe und warf ihm fehlende ‘political correctness’ vor und Indiewire irrlichterte sogar, dass man in unserer Zeit am besten überhaupt keine Filme von kontroversen Regisseuren auf Festivals zeigen sollte. Da weht schon ein merkwürdiges Kulturverständnis über den Atlantik, für das Venedig die passende Antwort gab.
Denn die amerikanischen Blockbuster waren in diesem Jahr dünn gesät. Wenn auch qualitativ anspruchsvoll, konkurrierten sie mit einem starken europäischen Kino, das insbesondere mit guten Themen brillierte.

Doch beginnen wir mit den Amerikanern. Hier dominierte ein Film das ganze Festival. Kein anderer kam auch nur annähernd an ihn heran und das sowohl erzählerisch, visuell, vom Art Design her, als auch von der Musik und ganz besonders der schauspielerischen Leistung. Joaquin Phoenix läuft in JOKER (Warner) von Todd Phillips zur Höchstform auf und setzt einen Höhepunkt in seiner Karriere, der geradezu nach einem Oscar schreit. Dass er  nicht als Bester Schauspieler ausgezeichnet wurde, hat mit dem Reglement zu tun, denn in Venedig darf jeder Film nur einmal ausgezeichnet werden, und so wurde es völlig zu Recht der Goldene Löwe.

Todd Phillips ist mit JOKER ein Prequel der Nemesis Batmans gelungen. Am Anfang ist Arthur ein schüchterner, manchmal verhaltensauffälliger, junger Mann, aber ansonsten ein guter Kerl. Er sieht sich als Comedian, pflegt seine kranke Mutter und ist glücklich, wenn er Leute zum Lachen bringen kann, insbesondere die Kinder auf der Krankenstation. Doch mit seiner Clowns-Maske eckt er immer wieder an, wird von seinen Mitmenschen gedemütigt und verprügelt. Als er dann noch erfährt, dass seine Mutter gar nicht seine leibliche Mutter ist, sondern ihn adoptiert hat, bricht seine Welt vollends zusammen. Das alles löst die Metamorphose vom warmherzigen Jungen zum kaltblütigen Joker aus. Diese Geburt Jokers erfahren wir hier nicht nur auf erzählerische Weise, auch visuell setzt Todd Phillips eine außerordentliche Initiationsgeschichte in Gang. Aus dem schüchternen Jungen, der wie ein geprügelter Hund durch die Straßen Gothams schleicht, wird ein selbstbewusster Clown, der durch eine Metropole tanzt wie einst Fred Astaire. Sein Lachen, das anfangs so gequält und schmerzerfüllt klang, wird zu einem Lachen der Freude. Alle Demütigungen, die er ertragen musste, kehren sich um in Destruktion und Zynismus.
“Filme sind immer ein Spiegel des Gesellschaft”, meinte Todd Phillips in Venedig und tatsächlich können wir uns in seinen Bildern  wiedererkennen, erkennen wir die Fratze des Neoliberalismus, die postfaktischen Reden der Politiker und den Aufstand der Massen, den er angelehnt an die Occupy-Bewegung inszeniert. So wird aus einem Fantasy-Action-Spektakel ein hochintelligenter Film, der alle Unterschiede zwischen Mainstream und Arthaus auflöst.

Die Venedig-Eröffnungsfilme GRAVITY und AUFBRUCH ZUM MOND belebten das Science-Fiction-Genre neu, indem sie auf psychologische Zugänge statt nur auf bombastische Spezialeffekte setzten. Und auch der diesjährige Wettbewerbsbeitrag von James Gray (THE IMMIGRANT) reiht sich in diese Linie ein, wenn er einen facettenreichen Brad Pitt auf die Suche nach seinem abwesenden Vater ins Weltall schickt. AD ASTRA (Fox) stellte sich entgegen seiner lauten Vermarktungsstrategie als zurückgenommenes Drama heraus, das im Stil des Klassikers SOLARIS dysfunktionale Familienstrukturen auf allegorische Weise verhandelt. Im Zentrum stehen die Gedanken und Empfindungen des Astronauten Roy McBride (Pitt), der in mehrfacher Hinsicht im Schatten seines überdimensionalen Vaters (Tommy Lee Jones) steht. Dieser hat mit seinen Missionen an den Rändern des Sonnensystems Wissenschaftsgeschichte geschrieben, ist jedoch dabei auch verschollen. Als die Erde von unerklärlichen Energiestürmen heimgesucht wird, die kosmischen Ursprungs sind, wird vermutet, dass der alte McBride noch lebt und möglicherweise etwas Furchtbares getan hat. Sein Sohn wird abgesandt, um ihn aufzuhalten und durchlebt dabei eine Reise voller ambivalenter Gefühle: Der stets auf seine Karriere fixierte Vater hat ihn einst mit der Mutter zurückgelassen, ohne mit der Wimper zu zucken. Im Zwiespalt zwischen uneingelöster Sehnsucht und unterdrückter Wut gibt der junge McBride im Voice-Over immer wieder die Stadien seines Aufarbeitungsprozesses preis. Dabei wird deutlich, wie sich Muster toxischer Männlichkeit von einer Generation an die nächste weitertragen. Die Unfähigkeit, sich im Hier und Jetzt auf soziale Beziehungen einzulassen, und sich stattdessen auf das Unerreichbare zu fixieren, treibt einen falsch verstandenen Fortschrittsglauben der Wissenschaft ebenso an wie eine vaterzentrierte monotheistische Religion. Trotz eines Hauchs zu viel Pathos am Schluss ist die Botschaft des Films bewegend und zeitgemäß: Die Anerkennung, dass wir allein im Universum sind, ist vielleicht gar nicht so niederschmetternd, sondern der Beginn von Verantwortung und Sorge füreinander.

