Venedig 2020


Die 77. Filmfestspiele von Venedig

Ein Festivalbericht von Kalle Somnitz & Anne Wotschke

Download als PDF hier…

Festivaldirektor Alberto Barbera galt bisher als Bad Boy unter den Festivalleitern, kümmerte er sich doch kaum um ‘political correctness’ und internationale Absprachen. So scherte er sich nie um eine Gender-Quote, setzte alle Filme von Netflix ein, die Cannes verbannt hatte und war zu beinahe jedem Kompromiss bereit, um Stars an die Lagune zu holen. Doch all das war anders in diesem Jahr. Netflix hatte seine Festival-Teilnahme abgesagt, amerikanische Stars machten sich rar und die Frauenquote unter den Filmemacher*innen stieg auf beinahe fünfzig Prozent. Dass Barbera das Angebot ausschlug, Filme, die in der offiziellen Auswahl von Cannes waren, aber wegen Corona nicht zur Aufführung kamen, in Venedig zu zeigen, wollte man ihm im Vorfeld als Fehler ankreiden, doch er stellte sein eigenes Programm zusammen, lud Filme aus aller Welt ein, setzte einen europäischen Schwerpunkt und obwohl er nur wenige amerikanische Filme im Programm hatte, eröffnete er wie immer die Oscar-Saison.

Dies gelang ihm vornehmlich mit NOMADLAND, dem dritten Film der in China geborenen, aber in der USA arbeitenden Chloé Zhao, die gerade in der Postproduktion für ihren Marvel-Film ETERNALS steckt. Sie setzt ganz auf ihre Hauptdarstellerin Frances McDormand, die – wie schon vor drei Jahren in THREE BILLBOARDS… – mit ihrem ‘One Woman Act’ den Lido begeisterte. Sie spielt eine Witwe, die nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch ihrer Kleinstadt aus dem bürgerlichen Leben ausbricht und in ihrem Van, der fortan ihr Zuhause ist, durch den amerikanischen Westen reist. Das führt sie in unwirtliche Gegenden, wo sie sich als Saisonarbeiterin – zum Beispiel für Amazon – über Wasser hält. Schlechte Bezahlung und fehlende Sozialleistungen machen ihr Leben zu einer Gratwanderung. Nur mit Mühe kann sie sich und ihren Van über die Runden bringen, jede kleine Reparatur stellt ein existentielles Problem dar, doch sie genießt das Leben im Einklang mit der Natur und die Solidarität mit den anderen Nomaden. Einmal besucht sie ihre Schwester, um sich 5.000 Dollar für die Reparatur ihres Vans zu leihen. Beim Abendessen wird schnell klar, warum sie sich in eine solche bürgerliche Gemeinschaft nicht mehr einordnen kann. Es kommt zum Streit, doch ihre Schwester steht ihr bei und bezeichnet sie als besonders mutig: So wie damals die Pioniere – die ersten Siedler – die in unwirtlichen Gegenden nach neuen Lebensmöglichkeiten suchten, versucht sie fernab der Zivilisation zu leben. Den Goldenen Löwen hat dieser Film völlig zu Recht gewonnen, fehlt nur noch der dritte Oscar für Frances McDormand.

Mit seiner ersten englischsprachigen Produktion PIECES OF A WOMAN (Netflix) kam der erfolgreiche und vielfach preisgekrönte ungarischen Film-, Opern- und Theaterregisseur Kornél Mundruczó an den Lido. Zuletzt gewann er 2014 für UNDERDOG, seiner fulminant inszenierten Allegorie auf die politische Situation des heutigen Ungarns, in Cannes den Preis für den Besten Film in der Sektion Un Certain Regard. Noch vor der Titelsequenz erleben wir eine fast halbstündige Entbindung in Echtzeit mit, so hautnah, dass den Zuschauern der Schweiß der Eltern fast mit auf der Stirne steht. Martha und Sean Carson haben zur Hausgeburt ihres ersten Kindes eine erfahrene Hebamme bestellt, doch als die Wehen früher einsetzen, ist diese unabkömmlich und ihre Kollegin Eva springt ein. Obwohl zunächst nach anfänglichen Schwierigkeiten alles gut zu gehen scheint, endet die Geburt tragisch: zwar kommt das Kind auf die Welt, doch stirbt es nur wenige Minuten später. Für das Paar und seine Familie beginnt die schwierige Zeit, mit dem Schmerz und der Trauer umzugehen. Schnell wird der Hebamme die Schuld am Tod des Kindes zugeschoben und eine millionenschwere Entschädigungsklage angestrengt. Doch geht es wirklich um Schuld? Bringt es die Trauernden weiter, wenn jemand zur Rechenschaft gezogen wird? Die zu Beginn liebevoll erscheinende Beziehung des aus unterschiedlichen sozialen Milieus kommenden jungen Paares bekommt immer größere Risse, auch vorangetrieben durch Marthas Mutter, die ihre Tochter ständig kritisiert. Doch diese ist es schließlich, die am Ende die zentrale Botschaft des Films vermittelt: Auch nach traumatischen Ereignissen ist es wichtig, nach vorne zu blicken und in die Zukunft zu investieren, statt sich von der Vergangenheit verbittern und paralysieren zu lassen. Leider hat Netflix inzwischen die weltweiten Vermarktungsrechte für den Film erworben, so dass eine richtige Kinoauswertung dieses intensiv gespielten, emotional packenden und auch stilistisch und formal überzeugenden Werkes wohl nicht mehr möglich ist. Die Ehrung von Vanessa Kirby als Beste Darstellerin ist dennoch verdient.

