Nicht dein Mädchen

Zum Vergrößern klicken

Ein ästhetisch beeindruckender, melancholischer Thriller über ein extrem schwieriges Thema: Kindesmissbrauch im Cyberspace und die Folgen. Eine italienische Polizistin gerät bei ihren Nachforschungen auf die Spur eines Mädchens, das als Fünfjährige aus Südtirol entführt wurde und möglicherweise in Süddeutschland unterwegs ist. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt. Sensible Gemüter sollten sich vor dem Film in Acht nehmen, der von einer bis ins Unerträgliche wachsenden Spannung lebt und ohne jede Gewaltdarstellung auskommt. Die psychologische Wirkung ist umso stärker. Cineastisch und filmästhetisch ist Isabelle Sandris mutiges Thrillerdrama ein echter Gewinn: Die Bilder bleiben nachhaltig in Erinnerung.

Website: www.wfilm.de/nicht-dein-maedchen

Originaltitel: Un confine incerto (An Uncertain Border)
Sprachfassungen: deutsche Synchronfassung, OmdU, OmeU
Italien, Deutschland 2019
Regie: Isabelle Sandri
Drehbuch: Isabelle Sandri, Giuseppe Gaudino
Darsteller: Anna Malfatti, Moisé Curia, Cosmina Stratan, Heio von Stetten
Kamera: Duccio Cimatti Musik: Epsilon Indi
118 Minuten
Verleih: w-Film
Kinostart: demnächst, Online-Start am 25.05.2021 (Tag der vermissten Kinder)

FILMKRITIK:

Lena und Richi reisen im Wohnmobil durch die Gegend. Sie übernachten auf verlassenen Parkplätzen im Wald und haben wenig Kontakt zu anderen. Die beiden albern herum und verkleiden sich. Offenbar gibt es keinen festen Wohnsitz. Lena ist Richis Püppchen, sein Spätzchen, und sie ist erst ungefähr 10 Jahre alt.

Milia Demetz, eine Kommissarin der römischen Polizei, recherchiert im Internet und ist einem Netzwerk von Pädophilen auf der Spur. Bei ihren Nachforschungen entdeckt sie ein anonymes Video. Es zeigt möglicherweise ein kleines Mädchen, das vor Jahren in Südtirol verschwand und nun, ausstaffiert wie eine Barbiepuppe, vor der Kamera posiert.

In einem Gasthof im Schwarzwald ziehen Lena und Richi die Aufmerksamkeit des Wirtes auf sich, denn Lena spricht Ladin, eine wenig bekannte Sprache, die nur noch in wenigen Bergregionen in Südtirol bekannt ist. Ihr Begleiter hingegen spricht Englisch, Deutsch und Italienisch. Der Wirt gibt seine Beobachtungen und die Bilder seiner Überwachungskamera an die Polizei weiter, und via Interpol gelangen die Informationen zu Milia, die sich nun sicher ist: Das Mädchen, das vom Bergbauernhof verschwand, das Kind im Pädophilen-Portal und die Kleine im Schwarzwald sind ein und dieselbe Person. Milias Wunsch, das Kind zu retten, führt sie auf eine lange, düstere Reise, bis an ihre eigenen Grenzen und darüber hinaus.

Wie Isabelle Sandri das heikle Thema behandelt, zeugt zum einen von einer intensiven Auseinandersetzung mit der Materie, aber auch von beachtlicher Sensibilität. Ihre Bilder zeigen häufig die Relikte einer defekten Gesellschaft: triste Städte und Dörfer mit halb verfallenen Gebäuden und Ruinen. Selten gibt es lebhafte Rot- oder Blautöne, diese Welt ist nicht sehr farbenfroh, was auch für die wenigen Personen gilt, die sich in ihr bewegen. Statt sich in Klischees zu ergehen, wählt Isabelle Sandri einen differenzierten Blick auf den Zustand einer kranken Gesellschaft, die sich selbst und die Welt um sie herum zerstört, und sie zeigt die Schmerzen einer verlorenen Kindheit. Dabei erweist sich die Filmemacherin, die für diesen Film jahrelang bei der italienischen Polizei recherchierte und von der Organisation „Save the Children“ unterstützt wurde, als sehr mutig, denn sie macht aus dem Entführer des Mädchens eine ambivalente Figur, die von Moisé Curia mit großer Feinfühligkeit dargestellt wird – ein kranker Mensch, zutiefst gestört, der sich nach Normalität sehnt.

Die kleine Anna Malfatti spielt das Mädchen Lena ganz souverän und mit kindlichem Überschwang. Wenn sie auf einem Parkplatz tanzt und damit die Aufmerksamkeit aller auf sich zieht, während Richi das Benzin aus den Tanks der anderen Fahrzeuge klaut, dann scheint ihr das wirklich Spaß zu machen. Doch immer wieder ist da diese furchterregende Traurigkeit im Blick, die mehr sagt als eindeutige Bilder. Cosmina Stratan als Polizistin scheint diese Blicke zu verstehen. Sie macht ihre Arbeit nicht nur mit enormem Durchhaltevermögen, sondern auch mit einem Hauch von Schwermut, der ihre großen, dunklen Augen erfüllt – hierin sind sich Lena und Milia absolut ähnlich. Dankenswerterweise verzichtet Isabelle Sandri aber auf jede Form von psychologischen oder psychologisierenden Analysen und verpackt die Geschichte in einen Thriller, der ebenso ungewöhnlich wie spannend ist und endet.

Gaby Sikorski