Beinahe schon europäisch mutet Benedict Andrews SEBERG (Prokino) an, in dem Kristen Stewart den Liebling der Nouvelle Vague spielt. Es ist eine Story, die an den Dokumentarfilm THE U.S. VERSUS JOHN LENNON aus dem Jahre 2006 erinnert, nur das die Umtriebe Edgar J. Hoovers in Jean Seberg ein wesentlich tragischeres Opfer gefunden haben, als mit John Lennon, der sich immerhin zu wehren wusste. Die auf tatsächlichen Ereignissen beruhende außer Konkurrenz im Wettbewerb laufende Amazon-Produktion ist nicht nur Biopic, sondern auch Psychothriller mit politischem Bezug, der die amerikanische Schauspielerin im Fadenkreuz des FBI zeigt. Eine Romanze mit dem Bürgerrechtler Hakim Jamal und ihre unverhohlen gezeigte Sympathie mit der von ihm unterstützten Black Power Bewegung macht sie Ende der sechziger Jahre zur Zielscheibe eines engmaschigen illegalen Überwachungsprogramms der amerikanischen Sicherheitsbehörde, das sie zunehmend an den Rand des Nervenzusammenbruchs treibt. Selbst der auf sie angesetzte ehrgeizige junge FBI-Agent Jack Solomom gerät im Laufe seiner Tätigkeit in einen Konflikt mit seinem Gewissen.
Vor allem Kristen Stewart macht den Film durch ihre überzeugende Verkörperung der Hauptfigur sehenswert. Sebergs Drang zu Unabhängigkeit, ihre Lebenslust und ihr Idealismus werden – wie von Regisseur Benedict Andrews intendiert – ebenso greifbar wie ihre emotionale Offenheit gepaart mit einer gewissen Naivität. Die jahrelange Observation, verbunden mit dem Versuch, sie bei jeder Gelegenheit zu diskreditieren, zermürbt sie und führt zu zunehmender Paranoia, was auch Auswirkung auf ihre Familie hat. Ihr Tod 1979 ist bis heute nicht aufgeklärt und dennoch als Selbstmord deklariert worden.

Einer der wenigen Dokumentarfilme im Programm gab aufschlussreiche Einblicke in die jüngere Geschichte der Philippinen und deren Verstrickungen ins globale Finanzkapital: THE KINGMAKER von Lauren Greenfield porträtiert die ehemalige First Lady Imelda Marcos, Frau des berüchtigten Diktators Ferdinand Marcos, dessen Regime, wie so viele andere auch, von den USA unterstützt wurde, um einen Sieg des Kommunismus im globalen Süden zu verhindern. Der Aufstieg der wunderschönen wie furchteinflößenden Imelda ist ebenso erstaunlich anzusehen, wie ihr aktueller politischer Einfluss. Die Filmemacherin begleitet die heute 85-jährige dabei, wie sie als Übermutter der Nation noch immer versucht,die Gewaltgeschichte des Landes zu verdrehen, die eigene Dynastie fortzuschreiben und ihre Kinder an die Macht zu bringen. Besonders interessant ist dabei die Kontinuität zwischen den konservativen Kreisen der Reagan-Ära und Populisten wie Trump und dem derzeitigen umstrittenen philippinischen Staatschef Rodrigo Duterte. Wie schon in ihrer Doku GENERATION WEALTH untersucht Greenfield die sozialen Auswirkungen finanzieller Exzesse und deren Verknüpfungen zur Macht.

Atom Egoyan ist Stammgast in Venedig und vertrat mit seinem neuen Film GUEST OF HONOR sein Heimatland Kanada. In gewohnt verschachtelte Weise erzählt er eine Vater-Tochte-Geschichte auf drei Zeitebenen. Die Jetztzeit spielt nach dem Tod von Vater Jim (David Thewlis), als Tochter Veronica (Laysla De Oliveira) dem Pfarrer Rede und Antwort steht, damit dieser eine Grabrede ausarbeiten kann. In Rückblenden wird dann von Veronicas Kindheit erzählt, vom frühen Tod der Mutter, von ihrer musikalischen Begabung und letztlich von ihrer Zeit als Hochschullehrerin, wo sie sich schließlich selbst bestrafen will für ein dunkles Geheimnis in ihrer Kindheit. Sie gibt vor,  mit einigen ihrer Schülern intim gewesen zu sein und fährt mit dieser Selbstanklage ohne Prozess ins Gefängnis ein, wo sie auf einer dritten Zeitebene von ihrem Vater besucht wird, der das alles nicht verstehen kann und nach jenem dunklen Geheimnis ihrer Kindheit sucht.
Egoyan ist ein Meister komplexer Figurenkonstellationen und so recherchiert jeder auf jeder Zeitebene über den anderen, doch die Erkenntnisse sind zu unterschiedlichen  Zeiten auch unterschiedlich zu bewerten, weil sich die Umstände verändert haben und die Wahrheiten eine andere Bedeutung erlangt haben. So kreist Egoyan um Themen wie Schuld, Verantwortung und Machtmissbrauch und zeigt die ständigen Missverständnisse, die das menschliche Miteinander oft so schwierig gestalten. Jim ist Food-Inspector in der multikulturellen Stadt Montreal und muss alle ethnisch noch so unterschiedlichen Restaurants strikt nach einem einheitlichen Code beurteilen, der nur die Bewertung richtig oder falsch zulässt. Seine Suche nach einem ebensolchen Code für sein Leben ist nicht nur völlig verzweifelt, sondern immer auch wieder komisch, oder wie Egoyan es selbst formulierte: “David hat den Humor in dieser tragischen Rolle gefunden.”