Vanessa Kirby war auch in THE WORLD TO COME (Sony) von Mona Fastvold mit Casey Affleck zu sehen. Hier spielt sie im Upstate New York der 1850er Jahre eine von zwei Siedlerinnen, die auf benachbarten Farmen leben und sich näher kommen als sonst üblich. Offensichtlich hinterlässt das karge Farmerleben bei beiden Frauen große Leerstellen, die sie durch ihre immer intimer werdende Beziehung zu füllen versuchen. Die Reaktion ihrer Männer fällt unterschiedlich aus: Während der eine erkennt, dass er das, was seiner Frau fehlt, nicht erfüllen kann, und von daher über die Frauen-Freundschaft erfreut ist, weil sie seine Ehe stabilisiert, reagiert der andere mit Eifersucht und versucht die Begegnungen der beiden Frauen zu verhindern. Mona Fastvold gelingt nicht nur ein feinfühliges und stimmiges Porträt dieser beiden Frauen, sondern fragt auch danach, was das Farmleben den beiden Frauen zu bieten hat und damit nach ihrer gesellschaftlichen Rolle zu jener Zeit. Der Film erinnert an Tommy Lee Jones’ THE HOMESMAN (2014), in dem drei Siedler-Frauen ob ihres Pionier-Lebens, das ein steter Kampf gegen die Natur und ihre Männer ist, verrückt werden und zurück in die Zivilisation gebracht werden müssen. Während Jones damals das karge Leben dieser Pioniere darstellen wollte, geht es Fastvold eher darum, einen Weg aufzuzeigen, wie sich Frauen auch unter solch widrigen Bedingungen selbst verwirklichen können.

Der dritte amerikanischen Film im Wettbewerb war nur außer Konkurrenz zu sehen. Nach seiner Premiere reihte er sich gleich in den Oscar Buzz ein. Regisseurin Regina King wurde 2014 mit RAY als Schauspielerin bekannt und gewann mit IF BEALE STREET COULD TALK (2018) einen Oscar. In den letzten sieben Jahren war sie auch als Regisseurin unterwegs und steuerte Episoden zu einigen Dokumentarfilmen bei. Mit ONE NIGHT IN MIAMI stellte sie nun ihren ersten Spielfilm vor. Dafür hatte sie zwar keine bekannten Schauspieler zur Verfügung, aber es geht um die berühmtesten amerikanischen Männer dieser Zeit, die sich am Abend des 25.2.1964 treffen, um mit Cassius Clay seine gerade errungene Box-Weltmeisterschaft zu feiern. Mit dabei sind Polit-Aktivist Malcolm X, Sänger Sam Cooke und Football-Star Jim Brown, dem Hollywood gerade eine lukrative Rolle in einem Film angeboten hat.
Die Gespräche zwischen den Vieren, vor deren Hotel-Suite Security für ihre Sicherheit sorgt, sind teils belanglos, teils privat und familiär, dann geht es aber auch um Jobs, Religion (Malcolm X hat Cassius Clay überredet, zum Islam zu konvertieren), Politik und natürlich den alltäglichen Rassismus, der auch ihnen als Stars, ebenso wie ihren Familien täglich begegnet. Die Gespräche finden in immer neuen Konstellationen statt, mal unter vier Augen, dann wieder alle zusammen. Regina King gelingt es, sie ganz beiläufig einzufangen, dabei sind sie mal mal heiter, mal euphorisch, dann wieder ernst bis hin zu existentiell (Malcolm X befürchtet, dass die Muslimbruderschaft ihm die Unterstützung entzieht). Wie auch immer, am Ende sind es Gespräche, die zu fantastisch sind, um sie zu glauben, und zu wichtig, um sie zu vergessen. Zusammengenommen ergeben sie ein ziemlich genaues Porträt der amerikanischen Gesellschaft und ihrer Rassenproblematik zu dieser Zeit.

Von der amerikanischen Gesellschaft abgewendet hat sich längst Abel Ferrara, der nach Rom ausgewandert ist, eine neue Familie gegründet hat und sich anschickt, zum Venedig-Regular zu werden. Hier präsentierte er nach TOMMASO (Cannes 2019) und SIBERIA (Berlinale 2020) mit SPORTIN’ LIFE wieder einen sehr persönlichen Film, in dem sich Privates mit Beruflichem vermischt: Szenen aus SIBERIA sind genauso zu sehen wie seine Präsentation auf dem Festival, Pressekonferenz und Interview-Termine im Hotel wechseln ab mit Gedanken, die Ferrara durch den Kopf schießen. Der wieder hochkommende Rassismus in der USA, die Unfähigkeit von Donald Trump und die Unwägbarkeiten von COVID-19. Für all diese Themen findet er markante Bilder, die er gewohnt wild und assoziativ aneinanderreiht. Dabei gibt es keinen Leitfaden, keinen zeitlichen und schon gar keinen erzählerischen, und dennoch setzt sich am Ende alles wie in einem Puzzle zusammen und ergibt das ehrliche Porträt eines Stars, der sich nie für einen solchen gehalten hat. Dass er vor der Premiere seines Films für sein Lebenswerk ausgezeichnet wurde, nutzte er, um Alberto Barbera überschwänglich zu danken, dass er dieses Festival möglich gemacht und der Welt gezeigt habe, wie man in diesen Zeiten der Filmkunst zu ihrem Recht verhelfen kann und Begegnungen von Kunst und Publikum wieder ermöglicht.

