Ailos Reise – Grosse Abenteuer beginnen mit kleinen Schritten

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Zwei Jahre lang trotzte das Filmteam um Regisseur Guillaume Maidatchevsky den widrigen Wetterverhältnissen in Lappland, um die frühe Lebensphase eines jungen Rentiers zu dokumentieren. Als Teil einer der letzten wilden Rentierherden unternimmt das im Film auf den Namen Ailo getaufte Tier eine lange Wanderung durch die ursprüngliche Landschaft. Den Part der Erzählerin übernimmt Anke Engelke, die die kinotauglichen Bilder mit Informationen über die Natur Lapplands unterfüttert.

Webseite: nfp-md.de/kino.html

OT: Ailo: Une odyssée en Laponie
Frankreich 2018
Regie: Guillaume Maidatchevsky
Sprecherin: Anke Engelke
Laufzeit: 85 Min.
Verleih: NFP marketing & distribution/Filmwelt
Kinostart: 14. Februar 2019

FILMKRITIK:

„Das ist die Geschichte von Ailo, wie er geboren wurde, wie er lebte und wie er geliebt wurde,“ erklärt die passend gecastete Sprecherin Anke Engelke zu Beginn. Schon hier wirkt „Ailos Reise“ wie ein Märchen, was die Naturdoku einem jüngeren Publikum leichter zugänglich macht. Besonders in den ersten Szenen erinnert der verfrüht geborene Ailo, dessen Mutter sich für die Geburt in ein Waldstück zurückzieht und dadurch den Anschluss an die Herde verliert, an Disneys Tierbabyklassiker Bambi.
 
Deutlich wird die märchenhafte Note auch anhand eines Polarfuchses, der immer mal wieder auftaucht und seine „große Liebe“ sucht – ein Unterfangen, das die Menschen umtreibt, das im instinktgesteuerten Tierreich jedoch weniger bedeutsam ist. Glücklicherweise überspannt der Dokumentarfilm die Vermenschlichung der Tiere nicht, sondern liefert der herzigen Erzählweise zum Trotz viele sachliche Informationen zur Lebensweise der Rentiere.
 
Die Langzeitbeobachtung beginnt und endet im Winter. Dazwischen zeigt der Film die lappländischen Fjorde, Flüsse und Berge genretypisch im Wechsel der Jahreszeiten. Die von Daniel Meyer geführte Kamera ist mal mittendrin im Geschehen, mal auf halbnaher Distanz, und fliegt zwischendurch über die weite Landschaft. Auffällig sind einige Overshoulder-Aufnahmen, bei denen die hinter den Tieren platzierte Kamera mit diesen das Terrain überblickt. Vielleicht wurde hier mit Geweihen aus Jagdstuben getrickst, vielleicht stark herangezoomt. So oder so passt die ungewöhnliche Perspektive gut zur immersiven Wirkung, die der Film erzielen will.
 
Unterstützt wird das Gefühl des Dabeiseins durch den Score von Julien Jaouen. Bei den Landschaftsbildern schwillt die Musik majestätisch an, beim Auftritt von Kleintieren wie Lemmingen fällt sie verspielt aus, bei den Wölfen bedrohlich (in der Berliner Pressevorführung krabbelte ein Junge verständlicherweise auf den Schoß seiner Begleiterin, als die Wölfe zu einer Musik, die fern an den Horrorklassiker „Das Omen“ erinnert, angriffen). Wie bei fast allen Naturdokus läuft der Score beinah ununterbrochen, was schade ist, weil die Geräuschkulisse der Natur so zu einem Gutteil übertüncht wird. Dabei ist das Schnaufen der Rentiere oder das Klappern, wenn die Geweihe der Renhirsche bei den Paarungsduellen aufeinanderprallen, interessanter als die Orchestermusik, die bei Naturfilmen letztlich immer gleiche Muster bedient.
 
Auch die Montage von Laurence Buchmann („Planet Ocean“) trägt zur narrativen Geschlossenheit und Spannungserzeugung bei. Dabei werden – durchaus legitim – mitunter Situationen hergestellt, die zwar den tierischen Verhaltensweisen entsprechen, so aber wohl nie stattgefunden haben. Als Ailos Mutter das frischgeborene Jungtier allein lässt, um den Verbleib der Herde zu klären, fällt ihr Blick auf eine Schnee-Eule, die am Himmel ihre Kreise zieht. Die Montage suggeriert, dass die Eule den schutzlosen Ailo als Beute auserkoren hat. Von einem Baumast aus bangt ein Eichhörnchen mit, während die Mutter zur Rettung eilt. Schnee-Eule, Hörnchen und Rentiere sind nie im selben Bild zu sehen, sondern interagieren durch den Schnitt.
 
Spannung wird auch dadurch erzeugt, dass die Wölfe lang vor ihrem ersten Angriff als Gefahr im Hintergrund angekündigt werden. Zugleich verweist der Kommentar von Anke Engelke darauf, dass die Wölfe oder der ebenfalls als Fressfeind in Aktion tretende Vielfraß (englisch übrigens: Wolverine) keineswegs „böse“ sind, sondern lediglich Instinkten folgen.
 
Bei aller Dramatisierung der durchweg hochwertigen Aufnahmen bildet der Film die Lebensweisen der Tiere adäquat ab. Am Rande spielen menschliche Eingriffe in die Natur eine Rolle, wenn etwa eine große Abholzmaschine die Rentiere nachts aufschreckt. Der in der Natur stets präsente Tod kommt ebenfalls vor. Eins der Rentiere kehrt nach einem Wolfsangriff nicht zur Herde zurück und ein eindrückliches Bild zeigt zwei im Fluss eingefrorene Renhirsche, von denen nur noch die ineinander verkeilten Geweihe aus dem Eis ragen. So entsteht eine unterhaltsam-informative Parabel über das Überleben, Heranwachsen und Sterben in der Wildnis.
 
Christian Horn