Pablo Larraín gilt als einer der vielseitigsten Autorenfilmer Lateinamerikas, der neben seiner Pinochet-Trilogie und dem düsteren Berlinale-Gewinner EL CLUB auch durch Filme wie JACKIE mit Nathalie Portman für Begeisterung sorgte. Sein Wettbewerbsbeitrag EMA stellt sein bislang experimentellstes Werk dar und galt lange als Favorit bei der Löwen-Vergabe. Unverständlich ist vor allem, dass die junge Hauptdarstellerin Mariana Di Girolamo keinen Preis für ihre eindringliche Leinwandpräsenz erhielt, denn sie ist im wahrsten Sinne des Wortes das flammende Herz des Films, der mit einer atemberaubenden Einstellung auf eine brennende Ampel beginnt. Die junge Brandstifterin mit dem Napalmtank auf dem Rücken ist eine unkonventionelle Tänzerin, die mit dem Choreographen ihres Performance-Ensembles Gastòn (Gael Garcia Bernal) im chilenischen Valparaíso zusammenlebt. Ihre Beziehung droht daran zu zerbrechen, dass Gastón keine eigenen Kinder zeugen kann und die Adoption eines kleinen Jungen in einer Katastrophe endete. Ema ringt mit ihrem Versagen als Adoptivmutter und ist wild entschlossen, das Kind zurückzugewinnen, auch wenn die Behörden ihr den Kontakt verweigern.
Was EMA so außergewöhnlich macht, ist seine rein szenische Inszenierungsweise, die über weite Strecken des Films auf klassische Erzählformen verzichtet. Stattdessen stehen tanzende Körper im Vordergrund, die Larraín in fragmentarischen Einstellungen gegeneinander schneidet. Dadurch punktet der Film durch Rhythmik und starke Bilder, die über eine bloße Musikvideo-Ästhetik hinausgehen, bewahrt sich jedoch auch eine Opazität, die irritierend wirkt. Lange erschließt sich überhaupt nicht, wohin die Geschichte in all ihrer sinnlichen Ansprache taumelt, bis es am Ende zu einer überraschenden Auflösung kommt. Emas Weg wird als Befreiungstanz gegen die eigene übermächtige Mutter verstehbar, der am Ende zu einer Möglichkeit der queeren Familie findet. Das Thema des Feuers bildet dabei ein zentrales Motiv des Films, das Passion und Mutterschaft verbindet: Wie die Sonne kann es verbrennen und verletzen, aber auch Leben spenden.

Eigentlich sollte THE TRUTH (Prokino) traditionell in Cannes laufen, denn dort hatte Kore-eda im letzten Jahr mit SHOPLIFTERS die Goldene Palme geholt. Doch er wurde nicht rechtzeitig fertig, und so eröffnete er halt das Festival von Venedig. Catherine Deneuve spielt hier Fabienne, eine französische Filmdiva, die an ihren Memoiren schreibt. Da gerade ihre Tochter Lumir (Juliette Binoche), die in New York lebt, mit Mann und Kind zu Besuch ist, bietet sie ihrer Mutter an, Korrektur zu lesen. Doch sie kann nicht glauben, was sie da lesen muss: Fabienne stellt sich als liebevolle Mutter dar, obwohl sie in Wirklichkeit ihre Tochter ziemlich vernachlässigt hat und sich lieber von opportunistischen Männern bewundern ließ. Die geschriebenen Zeilen lösen nun einen handfesten Streit zwischen Mutter und Tochter aus, den Fabienne gar nicht verstehen kann. “Es ist doch der Sinn einer Biographie, sich im besten Lichte darzustellen und außerdem geht es im Film ja auch nicht immer mit der Wahrheit zu,” argumentiert sie, während Lumir die Verdrehung aller Missstände ihrer Kindheit geradezu auf die Palme bringt.
Der Film beruht auf einem Theaterstück, das Kore-eda vor 15 Jahren geschrieben hat, das aber nie zur Aufführung kam. Jetzt, da sich die Gelegenheit bot, mit zwei Diven des französischen Films zu arbeiten, hat er es wieder aus der Schublade hervorgekramt. Welchen Spass Kore-eda die Dreharbeiten wohl gemacht haben, ist dem Film anzumerken, denn er weidet das Spiel der beiden Protagonistinnen derart aus, dass er thematisch zu sehr an der Oberfläche bleibt. Seine Frage, ob Wahrheit oder Lüge den besseren Zusammenhalt für eine Familie gewährleistet, erscheint da eher suggestiv, vielmehr wollte er wohl das Genre einer typischen französischen Boulevardkomödie bedienen. Dem Zuschauer sollte es gefallen.