Dieser Danksagung pflichtete auch Pedro Almodóvar bei, der in einer bewegenden Pressekonferenz von seinen Erfahrungen mit dem Lockdown erzählte. Er hält unser aller Zuhause für ein Gefängnis. Obwohl wir es nicht mehr verlassen müssen, zieht es uns nach draußen, drängt es uns, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. “Das Kino ist das Gegenteil von einem Gefängnis, es ist immer der Beginn eines neuen Abenteuers. Es ist eine Katharsis, die man mit anderen Menschen teilt”, schwärmte er in Venedig, und verteufelte die Streamer, die ihn des Kontaktes zu seinem Publikum berauben. “Wenn es gerade auch nicht die beste Zeit des Kinos ist, es muss weiter bestehen!” forderte er lautstark.

Ein großer Auftritt für einen nur 30-minütigen Film. Mit THE HUMAN VOICE
hat er ein Theaterstück von Jean Cocteau verfilmt. Er hat das Drehbuch während des Lockdowns in Spanisch geschrieben und dann ins Englische übersetzen lassen. “Zunächst hörte es sich nicht rund an, aber nach zwei Lesungen mit Tilda Swinton stimmten Klang und Flow”, erklärte er auf der Pressekonferenz. Tilda Swinton durfte den Text verändern, interpretierte ihn theatralischer, während er sich auf Kamera, Farben und Dekors konzentrierte und dem Ganzen eine cinematographische Dimension gab. Er kannte die Verfilmungen mit Anna Magnani und Ingrid Bergman, wollte aber eine eigene, modernere Version schaffen. Bei den Dreharbeiten veränderte sich vieles: Textpassagen fielen weg, Kulissen verschwanden, er fügte einen Racheakt hinzu. Für ihn war das alles ein Experiment, sein erster Film in Englisch, der nur durch die Zusammenarbeit mit Tilda Swinton möglich wurde. “Sie war, als würde sie schon ewig zum Team gehören.” Zwischen ihnen stimmte einfach die Chemie, was Almodovar zu Neuem beflügelt – und er will unbedingt wieder mit ihr zusammen arbeiten.

Zwei weitere englische Theater-Recken gaben in Venedig ein Stelldichein:
Jim Broadbent und Helen Mirren spielen in THE DUKE das in die Jahre gekommene Ehepaar Kempton und Dorothy Bunton, die in Newcastle Anfang der 1960er Jahre ein bürgerliches Leben führen. Nach dem frühen Tod ihrer Tochter bei einem Fahrradunfall, ist es nicht leicht, wieder in einen Alltag zu finden. Während Dorothy alles verdrängt, versucht Kempton seine Trauer im Schreiben von Theaterstücken zu verarbeiten. Doch die BBC lehnt all seine Werke ab, was Kempton zu einem Aktivisten gegen Fernsehgebühren macht. Überhaupt ist er ein glühender Verfechter der Rechte der Arbeiterklasse. Als Taxifahrer kommt er rum, weiß immer bestens Bescheid und ist den Behörden schon so einige Male unangenehm aufgefallen. Ganz zum Unwillen seiner Frau, die ihm schon mehrfach das Versprechen abgenommen hat, seine politischen Aktivitäten einzustellen. Doch irgendwie kann er sich von seinen politischen Taten nicht lösen, denn selbst wenn er keine begeht, kommen sie schließlich zu ihm. Zum Beispiel das bekannte Porträt, das Goya vom Duke of Wellington gemalt hat. In den Nachrichten sieht er, dass es aus der National Gallery in London gestohlen wurde, und plötzlich findet er es in seiner Abstellkammer wieder. Während er sogleich Lösegeldforderungen an den Staat stellt und eine bessere Versorgung für Alte und Kranke fordert, ist seine größte Sorge, dass Dorothy das Gemälde finden könnte. Er muss es also nicht nur vor ihr verstecken, sondern sich auch den polizeilichen Ermittlungen entziehen, die sich immer mehr auf Newcastle konzentrieren und dabei so viele ungeahnte Wendungen nehmen, dass es eine Freude ist, dem Geschehen zuzusehen. Noch amüsanter ist, dass der Raub des Goya-Porträts tatsächlich geschehen ist. Es war der bisher einzige Diebstahl, den die Royal Gallery erleben musste, und Regisseur Roger Michell spinnt darum eine Robin-Hood-Komödie voller Esprit und typisch britischem Humor. In Venedig dankte auch er Barbera, dass er ihm dabei hilft, seine Mission zu erfüllen. Die sieht er darin, die Zuschauer wieder ins Kino zu führen, damit sie dort ihre Emotionen teilen können.

Nicole Garcia wurde bereits dreimal in den Wettbewerb von Cannes eingeladen und vertrat nun Frankreich mit ihrem zweiten Auftritt in Venedig. In LOVERS (Amants) erzählt sie eine Liebes-Dreiecksgeschichte im Stile des ‘film noir’. Lisa und Simon kennen sich schon seit Kindertagen und auch als Erwachsene sind sie unzertrennlich, bis Simon sich in kriminelle Machenschaften verstrickt und in ein fernes Land fliehen muss. Lisa bleibt allein zurück, eine Katastrophe, mit der sie zu leben gelernt hat, denn als sie drei Jahre später Simon zufällig auf Mauritius wiedertrifft, ist sie längst verheiratet. Die alten Gefühle flammen wieder auf, und so steht Lisa bald zwischen zwei Männern, die sie bedingungslos lieben. Betrug, Leidenschaft und Kriminalität sind die vielversprechenden Zutaten dieser Ménage à Trois, die Thriller-Qualitäten verheißt, aber letztlich an einer altmodischen Umsetzung scheitert. Da helfen auch nicht die exotischen Schauplätze und die vielen Nacktszenen, in denen sich Stacy Martin und Pierre Niney von ihrer besten Seite zeigen. Niney, an den wir uns noch gern an der Seite von Paula Beer in François Ozons FRANTZ erinnern, erzählte von seinem Hunger auf Geschichten, er will sie lesen, spielen und vielleicht auch einmal inszenieren. An einem eigenen Drehbuch schreibt er bereits.

