Abteil Nr. 6 (Hytti nro 6)

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Ein klassisches Erzählmuster verwendet der finnische Regisseur Juho Kuosmanen in „Abteil Nr. 6“, für den er letztes Jahr in Cannes ausgezeichnet wurde. Auf einer langen Zugreise von Sankt Petersburg in den norden Russlands, nach Murmansk, begegnen sich Ende der 90er Jahre eine Finnen und ein Russe – und beginnen auf der langen Reise, die kulturellen Gegensätze der Völker zu überwinden.

Abteil Nr. 6 (Hytti nro 6)
Finnland/ Estland/ Deutschland/ Russland 2021
Regie: Juho Kuosmanen
Buch: Juho Kuosmanen, Andris Feldmanis, Livia Ulman, nach dem Roman von Rosa Liksom
Darsteller: Seidi Haarla, Juri Borissow, Julija Aug, Dinara Drukarowa, Tomi Alatalo, Polina Aug, Galina Petrowa
Länge: 107 Minuten
Verleih: eksystent/S. Lehnert Filmdispo
Kinostart: 31. März 2022

FILMKRITIK:

Eine längere Reise hatte die finnische Studentin Laura (Seidi Haarla) nicht geplant, doch ihre Beziehung zu Irina (Dinara Drukarova) ist am Ende, eine Party von Möchtegern- Intellektuellen, die sich wichtigtuend unterhalten, hat Laura den Rest gegeben. Kurzentschlossen macht sie sich aus dem winterlichen Sankt Petersburg auf in den hohen Norden, Richtung Murmansk.

Ihr Ziel sind die Kanozero Petroglyphen, rund 5000 Jahre alte Steininschriften, die 1997 auf einer Halbinsel im Norden Russlands, in der Region Murmansk, entdeckt wurden. Eine lange Zugfahrt, und ihr Abteil muss Laura ausgerechnet mit Ljoha (Yuriy Borisov) teilen, der mit seinem fast kahl rasierten Schädel aussieht wie ein halbstarker Skinhead. Und sich dementsprechend verhält: Kaum fährt der Zug los beginnt Ljoha Vodka zu trinken, zwischendurch sorgt eine Gurke für etwas Festes im Magen, doch der Suff kommt unweigerlich und mit ihm wenig subtile Anmachversuche.

Nach der wenig erfreulichen ersten Nacht im Zug hätte Laura es wohl nicht für möglich gehalten, doch nach und nach beginnt sie, auch eine andere Seite an Ljoha zu entdecken. Nicht unbedingt eine weiche, aber doch eine fürsorgliche, eine praktisch-pragmatische. Bei längeren Aufenthalten des Zuges macht das Duo kurze Abstecher, mit einem von Ljoha „organisierten“ Auto, Abstecher, bei denen Laura ganz andere Aspekte und Menschen Russlands kennenlernt, als in Sankt Petersburg.

Mit seinem Boxer-Drama „Der glücklichste Tag im Leben des Olli Mäki“ wurde Juho Kuosmanen 2016 bekannt und gewann gleich den Hauptpreis der Cannes-Nebensektion Un Certain Regard. Fünf Jahre später stieg er in den Wettbewerb auf, wo „Abteil Nr. 6“ mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet wurde.

Als Vorlage diente der auch in Deutschland erschienene Bestseller von Rosa Liksom, den Kuosmanen jedoch auf bezeichnende Weise veränderte. Führte die Reise im Roman noch nach Mongolien, führt sie im Film von Sankt Petersburg nach Norden und damit in eine Region, um die es zwischen Russland und Finnland immer wieder Konflikte gab. Um das fragile Verhältnis der Nationen und damit auch das Verhältnis Lauras zu Ljohas zu verstehen hilft es, zu wissen, dass Finnland gut einhundert Jahre eine russische Republik war, die zwar mit weitreichender Autonomie ausgestattet, aber eben nicht unabhängig war. Erst mit Gründung der Sowjetunion wurde auch Finnland zum ersten Mal in seiner Geschichte vollständig unabhängig, entging dann in der Spätphase des Zweiten Weltkriegs nur knapp dem Schicksal etwa der baltischen Staaten, die von der Sowjetunion besetzt wurden.

Laura und Ljoha verkörpern in „Abteil Nr. 6“ nun also Vertreter zweier Nachbarstaaten, die Jahrzehntelang in einem engen, aber auch sehr vorsichtigen und fragilen Verhältnis gelebt haben. Die kulturellen Unterschiede des Duos, ihre Vorurteile, aber auch die Ähnlichkeiten werden auf der langen Zugfahrt auf subtile Weise deutlich. So zurückgenommen Laura dabei agiert, so burschikos, fast grob agiert Ljoha. Man muss diese Typisierung sicher nicht 1:1 auf die Nationen als Ganzes übertragen, das wäre auch nicht im Sinne Kuosmanens. Sein episodischer Reisefilm, ein Road Movie auf Schienen, erzählt auf subtile Weise von der Annäherung zweier Menschen, die während einer langen, langsam Reise entdecken, dass sie viel mehr gemeinsam haben, als das sie trennt.

 

Michael Meyns