Olivier Assayas Film WASP NETWORK ist ein typischer Vertreter des europäischen Kinos, wie es in Venedig in diesem Jahr vermehrt anzutreffen war. Auch er hat einen grandiosen Stoff für sich entdeckt, mit dessen Umsetzung man nicht vollends zufrieden sein muss. Im Grunde geht es um eine Spionage-Geschichte aus dem Kuba der neunziger Jahre. Fidel Castro lässt eine Sondereinheit aufstellen, um eine Gruppe Exilkubaner zu infiltrieren, die sich nach Miami geflüchtet und dort eine militante Gruppe aufgebaut haben, die immer wieder mit gezielten Terroranschlägen, oft gegen Touristen in Kuba, versuchen, das System zu destabilisieren – im Grunde eine komplexe Agenten-Story mit viel Action und guten Darstellern. So setzt Assayas neben Gael García Bernal und Penélope Cruz insbesondere auf Edgar Ramírez, dessen schauspielerische Energie uns schon in seinem Biopic CARLOS – DER SCHAKAL fünfeinhalb Stunden bei der Stange halten konnte. Die innere Spannung, die diesem Film anhaftete, erreicht Assayas in WAASP NETWORK leider nicht und es ist lediglich die Story, die einen bis zuletzt fesselt.

Nichts außer einer guten Story erwartete man auch von ADULTS IN THE ROOM, der auf dem gleichnamigen Buch von Yanis Varoufakis beruht. Darin schildert der ehemalige griechische Finanzminister seine sechsmonatigen Erfahrungen, die er mit dem Finanzausschuss der EU machen durfte. Der vor 86 Jahren in Griechenland geborene Constantin Costa-Gavras hat wohl diese erneute Leidensgeschichte seines Volkes noch mal auf den Plan gerufen, den Ruhestand zu verlassen und eine wahrhaftige griechische Tragödie zu drehen. Dabei schert er sich recht wenig um visuelle Konzepte, sondern setzt die Vorlage kammerspielartig quasi 1:1 um. Dass das im Kino funktioniert, hätte man wohl kaum vorherzusagen gewagt. Mit politischem Gerede und zweitklassigen Schauspielern den Kinozuschauer aus der Reserve zu locken, gelingt tatsächlich, zu absurd ist Varoufakis Vorlage, die beschreibt, welch niederträchtigem Machtspiel die griechische Bevölkerung zum Opfer gefallen ist. Dass manches da eventuell nicht ganz objektiv  dargestellt wird, macht den Film gerade erst sehenswert, ist es doch mal eine Sicht auf die Dinge – ganz im Kontrast zu unseren Nachrichtensendungen – die den europäischen Gedanken neoliberalen Machtspielchen opfert.

DAS MÄDCHEN WADJDA von Haifaa Al Mansour sorgte vor mittlerweile sieben Jahren für eine Sensation in Venedig, als erste Regie-Arbeit aus Saudi Arabien überhaupt – und dann auch noch gedreht von einer Frau! Nach ihrem US-Debüt MARY SHELLEY kehrte sie nun mit einem neuen Einblick in ihr islamisch-konservatives Heimatland zurück in den Wettbewerb. THE PERFECT CANDIDATE (Neue Visionen) ist ein erstaunliches Porträt saudischen Alltagslebens und erzählt zugleich die bewegende Emanzipationsgeschichte der junge Ärztin Maryam (Mila Al Zahrani). Als ausgebildete Chirurgin bekleidet sie einen wichtigen Posten im lokalen Krankenhaus, dies ist allerdings nur komplett verschleiert möglich. Und selbst dann kommt es immer wieder zu Vorfällen, in denen hysterische Männer selbst in der Notaufnahme nicht von den Händen einer Frau berührt werden wollen. Maryam begegnet der sie umgebenden Misogynie mit pragmatischem Trotz, als die Zufahrtsstraße zum Hospital allerdings im Schlamm versinkt und sich niemand darum kümmern will, platzt ihr der Kragen. Ihr Versuch, sich in der Großstadt um einen Posten zu bemühen, scheitert daran, dass ihr Vater vergessen hat, ihre Ausweispapiere zu verlängern, und sie ohne männlichen Vormund keinerlei bürokratische Tätigkeiten ausführen darf. Voller Wut richtet sie sich an ihren Cousin in der Verwaltung, über den sie durch Zufall auf eine Ausschreibung aufmerksam wird: In der Kleinstadt stehen Bürgermeisterwahlen an – und Frauen sind nicht ausdrücklich ausgeschlossen. Erwünscht sind sie natürlich trotzdem nicht, doch Maryam sieht plötzlich die Chance, im Sinne einer Grassroot Bewegung auf lokaler Ebene für die Asphaltierung der Zufahrtsstraße zu kämpfen, und nebenbei auch für die Frauenbewegung. Weniger leicht und beschwingt als ihr Film um das Mädchen mit dem grünen Fahrrad, ist THE PERFECT CANDIDATE stattdessen in der Betrachtung der gesellschaftlichen Verhältnisse grimmiger und fast schon pessimistisch. Denn es sind eben nicht nur die Männer, die das strikt patriarchale System am Laufen halten, sondern gerade die Frauen, die lieber eine gute Partie machen wollen als wählen zu gehen, und keine Lust haben, ihr gesellschaftliches Ansehen für die Emanzipation aufs Spiel zu setzen. Umso bewegender ist Maryams Kampf, in dem sie die Grenzen der strikten Geschlechtertrennung immer wieder auch räumlich überschreitet und die so verpönte Face-to-Face-Auseinandersetzung erzwingt. Und genau dort, so zeigt der Film von Al Manour, wird gesellschaftliche Veränderung möglich: Wenn die Begegnung mit dem geschlechtlich Anderen doch gar nicht so dramatisch ist, wie die Religion es ständig postuliert.