Seit elf Jahren eröffnete das Festival mal wieder mit einem Italienischen Film. Daniele Luchetti THE TIES (Lacci) ist die Anatomie einer Ehe in der Krise, die mit Untreue, Erpressung, Schuld und Leid geschlagen ist. Sie beginnt 1980 in Neapel, wo Aldo (Luigi Lo Cascio) und Vanda (Alba Rohrwacher) ein glückliches Leben mit ihren beiden Kindern führen, bis Aldo ihr einen Seitensprung gesteht. Vanda ist überrascht und ärgert sich am meisten, dass sie mit dieser Nachricht behelligt wird und es nun an ihr liegt zu handeln. Am Ende trennen sich die beiden, er geht mit seiner neuen Liebe nach Rom und macht Karriere beim Fernsehen, während Vanda mit großen Anstrengungen versucht, die Kinder durchzubringen. Immer wieder fordert sie die Unterstützung Aldos ein, sei es finanzieller Art oder durch seine Anwesenheit. Doch seine zögerlichen Versuche, Verantwortung zu übernehmen und seiner Vaterrolle gerecht zu werden, scheitern kläglich. Dreißig Jahre später sind die beiden wieder zusammen, und als die nun erwachsenen Kinder während ihres Urlaubs die Wohnung hüten, gelüstet es ihnen nach Rache.
Luchetti gelingt eine ausgesprochen akkurate und feinfühlige Beschreibung dieser Familie, die mit Genauigkeit und Detailverliebtheit punktet. So ist in einer Szene zu sehen, dass der Sohn seine Schuhe auf die gleiche ungewöhnliche Art bindet, wie der Vater, obwohl der ihm dies nie beigebracht hat. Genau darum geht es diesem Film, um familiäre Bindungen – Lacci heißt im Italienischen auch Schuhbänder -, die immer wirken, auch wenn man sich längst getrennt hat. Trotz guter Schauspieler ist der Films irgendwie gewöhnliches und natürlich sehr traurig, was einem Eröffnungsfilm nicht wirklich gerecht wurde.

Das schaffte hingegen der Pre-Opening Film, der in Venedig seit einigen Jahren am Vorabend der Festspiele für diejenigen gezeigt wird, die früher angereist sind. Meist ist er historisch und hat einen lokalen Bezug. Diesmal war er brandaktuell, zeigte er doch Venedig während des Lockdowns. Dabei ist MOLECOLE des Venezianers Andrea Segre kein Dokumentarfilm über die Lagunenstadt, sondern vielmehr eine autobiografisch angehauchte Vater-Sohn-Geschichte. Der Vater des Protagonisten ist in Venedig geboren und musste zum Studium nach Padua ziehen. Da er nur selten mit seinem Sohn geredet hat und früh verstorben ist, handelt auch dieser Film von einem fehlenden Vater. Der Sohn jedenfalls besucht nun dessen Geburtsstadt, um nach seinen Wurzeln zu suchen. Einziger Hinweis ist ein Brief, der nicht mal an ihn gerichtet ist, und Venedig zeigt sich dem Besucher von vielerlei Seiten. Er lernt die Ruderin Elena kennen, die uns das Steuern einer Gondel erklärt. Sie erzählt von ihrer Liebe zu dieser Stadt und warum es vielen schwer fällt, hier zu leben. Kein Job, alle Freunde sind weggezogen, viel Langeweile und Leerlauf und hohe Lebenshaltungskosten. Vielleicht sind das Gründe, die auch seinen Vater veranlasst haben, Venedig zu verlassen. Doch er erlebt auch das Hochwasser im November letzten Jahres und schließlich den Lockdown. Leere Kanäle, leere Straßen und leere Schaufenster, hinter denen Menschen nur als Silhouetten zu sehen sind.
Die Stadt wird zur Geisterstadt. Auf dem leeren Markusplatz schimpfen die Möwen mit markanten Schreien über das Fehlen ihrer touristischen Futterspender. Überhaupt werden die Fehlstellen, die die Touristen hinterlassen, von Tieren eingenommen, die sich neue Lebensräume erschließen. Segre kombiniert diese diesig grauen Bilder mit privaten Aufnahmen aus dem Familienbesitz seiner Eltern, aufgenommen in den 1950er Jahren.
Er zitiert Camus: “Schicksal ist alles, was uns im Leben begegnet, wir aber nicht beeinflussen können”, und kommt zu dem Schluss, dass es der Zweck des Lebens ist, sein Schicksal anzunehmen, es zu bewältigen. Das Hochwasser, die Pandemie, aber auch Begegnungen mit Menschen sind schicksalhaft. Segre fallen noch allerhand Metaphern ein, und er findet phantastische Bilder für sie, was diesen Film zu einer wahren Perle macht.

