Bad Tales (Favolacce) – Es war einmal ein Traum

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Die italienischen Regisseure und Zwillingsbrüder Fabio und Damiano D'Innocenzo entzaubern in ihrer eigenwilligen, pechschwarzen Sozialsatire „Bad Tales“ die Idylle des bürgerlichen Vorstadtlebens. Es geht um Familien, die in einem Vorort von Rom leben und die Tristesse sowie Eintönigkeit des Alltags zu überstehen versuchen. Der Film überzeugt mit visuellem Scharfsinn und behandelt hochaktuelle Themen. Mit dem provozierenden, reißerischen Tonfall und ihrem Hang zu überzogenem, derbem Witz übertreiben es die D'Innocenzo bisweilen allerdings.

Website: www.filmperlen.com/filme/1323-2/

Favolacce
Italien, Schweiz 2020
Regie: Damiano D'Innocenzo, Fabio D'Innocenzo
Drehbuch: Damiano D'Innocenzo, Fabio D'Innocenzo
Darsteller: Elio Germano, Barbara Chichiarelli, Lino
Musella, Gabriel Montesi
Länge: 98 Minuten
Verleih: Filmperlen
Kinostart: 06.01.2022

FILMKRITIK:

Während der langen, sengend heißen Sommerferien herrschen Frust und eine aufgeheizte Stimmung in einer vorstädtischen Reihenhaussiedlung nahe Rom. Hier leben einige Familien, die nirgendwo mehr dazugehören und sich abgehängt fühlen. Darunter Vater Bruno Placido (Elio Germano) und Mutter Dalila (Barbara Chichiarelli), die mit ihren Kindern nach außen wie eine harmlose, zufriedene Familie wirken. Doch unter der Oberfläche brodelt es. Dasselbe gilt für den Einzelgänger Amelio (Gabriel Montesi), der mit seinem Sohn in einem Wohnwagen im Wald wohnt oder Pietro Rosa (Max Malatesta). Er und seine Familie sind mit den Placidos befreundet. Während die Erwachsenen ihrem Ärger in Form von Angebereien und Affären Luft verschaffen, haben die Kinder in ihrem Alltag eigene Probleme. Doch auch sie sind abgestumpft, desillusioniert und zutiefst misstrauisch.

Mit tiefschwarzem Humor und derbem, makabrem Witz dekonstruieren die Regie-Brüder Damiano und Fabio D’Innocenzo die heile Welt einer vermeintlichen italienischen Vorstadtidylle. Es ist ihr zweiter Spielfilm, für den die Zwillinge auf der Berlinale 2020 den Drehbuchpreis gewannen. Das Skript lebt von seiner fragmentarischen Erzählweise, die aus „Bad Tales“ rein formal ein klassisches Episodenstück macht, in dem die einzelnen Personen und Ereignisse miteinander zusammenhängen.

Eindringlich gelingt es den Beiden, die vorherrschende, quälende Hitze des Sommers für den Zuschauer nachvollzieh- und erlebbar zu machen. Sie setzen auf gleißendes Sonnenlicht, grelle Farben und Nahaufnahmen der Gesichter, auf denen sich der Schweiß bildet. Überhaupt nehmen die D’Innocenzos ihre Figuren genau in den Blick, wortwörtlich gemeint: Die Detail- und Nahaufnahmen von Bruno, Armelio, Pietro und all den anderen, meist frustrierten Erwachsenen der porträtierten Siedlung zeigen wenig Appetitliches – aber die Realität. Faltige Gesichter, gelbe Zähne, ungepflegte Intimzonen, ungewaschenes Haar.

Die visuelle Sprache und der harmonische Bildaufbau sind zwei der großen Stärken dieses Films, der keine Sympathieträger und Identifikationsfiguren bietet. Dies macht es für den Betrachter mitunter schwer, so etwas wie Mitgefühl zu entwickeln. Die Schicksale der Handelnden gehen einem auf diese Weise nie besonders nah. Die Protagonisten, vor allem die Erwachsenen, lügen, lästern und tun alles dafür, den Schein des Perfekten vor den Nachbarn, auf die sie insgeheim neidisch sind, zu wahren.

Und die Kinder und Jugendlichen? Die D’Innocenzos zeichnen sie als übersexualisierte, frühreife junge Menschen mit wenig Feingefühl und fragwürdigen Werten sowie Moralvorstellungen. „Bad Tales“ überspitzt natürlich bewusst und will mit seinen satirischen Seitenhieben provozieren. Doch wirkt die Welt, die der Film zeigt, extrem negativ und deprimierend. Nahezu fatalistisch, denn ganz so verdorben ist die Menschheit quer durch alle Altersgruppierungen nicht. Zumal die Geschichte in der bürgerlichen Mittelschicht verortet ist. Und nicht in einem sozialen Brennpunkt oder prekären Milieu – was freilich auch nicht bedeutet, dass es dort so zugeht oder zugehen muss wie in der „Bad Tales“-Siedlung.

Dafür könnten einige der inhaltlichen Schwerpunkte und Aspekte aktueller nicht sein. Sie spiegeln die Sorgen und Nöte vieler Menschen im Jahr 2021 wider und kreisen um Themen, die doch so mancher aus seinem Alltag kennen dürfte: Etwa die Befürchtung, dass die heile (Familien-) Welt irgendwann zusammenbricht oder die Angst vor dem unerbittlichen sozialen Abstieg.

Björn Schneider