Bildgewaltiger, aber nicht weniger politisch ist da THE PAINTED BIRD, der fast drei Stunden lang ist und in schwarzweiß, auf 35 Millimeter in slawischem Esperanto gedreht wurde. Er schildert die Odyssee eines kleinen jüdischen Jungen, der von seinen Eltern aus Angst vor den Nazis weggegeben wurde und anschließend vierzehn Stationen – quer durch ein düsteres Ost-Europa zum Ende des 2. Weltkrieges, durchlaufen muss. Jerzy Kosinski gleichnamiger Roman, der nicht nur in Polen Pflichtlektüre wurde, wird hier von Regisseur Václav Marhoul auf düstere und so gewalttätige Weise verfilmt, dass er die Kritiker in zwei Lager spaltete. Den einen war der Film zu formal, zu pathetisch, ja sogar zu weinerlich, während die anderen von einem archaischen Meisterwerk sprachen, die die Grausamkeiten der Zeit kongenial visualisierten. Tatsächlich sind es die Bilder, die einem immer wieder den Atem stocken lassen. Gewalt im Kino sind wir gewöhnt, sie aber derart minimalistisch und auf sich selbst reduziert zu sehen, entwickelt eine Kraft, der manch einer nicht standhalten kann. So erinnert der Film an russische Meisterwerke von Andrej Tarkovsky oder Elem Klimov. Überraschend auch die starke Besetzung. So fanden sich neben Udo Kier auch Stellan Skarsgård und Julian Sands auf der Pressekonferenz ein, während sich Harvey Keitel entschuldigen ließ. Der jugendliche Hauptdarsteller durfte nicht auf die Bühne, so wie er auch nicht den Film anschauen darf, um sein Seelenheil nicht zu gefährden. Tatsächlich hätte man sich am Ende des Films einen Hinweis im Abspann gewünscht, dass hier kein Kind zu Schaden gekommen ist.

Gegen Ende des Festivals, als die cinephile Gemeinde längst nach Toronto weitergezogen war, gaben sich noch einige weitere Stars die Ehre. So zum Beispiel Johnny Depp, der in WAITING FOR THE BARBARIANS von Ciro Guerra (BIRDS OF PASSAGE) die Rolle des fiesen Colonel Joll spielt. Der kommt an die Grenze eines fiktiven Empires, um die Arbeit des vor der Pensionierung stehenden Magistraten (Mark Rylance) zu begutachten. Der hat hier seinen Außenposten in vielen Jahren als hoch zivilisierte Grenzsiedlung ausgebaut. Die jenseits der Grenzen lebenden Nomaden gehen hier ein und aus, treiben Handel und leben in Eintracht mit der hiesigen Bevölkerung. Es ist ein Ort des Friedens, in dem es quasi keine Kriminalität gibt. Doch Colonel Joll kommt schnell zu einem anderen Ergebnis. Mit blutigen Verhörmethoden erpresst er Geständnisse, die auf einen bevorstehenden Aufstand der Barbaren hinweisen. Für den Magistrat eine krude Theorie, denn die Barbaren sind Nomaden und selbst wenn eine Gefahr von ihnen ausginge, wären sie nächste Woche schon wieder woanders. Doch an Fakten ist Joll nicht interessiert und hat schon längst Verstärkung angefordert, um einen brutalen Krieg vom Zaun zu brechen. Als der Magistrat dann offen gegen die militärischen Maßnahmen protestiert, wird er als Verräter diffamiert und lernt schnell die Härte der Militärgesetze kennen.
Ciro Guerras Adaption von J.M. Coetzees vielfach ausgezeichneter gleichnamiger Novelle kann dabei auch als Metapher auf unsere Gesellschaft gelesen werden. Jahrzehntelang erarbeitete Zivilisation hat keine Bestandsgarantie und muss täglich neu erkämpft werden. Der Magistrat hat dies sein Leben lang getan, doch es ist ihm nicht mal vor seiner Pensionierung vergönnt, sich in ihr einzurichten und ihre Vorzüge zu genießen. Johnny Depp spielt seine Rolle als diabolischer Colonel beeindruckend und beängstigend mit emotionsloser Miene, die Augen versteckt hinter einer stylischen Army-Sonnenbrille, die seine Unberechenbarkeit perfekt unterstützt. Auf der Pressekonferenz, wo sich Depp zwar um die rechten Worte bemühte, sie aber selten fand, wurde sie schließlich zum Gegenstand von Small Talk, und die Journalisten schlugen ihm vor, sie als Designer-Brille unbedingt in die Massenproduktion zu geben.

Eine Sahnehäubchen ganz zum Schluss war dann der Auftritt von Donald Sutherland und Mick Jagger in Giuseppe Capotondis THE BURNT ORANGE HERESY. Als auf der Pressekonferenz die zeitgleich auf dem roten Teppich stattfindenden Proteste gegen Klima- und Ökokatastrophe zur Sprache kamen, versicherte Mick Jagger den jungen Protestierenden seine volle Unterstützung, während man sich den inzwischen 84-jährigen Donald Sutherland noch einmal in Rage reden hören konnte. Er bemängelte die weltweite Politik, deren Führer Fakten und kulturelle Errungenschaften negieren und in verantwortungsloser Weise unsere Welt ausplündern. “Dieser Bande gehört das Handwerk gelegt”, polemisierte er und die Proteste der jungen Leute kämen ihm da beinahe zu zahm vor.