2016 gewann Gianfranco Rosi mit seiner Migrations-Doku FIRE AT THE SEA den Goldenen Bären, nachdem er zuvor schon einen Goldenen Löwen für seine Autobahn-Doku SACRO GRA bekommen hatte. Auch sein neuer Dokumentarfilm NOTTURNO durfte im Wettbewerb starten. Er ist eine Collage von Nacht-Bildern aus dem Nahen Osten, die zwar zum Teil phänomenal gelungen sind, jedoch meist nicht über den visuellen Eindruck hinaus kommen. Nichts steht hier in einem Kontext, wird irgendwie erklärt oder verortet. Zwar sprechen die Bilder manchmal ihre eigene Sprache, erzählen von Unterdrückung, Ausbeutung und Krieg, fügen sich aber nicht zu einem universellen Bild zusammen und entlassen so den Zuschauer eher ratlos aus dem Kino.

Im Gewand eines Thrillers kommt die Literaturverfilmung ASSANDIRA daher, die auf dem 2004 erschienen Roman des Schriftstellers Giulio Angioni basiert. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive des älteren sardischen Schafhirten Constantino, der gerade durch einen verheerenden Brand auf seiner Finca seinen Sohn verloren hat. Er fühlt sich schuldig an dessen Tod, doch der bei dem Brand ermittelnde Polizeiinspektor glaubt ihm nicht. Stück für Stück wie in einem Puzzle setzen sich die Ereignisse, die zum Ausgangspunkt des Films führen, vor den Augen der Zuschauer zusammen. Das Übel nahm seinen Lauf, als die deutsche Frau seines Sohnes nach der gemeinsamen Rückkehr des Paares aus Berlin in die sardische Heimat dem Schwiegervater vorschlägt, aus dessen Landgut eine Location für Urlauber zu machen, die im ursprünglichen Landleben in Italien nach Ablenkung und Genuss suchen. Constantino lässt sich überreden, doch der Einklang zwischen Natur und Tourismus will sich einfach nicht einstellen. Vielmehr fehlt es seinen Gästen an Respekt gegenüber der Historie und den Werten der Landschaft. Schließlich kommt es zur Katastrophe…
Ein ambitioniertes Werk, kraftvoll und archaisch, mit talentierten Darstellern, die einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Hauptdarsteller ist der Dichter und Filmschauspieler Gavino Ledda, der das Drehbuch für PADRE PADRONE der Taviani-Brüder schrieb und dort selbst sein eigenes Leben spielte.

Emma Dante hat mit dem Wettbewerbsbeitrag THE MACALUSO SISTERS (Le Sorelle Macaluso) ihr eigenes Theaterstück verfilmt, in dem sie über drei Zeitebenen hinweg das Leben von fünf Schwestern im Alter von neun bis achtzehn Jahren verfolgt. Diese leben ohne ihre Eltern in der obersten Etage eines Wohnhauses in Palermo, unter einem Dach mit zahlreichen weißen Tauben, die sie zu ihrem Lebensunterhalt für Hochzeiten und anderen Feierlichkeiten vermieten. Zunächst erleben wir die Geschwister als Kinder beziehungsweise junge Frauen, wir begleiten sie auf einem Ausflug ans Meer, sehen sie unbekümmert herumtollen. Als Erwachsene sind sie ernster geworden, eine fehlt. Die zu Beginn lichtdurchflutete Wohnung wird unmerklich düsterer. Sie haben sich verändert, Erfahrungen gemacht – gute wie schlechte – schwelgen aber auch gerne in Erinnerungen. Am Ende sind sie alt geworden, die Wohnung wird aufgelöst- ein weiterer Anlass, auf ihre Vergangenheit zurückzublicken, auf die Verluste, aber auch den Gewinn, den ein erfülltes Leben hinterlässt. Es gibt keine stringente Handlung, Dante arbeitet vielmehr mit Andeutungen, Versatzstücken und der Zuschauer muss sich einiges zusammenreimen. Doch das stört nicht allzusehr, ist man doch stets gebannt von der Poesie der Bilder.

Auch MISS MARX zählt zu den vielen italienischer Beitragen dieses Jahres. Regisseurin Susanna Nicchiarelli siegte hier bereits 2017 mit ihrem eigenwilligen Biopic “Nico, 1988” in der Nebensektion Orizzonti. Auch diesmal porträtiert sie eine interessante Frau, Eleanor, die Tochter von Karl Marx. Eine glühende Sozialistin, die nicht nur die Ideen ihres Vaters weiter in der Welt verbreitet, sondern auch für Arbeiter- und Frauenrechte und gegen Kinderarbeit kämpft. Sie gehört zu den ersten Frauenrechtlerinnen und war Vorbild für die aufkommenden Suffragetten, privat jedoch läuft ihr Leben nicht nach Plan. Sie träumt von einem warmherzigen Familienleben, wie es ihr der Vater bieten konnte, ihr selbst aber nicht vergönnt ist. Sie heiratet den Leibarzt ihres Vaters, ist fasziniert von dessen musischer Seite, doch er entpuppt sich als Trinker und Scharlatan, der sie auch noch in finanzielle Probleme stürzt. Manchmal erscheint der Film etwas begrenzt und unterkühlt, doch dies spiegelt nur die Tristesse wider, die den Frauen zu dieser Zeit zugeschrieben war. Ihre Handlungsmöglichkeiten waren beschränkt und ihre gesellschaftliche Durchschlagskraft minimal. So wird MISS MARX zu einem ziemlich traurigen Biopic, dass mit wenigen Highlights punkten kann, dafür aber umso glaubhafter ist.

Politisch ging es weiter mit QUO VADIS, AIDA? (Farbfilm), dem zweiten Film von Jasmila Zbanic, die mit ihrem Erstling ESMAS GEHEIMNIS 2006 die Berlinale gewann. Sie folgt der Bosnierin Aida, die 1995 nach der Eroberung von Srebrenica durch die Serben in einem UN-Friedenscamp als Übersetzerin arbeitet. Hier sind tausende bosnische Bürger untergekommen, unter anderem auch ihr Mann und ihre beiden Söhne. Als die serbische Armee droht, das Lager zu übernehmen, eskalieren die Ereignisse. Auch wenn die Geschehnisse 25 Jahre zurück liegen gelingt es Zbanic, das Interesse des Zuschauers zu wecken, indem sie die historischen Tatsachen und die erbärmliche Rolle der UN mit dem privaten Schicksal von Aida verknüpft. Jasna Đuričić spielt Aida intensiv und glaubwürdig, der Kampf ums Überleben ihrer Familie und Community geht uns derart ans Herz, dass wir wie in einem Krimi mitfiebern. Allein – hier lässt man am Ende die Mörder laufen. Ohne auch nur eine einzige Kugel abzufeuern, nimmt die UN den Tod tausender Bosnier in Kauf. “Über Kriege wird meist aus einer männlichen Perspektive berichtet”, führte Đuričić auf der Pressekonferenz aus. Doch mit diesen Berichten, wie man sie in Schul- und Geschichtsbüchern findet, kann sie sich nicht identifizieren. ”Über den Bosnien-Krieg habe ich nun einen Film aus weiblicher Perspektive gemacht, ein Film, der auch meine Geschichte erzählt. Ich widme ihn allen Frauen, die in diesem Krieg Angehörige verloren haben.”

In NEVER GONNA SNOW AGAIN (Real Fiction) erzählt Małgorzata Szumowska, wieder eine unterhaltsame wie tiefgründige Gesellschaftssatire aus dem heutigen Polen. Der alleinstehende Masseur Zhenia, ein ukrainischer Gastarbeiter, der in der Nähe von Tschernobyl aufgewachsen ist, hat hypnotische Kräfte und weiß diese nicht nur zu nutzen, um sich einen Stempel für seine Einreise nach Polen zu verschaffen, sondern auch, um sein Klientel in einer reichen Gated Community dort in Trance zu versetzen und von ihren inneren Ängsten und Verspannungen zu befreien. Aufgewachsenen unter den Entbehrungen des Kommunismus klammern diese sich an die Insignien ihres neu gewonnen Wohlstands, fühlen aber gleichwohl eine innere Leere, die sie unglücklich macht, ohne dass sie sich dessen bewusst sind. Zhenia vermag mit seinen Massagen eben diese Leere zu füllen, sein russischer Akzent erinnert sie an ihre Kindheit und schafft Sicherheit und Vertrauen. Der Eindringling aus dem Osten, der ihnen eigentlich suspekt sein müsste, wird zum verehrten Heilsbringer. Szumowska kleidet ihre Message in magische Bilder und geheimnisvolle Metaphern, was gelegentlich an Tarkowskij erinnert. Mit Zhenia ermöglicht sie uns einen ganz speziellen Einblick in die polnische Gesellschaft, die zwischen Wohlstand und Identitätskrise zerrissen scheint. Ein weiterer bemerkenswerter Beitrag einer weiblichen Regisseurin, Polen hat den Film für den Oscar eingereicht.

Michel Francos neuer Film NEW ORDER ist eine Dystopie. Um uns das ganze Grauen dieser Welt zu zeigen, braucht es dafür zumindest in Mexiko nicht einmal eine Apokalypse, denn die liefert schon das tägliche Leben einer durch und durch korrupten Gesellschaft. Ein Menschenleben zählt hier nicht sonderlich viel und schon gar nicht, wenn es darum geht, Machtstrukturen zu etablieren. Politik, Militär, Polizei und Wirtschaft sind so eng miteinander verquickt, dass sogar Insider Schwierigkeiten haben, die einzelnen Seilschaften und Abhängigkeiten zu durchblicken. So benutzt Franco eine Fiktion, um den grausamen Alltag in Mexikos zu beschreiben. Dabei nimmt er kein Blatt vor den Mund, zeigt die Willkür und Menschenverachtung, die Recht und Gesetz ad absurdum führen, genauso wie die Gewalt mit der sie durchgesetzt wird. Das geht dann auch schon mal an die Belastungsgrenze und erinnert an HELI von Amat Escalante oder KINATAI von Brillante Mendoza. Doch Franco gelingt es, die Gewaltszenen erträglicher zu gestalten, weil sie sich nicht gegen einen Einzelnen richten, sondern gegen eine zum Teil unbekannte Masse. Eigentlich kann es jeden treffen. Von einer Zivilisation kann man hier wohl nicht mehr sprechen, eher von einer Diktatur, in der sich auch der Diktator seines Lebens nie sicher sein kann. Kein Film für Zartbesaitete und dennoch ein ungemein wichtiger Beitrag zum Weltkino, der mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet wurde.