Ansonsten verlief die Pressekonferenz in einer gut gelaunten Atmosphäre, wie sie auch der Film verbreitete. Jagger spielt hier den steinreichen Kunstsammler Cassidy, der den Kunstkritiker James Figueras anheuert, um seine Sammlung zu inventarisieren. Zusammen mit seiner amerikanischen Freundin Berenice macht er sich auf zu dem beeindrucken Anwesen des Mäzens am Comer See. Überraschenderweise trifft er dort auf den hier quasi als Eremit lebenden Künstler Jerome Debney, der lange nichts mehr veröffentlicht hat und als verschollen gilt. Während seine Freundin mit dem alten Künstler, der einem wie ein J.D. Salinger der Kunstwelt vorkommt, eine ehrliche Freundschaft entwickelt, scheint der scheinbar so smarte Kunstkritiker nur noch darüber nachzudenken, ihm eines seiner Kunstwerke zu entwenden. Mit diesem eigennützigen Unterfangen ist er aber schon längst zum Spielball der Interessen anderer geworden.
In intelligent vergnüglicher Weise lässt hier der italienische Regisseur Giuseppe Capotondis. die Kunstwelt mit der Unterwelt kollidieren. Dabei hat jeder der Beteiligten seinen eigenen Plan, der sich dem Zuschauer erst peu à peu erschließt. Niemand ist hier das, was er vorgibt zu sein und so wird das Ganze zu einem spannenden Neo-Noir-Thriller, in dem nichts so ist, wie es scheint.

Überzeugend war auch der Wettbewerbsbeitrag der australischen Regisseurin Shannon Murphy, der ein größeres Publikum anzusprechen vermag und dabei ebenso kunstvoll ist wie die Filme Jane Campions. BABYTEETH beginnt als etwas überdrehte Coming-of-Age-Komödie in der Vorstadt, die jedoch in der Zeichnung der Figuren immer genauer wird und in einem emotionalen Finale mündet, das kein Auge trocken lassen wird. Die Krebserkrankung der pubertierenden Milla (Eliza Scanlen) wird dabei zum Katalysator eines familiären Ablöseprozesses, der so viel mehr in Szene setzt, als man es von dieser Art Geschichte gewohnt ist. Denn es geht nicht bloß um den Wert des Lebens, der durch die Krankheit für alle erfahrbar werden soll, sondern um eine Emanzipationsgeschichte, die auch das Sterben miteinschließt. Alle Charaktere im Film sind von Sucht- und Abhängigkeitsstrukturen geprägt: Millas Vater verschreibt als Psychiater seiner infantil gebliebenen Frau regelmäßig Pillen, und auch der ältere Junge, in den Milla sich Hals über Kopf verliebt, ist schwer drogenabhängig. Beide Männer unterscheiden sich eigentlich nur darüber, dass der eine im Sinne der Normativität handelt und der andere als gesellschaftlicher Outcast lebt. Millas Erkrankung fordert ihre Umwelt heraus, weil sie endlich um ihrer selbst willen geliebt werden möchte und gleichzeitig um die Freiheit bittet, gehen zu dürfen. Doch ihren Nächsten fällt es schwer ihr diese Anerkennung zu geben, die mit einem Loslassen verbunden ist. Schließlich akzeptieren die Eltern ihren Freund Moses, und damit auch Millas Abschied von der Kindheit, was sich im Film durch den Verlust des letzten Milchzahns ausdrückt. Toby Wallace wurde für seine Rolle als chaotisch-charmanter Junge mit dem Marcello-Mastroianni-Preis als Bester Nachwuchsdarsteller ausgezeichnet, und auch Ben Mendelsohn überzeugt als ebenso strenger wie hilfloser Vater. Die junge Eliza Scanlen wird gegen Ende des Jahres ebenfalls in Greta Gerwigs Remake von “Little Women” eine der Hauptrollen übernehmen – der Durchbruch sollte damit auch ihr sicher sein.