Ein politischer Film kam auch aus Deutschland, nur sollte man ihn nicht mit NEW ORDER vergleichen. Dafür ist er zu harmlos und zu fernsehhaft. Dennoch ein politischer Film aus Deutschland im Wettbewerb eines internationalen Filmfestivals, das hat es wohl zuletzt vor sechzehn Jahren gegeben, als Hans Weingartner in Cannes DIE FETTEN JAHRE SIND VORBEI vorstellte. Zu dieser Zeit hat Julia von Heinz das Drehbuch zu UND MORGEN DIE GANZE WELT (Alamode) geschrieben, der einen Einblick in die Antifa-Szene gibt, Damals war sie Teil dieser Szene und zu nah dran, um einen Film darüber zu drehen. Als in den letzten Jahren das Thema Neo-Faschismus wieder hochkochte, hatte sie genügend Abstand, um es zu verfilmen.
Sie folgt Luisa, die Jura studiert und zuhause raus will. Sie wird magisch angezogen von einer Antifa-Kommune, in der sie gerne leben möchte. Als Jura-Studentin könnte sie die Gruppe in Bezug auf deren Aktionen rechtlich beraten. Doch allzu herzlich fällt ihre Aufnahme nicht aus. Schnell begreift sie, dass sie sich den Respekt der Anderen erst noch verdienen muss. So schließt sie sich einem radikalen Flügel der Gruppe an. Ihnen ist das Stören von rechten Veranstaltungen mit Trillerpfeifen und das Werfen von Tomaten und Torten zu kindisch, sie wollen die Rechten physisch treffen, ihnen weh tun. Dabei ist das Thema Gewalt ausreichend diskutiert: Gewalt ist keine Lösung, aber wie will man ohne Gewalt gegen Gewaltbereite vorgehen?
Julia von Heinz gelingt es, die Antifa in all ihrer Widersprüchlichkeit zu porträtieren. Da handelt es sich längst nicht mehr nur um Anti-Faschisten, es kommen Tierschützer, Naturfreunde, Veganer, Aktivist*innen für Frauenrechte und Flüchtlingshelfer hinzu. Ähnlich breit gefächert sind auch ihre Aktionen, die von passivem Widerstand über gewaltfreie Aktionen bis hin zu brutalen Auseinandersetzungen reichen. Dass die Bewegung so ungemein breit geworden ist, erklärt sie damit, dass die Welt immer komplexer wird und alle nach einfachen Antworten suchen. Am meisten missfällt ihr dabei die Rolle des Mittelstandes, der keine Haltung zeigt, auf Demos nur mitläuft und ansonsten mit der Wahrung seiner Besitztümer beschäftigt ist. “Es ist eine deutsche Geschichte, die ich für ein deutsches Publikum geschrieben habe”, sagt sie in Venedig und verwahrte sich gegen eine allgemeine Kriminalisierung der Antifa und ihre Verunglimpfung als Terroristen, wie sie Trump immer wieder äußert. Bezogen auf den amerikanischen Präsidenten fasste sie sich kurz: “Wer die Antifa kriminalisiert, ist kriminell!”

Nicht persönlich an den Lido kommen konnte die Schwedin Greta Thunberg, Protagonistin der Dokumentation I AM GRETA (Filmwelt) ihres Landsmanns Nathan Grossmann, der darin ihren kometenhafter Aufstieg zur Ikone der Klimabewegung nachvollzieht. Immerhin war sie bei der Pressekonferenz zugeschaltet und konnte ihrer Mission erneut Ausdruck verleihen. Vor gut zwei Jahren setzte sich die damals 15-jährige Schülerin – anstatt in die Schule – ganz allein mit einem handgeschriebenen Schild “Skolstrejk för klimatet” vor das schwedische Parlament, um damit stärkere Maßnahmen gegen den Klimawandel zu fordern. Ihre Rede vor der UN-Klimakonferenz in Katowice ein halbes Jahr später setzt eine weltweite Bewegung in Gang. Unter dem Slogan “Fridays for Future” findet der Teenager immer mehr Nachahmer und Unterstützer und wird schließlich zum Sprachrohr der Klimaaktivisten weltweit. Sie spricht vor Länderparlamenten und trifft Berühmtheiten wie Arnold Schwarzenegger oder den Papst. Eher zufällig von Anfang an dabei: Kameramann Grossmann, der von Freunden der Familie Thunberg einen Hinweis auf die Aktion im Sommer 2018 bekommen hatte und eigentlich nur eine kurze Reportage drehen wollte. Schnell wird ihm die Dynamik bewusst, die Gretas Aktionen vor allem auch in den sozialen Netzwerken auslöst – und bleibt dran. Er reist mit ihr und ihrem Vater um die Welt und kann so auch einige intime Momente einfangen. Der Ausflug ins Private bleibt zwar weitgehend an der Oberfläche und behandelt keine allzu tiefgründigen Fragen, dennoch überzeugt die Doku mit ihrem ruhigen, auch die inneren Zusammenhänge in den Blick nehmenden Erzählstil, der in angenehmen Kontrast steht zu den kurzlebigen Schlaglichtern der Social Media Welt.