Großes Kritikerlob und schließlich auch die Coppa Volpi für Luca Marinellis schauspielerische Leistung konnte die Jack-London-Verfilmung MARTIN EDEN einheimsen. Regisseur Pietro Marcello verlegt das halb autobiographisch geprägte Werk von Kalifornien in ein irgendwo Anfang des 20. Jahrhunderts angesiedeltes Neapel. Dort hilft der Seemann Martin Eden dem aus einer reichen Familie stammenden Arturo, als er in eine Schlägerei gerät und wird zum Dank zu ihm nach Hause eingeladen. Hier lernt er Elena, die Tochter des Hauses kennen, und verliebt sich in sie. Die kultivierte und gebildete junge Frau beflügelt seinen Wunsch, Schriftsteller zu werden, um in die höheren Gesellschaftsschichten aufzusteigen und eines Tages in der Lage zu sein, Elena zu heiraten. Er zieht zum Schreiben aufs Land, bildet sich autodidaktisch weiter, die Bekanntschaft mit dem älteren Intellektuellen Russ Brissenden bringt ihn in Kontakt mit sozialistischen Zirkeln, aber auch in Konflikt mit der bürgerlichen Welt seiner Angebeteten und der eigenen sich formenden Überzeugung, dass das Individuum über dem Kollektiv steht. Als er trotz eifrigen Schreibens für seine Werke keinen Verleger findet, verarmt er zusehends. Seine Eltern sowie Elena und ihre Familie entmutigen ihn zusätzlich. Als sich der Erfolg schließlich doch einstellt und er nun plötzlich überall hofiert wird, kann er diesen nicht mehr genießen. Körperlich geschwächt und desillusioniert von der Heuchelei der höheren Gesellschaft, deren Werte ihm plötzlich nur noch hohl und schal vorkommen, erscheint sein Streben, dort anerkannt zu werden, sinnlos.
Regisseur Pietro Marcello nimmt stilistisch Anleihen an der Nouvelle Vague und amerikanischen Independent-Filmen der siebziger Jahre. Trotz der Verlegung von Ort und Zeit des Jack-London-Klassiker hält er sich inhaltlich eng an die Vorlage, mischt geschickt Archivmaterial mit der fiktionalen Erzählung, was dem Film Authentizität verleiht. Ein Film, der sicherlich in den Arthouse-Kinos Erfolg haben wird.

Die Coppa Volpi für die beste weibliche Darstellerin ging überraschend an Ariane Ascaride, die in dem Familiendrama GLORIA MUNDI sympathisch, aber nicht unbedingt auffallend Sylvie, die Mutter einer Arbeiterfamilie in Marseille spielt. Dabei darf man von Regisseur Robert Guédiguian keine leichte Familiengeschichte à la DER SCHNEE AM KILIMANDSCHARO erwarten. Offensichtlich hat er sich seit seinem Biopic DER JUNGE KARL MARX auf soziale Themen eingeschossen, und so hat diese Studie einer Arbeiterfamilien einen mehr tragischen Charakter à la Ken Loach.
Sylvie freut sich auf die Geburt ihrer Enkeltochter Gloria und ist fest davon überzeugt, dass die Dinge sich jetzt zum Besseren wenden. Doch das Gegenteil passiert. Ihr Schwiegersohn, ein Uber-Fahrer, wird überfallen, zusammengeschlagen und seines Autos beraubt, während ihr Ehemann seine Stelle als Busfahrer verliert, weil er mit dem Handy telefonierend während der Fahrt erwischt wird. Sie selbst hat jede Menge Trouble auf der Arbeit, weil ihre Kolleginnen streiken wollen, was sie sich überhaupt nicht leisten kann. Denn das Geld ist knapp in der Familie und es wird immer knapper. Da kommt das Hilfsangebot von Sylvies erstem Ehemann, der gerade aus der Haft entlassen wurde, gerade recht.
“Oder um es mit Marx zu sagen: Der Neo-Kapitalismus zerbricht familiäre, freundschaftliche und unterstützende Beziehungen und ausschließlich kaltes Kalkül und hartes Geld bestimmen die Verbindungen zwischen den Menschen,” so Guédiguian auf der Pressekonferenz. Seinen Wechsel von der Komödie zur Tragödie erklärte er damit, dass Kino beides kann: zeigen, wie die Welt sein könnte und sie so zu zeigen, wie sie ist.

Ein gern gesehener Gast auf dem Lido ist Roy Andersson, der bereits 2014 für seinen Film „EINE TAUBE SITZT AUF EINEM ZWEIG UND DENKT ÜBER DAS LEBEN NACH“ mit dem Goldenen Löwen ausgezeichnet wurde. Auf die Pressekonferenz zu seinem neuen Film schaffte er es nur im Rollstuhl, während er der Preisverleihung aufgrund von Hüftproblemen fernbleiben musste und seinen Silbernen Löwen für die Beste Regie nicht selbst entgegennehmen konnte.
Mit ÜBER DIE UNENDLICHLICHKEIT (Neue Visionen) fügt er seinem filmischen Werk ein neues Meisterwerk hinzu, ein filmisches Nachdenken über das menschliche Leben in all seiner Schönheit und Grausamkeit, seiner Pracht und seiner Einfachheit. Ein unverzagter Erzähler nimmt uns hier an die Hand und lässt uns traumgleich umherschweifen. Scheinbar nichtige Augenblicke verdichten sich zu intensiven Zeit-Bildern und stehen auf Augenhöhe mit historischen Ereignissen: Ein Liebespaar schwebt über das vom Krieg zerfressene Köln; auf dem Weg zu einem Kindergeburtstag muss ein Vater mitten in einem Wolkenbruch seiner Tochter die Schuhe binden; junge Mädchen beginnen einen Tanz vor einem Café und eine geschlagene Armee marschiert mutlos zu einem Gefangenenlager. ÜBER DIE UNENDLICHLICHKEIT ist sowohl Ode als auch Klage, ein Kaleidoskop all dessen, was ewig menschlich ist, eine unendliche Geschichte über die Verletzlichkeit unserer Existenz.