Auf drei Filme möchten wir noch hinweisen, die wir in der Nebensektion ORIZZONTI gesehen haben. Eröffnet wurde sie mit APPLES, dem beeindruckenden Spielfilmdebüt des Griechen Christos Nikou. Wer vorher nicht wusste, dass er sein Handwerk bei Yorgos Lanthimos erlernt hat, hätte nach dem Film zumindest darauf getippt. Sein Film beschreibt mit kafkaesken Zügen am Beispiel des Protagonisten Aris eine Gruppe von Menschen, die im Zuge einer geheimnisvollen Pandemie an vollständiger Amnesie leiden und sich in einem Therapieprogramm in einer Heilanstalt wiederfinden. Hier sollen sie auf Kassette aufgenommene Anweisungen ihrer Ärzte, zu denen sie nur marginal Kontakt haben, befolgen und die dabei gemachten Erfahrungen mit einer Polaroid-Kamera festhalten. Der zunächst als Komödie daher kommende Film nimmt zunehmend dramatische Züge an. Nikou hat seinen Hauptdarsteller als eine Mischung aus Jacques Tati und Jim Carrey angelegt, durch eine Welt stolpernd, die längst nicht mehr die seine zu sein scheint. Dabei verzichtet er auf alles Digitale, es gibt keine Handys, keine Computer und die Fotos kommen nur aus der Polaroid-Kamera. Die vergleicht er mit unseren Social Media Bildern, die gerne einen Polaroid-Filter verwenden. Überhaupt benutzt er jede Menge Metaphern und einen Schuss sentimentale Nostalgie, um eine Welt von Orwellschen Dimensionen zu beschreiben. Dabei kann man den Verlust des Gedächtnisses, der unmittelbar zur Zerstörung der eigenen Identität führt, auch als Kritik an einer Gesellschaft lesen, in der wir unsere eigene Identität aufgeben haben, um nur noch den sozialen Medien zu folgen. “Unser größtes Problem heutzutage ist der Verlust der persönlichen Kommunikation untereinander”, führte er in Venedig aus. Und wenn sein Held sich am Ende selbst geheilt aus der Therapie entlässt und einfach nach Hause geht, lässt er den Zuschauer mit der Frage zurück, wie er selbst aus einem fremdbestimmten in ein eigenes Leben zurückfindet. Ein surrealer Spaß lanthimos’schen Ausmaßes.

Etwas betulicher geht es da in Uberto Pasolinis Nowhere Special (Piffl) zu.
James Norton spielt hier den 35-jähriger Fensterreiniger und alleinerziehenden Vater seines vierjährigen Sohnes Michael. Die Mutter hat die beiden gleich nach der Geburt des Kindes verlassen, und so kümmert sich John alleine rührend um seinen kleinen, etwas schüchternen Sohn. Doch die Dinge werden ernst, als bei John eine tödliche Krankheit diagnostiziert wird und er fortan seine ihm bleibende Zeit ausschließlich mit seinem Sohn verbringt und eine Ersatzfamilie für ihn sucht. Der Zuschauer nimmt dabei den Blickwinkel des Kindes ein, weiß nur soviel über das Verschwinden der Mutter wie John dem kleinen Michael erzählt. Und auch seine tödliche Krankheit verschweigt er oder teilt sie nur sehr verschlüsselt mit, etwa durch das Lesen von Kinderbüchern, die sich mit dem Tod beschäftigen. Seine Subtilität ist das Kennzeichen dieses Film, der überaus langsam erzählt, seine Protagonisten aber liebevoll inszeniert und sich ungeheuer einfühlsam mit ihrem Problem auseinandersetzt. Für den Zuschauer wird dies zu einer emotionalen Reise, zwar mit stark gedrosselter Geschwindigkeit, dafür aber ausgesprochen tiefgehend.

Zuletzt wollen wir noch Gia Coppola erwähnen, die nach PALO ALTO hier einen größeren Film in puncto Budget und Besetzung realisieren konnte. Maya Hawke (Tochter von Ethan) spielt in MAINSTREAM eine junge Frau, die gerade ihren Vater verloren hat und nach ihren Platz im Leben sucht. Zusammen mit ihrem besten Freund Jake (Nat Wolff) steckt sie aber gerade in einem Comedy Club fest, wo sie als Barfrau arbeitet. Sie grübeln darüber, was heute im Leben wirklich zählt und sind begeistert von ihrer Bekanntschaft mit Link (Andrew Garfield), einem modernen, ziemlich durchgeknallten Lebenskünstler, der sich an keinerlei Regeln zu halten scheint. Die drei tun sich zusammen, nehmen verrückte Videos auf und stellen sie ins Netz. Bald schon sind sie wahre Internet-Stars und rufen damit Manager Merk (Jason Schwartzman) auf den Plan, der ihnen noch größere Berühmtheit und Reichtum verspricht. Doch in dem Maße, wie sie in der Karriereleiter aufsteigen, verlieren sie die Kontrolle über ihr Projekt, das auch noch von internen Streitigkeiten bedroht ist.
Gia Coppola hat da eine ziemlich bunte und schrille Farce gedreht, die ziemlich laut und lässig daherkommt und damit in starkem Kontrast zum melancholisch-verträumten Vorgänger steht. Damit mag sie das Lebensgefühl einer jüngeren Generation treffen, die Älteren nehmen wohl eher Reißaus.

Venedig war in diesem Jahr tatsächlich eine Reise wert. Die perfekte Organisation und sinnvolle Verhaltensregeln haben Begegnungen ermöglicht, die wir seit Monaten vermisst haben. Allein schon Filme wieder auf der großen Leinwand zu sehen und mit anderen zu diskutieren, hat soviel Spaß gemacht, dass Unannehmlichkeiten wie tägliches Fiebermessen, Abstandsregeln und Maskenpflicht (auch im Kino) schnell zur Nebensache wurden. Angesicht der vielen guten Filme wünschen wir auch unserem Publikum den Mut, sie zu entdecken, was bei Beherzigung einiger Grundregeln und mit ein wenig gegenseitiger Rücksichtnahme problemlos möglich sein sollte. In Venedig jedenfalls zählte man über 100.000 Zuschauer in allen Vorstellungen und von einem Corona-Fall ist bis heute nichts bekannt.

Download als PDF hier…