Auch Roman Polanski konnte oder wollte seinen Preis für seine Verfilmung der Dreyfuss-Affäre AN OFFICER AND A SPY (J’ACCUSE…!) nach dem gleichnamigen Roman von Robert Harris aus dem Jahr 2013 nicht entgegennehmen. Ihm droht im Ausland immer noch die Auslieferung in die USA, und außerdem war seine Teilnahme am Wettbewerb mit einem derartigen Shitstorm aus Amerika verbunden, dass man ihm sein Fernbleiben nicht übel nehmen kann. Statt ihm immer noch ein Vergehen, dass er vor 50 Jahren begangen und sich mit dem Opfer längst geeinigt hat, immer noch vorzuwerfen, sollten wir froh sein, von diesem Altmeister noch einmal eine Geschichtslektion erteilt zu bekommen über eine Affäre, die hierzulande kaum an der Schule gelehrt wird.

J’ACCUSE…!  ist der Titel eines offenen Briefes des französischen Schriftstellers Émile Zola, um die Öffentlichkeit über die wahren Hintergründe der Dreyfus-Affäre zu informieren. Der Brief erschien am 13. Januar 1898 in der Tageszeitung L’Aurore, verursachte einen großen politischen Skandal und gab der Dreyfus-Affäre eine entscheidende Wendung. “J’accuse” ist auch in den deutschen Sprachgebrauch eingegangen als Bezeichnung für eine mutige, öffentliche Meinungsäußerung gegen Machtmissbrauch.

Im Januar 1895 wurde der französische Hauptmann Alfred Dreyfus aufgrund von Fälschungen wegen angeblicher Spionage zugunsten des Deutschen Reichs degradiert und zu lebenslanger Haft auf der Teufelsinsel verurteilt. Als danach die Spionageakte nicht aufhörten, stellte sich bei einer erneuten Untersuchung seine Unschuld und Major Ferdinand Walsin-Esterházy als der wahre Täter heraus. Dennoch hielt der Generalstab an der Täterschaft Dreyfus’ fest, weil er Jude und Elsässer war.
Es liegt auf der Hand, dass dieser Stoff ein Herzensprojekt Polanskis war, doch geht es ihm darum, den Antisemitismus in Frankreich, lange vor dem deutschen Holocaust, aufzuzeigen und nicht wie der Tagesspiegel meint, sich ähnlich wie Dreyfuss als Justizopfer darzustellen. Ganz im Gegenteil, die Unaufgeregtheit und Sachlichkeit von Polanskis Inszenierung tut dem Film ausgesprochen gut. Wir folgen den Ermittlungen des Spionageabwehr-Offiziers Georges Picquart (Jean Dujardin), der Dreyfuss erst zu Fall gebracht und dann seine Unschuld bewiesen hat und dabei in ein gefährliches Labyrinth aus Betrug und Korruption geriet. Polanski macht daraus eine Geschichtsstunde von erstaunlicher Aktualität, die in Venedig einstimmige Anerkennung fand. Entsprechend stolz nahme seine Frau Emmanuelle Seigner seinen Silbernen Löwen für den Großen Preis der Jury entgegen.

Einziger deutscher Beitrag beim Festival und Eröffnungsfilm der Reihe Orrizonti war PELIKANBLUT (DCM) von Katrin Gebbe, deren beeindruckendes Langfilmdebüt TORE TANZT  2013 in Cannes Premiere hatte. Ihr neuestes Werk kann mit einem interessanten Thema und einer starken Hauptdarstellerin aufwarten, der fragwürdige Schluss schmälert aber den Genuss erheblich und hinterlässt einen schalen Nachgeschmack. Nina Hoss spielt Wiebke, eine Trainerin für Polizeipferde, die einen idyllischen Reiterhof führt. Nach jahrelanger Wartezeit erfüllt sich endlich ihr Wunsch nach einem zweiten Adoptivkind. Am Anfang des Films holen sie und ihre neunjährige Adoptivtochter Nicolina die fünfjährige Raya aus dem Heim ab. Doch bald stellt sich heraus, dass die zunächst wie ein kleiner Engel wirkende Kleine traumatisiert von Kindheitserlebnissen extrem gewalttätig werden kann und eine Gefahr für sich und andere darstellt. Obwohl alle ihr raten, Raya zurückzugeben oder einer professionellen Institution zu übergeben, ist Wiebke nicht bereit, so schnell aufzugeben. Mit aller Kraft bis an den Rand der Selbstaufgabe versucht sie, dem nicht zu Empathie fähigen Kind zu helfen. Als alle Versuche fehlschlagen, engagiert sie in ihrer Verzweiflung eine Schamanin, um den bösen Raya beherrschenden Geist zu vertreiben. Im Gegensatz zu dem wunderbaren SYSTEMSPRENGER mit ähnlichem Thema, der die Grenzen der Hilfesysteme aufzeigt, wirkt diese Flucht in den Mystizismus, um dem Ganzen noch ein Happy-End zu verpassen, leider allzu bemüht.

Insgesamt war es ein starker Jahrgang, und man fühlte sich immer wieder im Laufe des Festivals an Todd Phillips’ Worte erinnert, dass Film immer ein Spiegel der Gesellschaft ist. Dies wollten viele Filme auch ganz bewusst sein. Sie prangerten Politik und Gesellschaft an, während andere Filme eher unpolitisch daher kamen und sich dennoch als Produkt ihrer Zeit entpuppten. Denn die gesellschaftliche Situation war eben nicht nur Thema der Filme, sondern beeinflusste sie auch in ihrer Machart, was sich dann in Tonfall und Aussagekraft niederschlug. Das alles macht Hoffnung auf einen spannenden Kinoherbst mit vielen Filme, die zu kontroversen Diskussionen Anlass geben.