chinesischen Schuhe, Die

Deutschland 2004
Regie: Tamara Wyss
Dokumentarfilm
104 Minuten
Verleih: Piffl Medien
Start am 9.6.05
www.pifflmedien.de

Das Leben ist ein langer ruhiger Fluss. Dies suggeriert letztendlich auch die filmische Dokumentation einer Flussfahrt auf dem durch China fließenden Jangtse. Dafür hat sich Filmemacherin Tamara Wyss auf die Spuren ihrer Großeltern begeben, die als Diplomaten vor über 80 Jahren durch die „Drei Schluchten“ unterwegs waren. In „die chinesischen Schuhe“ konfrontiert sie das Gestern mit dem Heute. Einen Kommentar spart sie sich. Den sprechen die vor der Beendigung des weltgrößten Staudammprojektes gedrehten Bilder nämlich selbst.

Mit dem Tagebuch und alten, sehr gut erhaltenen Fotografien ihrer Großmutter im Reisegepäck unternimmt Tamara Wyss eine Reise, die zugleich in die Vergangenheit wie in die Zukunft führt. Menschen und Zeitzeugen zu finden, die sich eventuell noch an die Großeltern erinnern könnten, ist 80 Jahre später nahezu unmöglich. Mehr noch wenn man mitbekommt, wie sich jeder der mit den alten Schwarz-Weiß-Fotografien konfrontierten Chinesen anders an das Aussehen der inzwischen veränderten Umgebung erinnert.

Der Großvater war damals als Konsul des Deutschen Reiches in Chengdu, der Hauptstadt der südwestlichen Provinz Sichuan, eingesetzt. Vier Monate dauerte der Umzug und damit die Reise des frisch verheirateten Paares mit dem Schiff von Deutschland über Nanking den Jangtse hinauf bis Chungking. Von dort ging es noch ein Stück über Land bis in die Hauptstadt. Beeindruckend zu hören, wie Boote damals von Menschenhand flussaufwärts gezogen wurden. Welche Knochenarbeit das war, davon zeugen heute noch die Spuren der dicken Hanfseile in den am Ufer aufragenden Felsen.

Immer wieder liest die Enkelin Passagen aus den Tagebuchaufzeichnungen ihrer Großmutter. Der Stil ist kurz und prägnant, manchmal amüsant. „Uns müssten Federn wachsen von den vielen Hühnern, die wir essen sollen“, heißt es einmal. An anderer Stelle bezeugen die Bilder von heute den Unterschied zu einst. Dort, wo die Großmutter sich einst mit einer Sänfte die vielen Stufen zu einer Stadt hinauftragen ließ, fährt heute ein Schrägaufzug. Zwangsläufig beschreibt der Film den wirtschaftlichen wie auch gesellschaftlichen Wandel Chinas hin zu einer der größten Ökonomien der Welt. Chungking mit seinen Wolkenkratzern zum Beispiel sieht aus der Ferne aus wie all die anderen vom industrialisierten Westen her bekannten Metropolen – und wirkt doch, so fern jeglicher Zivilisation, irgendwie fremd. Auch wenn sich die Großmutter in dem für sie exotischen land wohl fühlte: sie blieb eine Fremde. Kontakt zu chinesischen Frauen, so ist aus Tagebuchaufzeichnungen zu schließen, schien sie nicht gehabt zu haben.

Manches Dorf am Ufer wird in absehbarer Zeit nicht mehr sein. Zurückgehend auf eine Idee von Sun Yat-sen, dem Gründer der chinesischen Republik, entsteht seit 1993 der „Drei Schluchten“-Staudamm, der den mittleren Teil des mit 5800 Kilometern drittlängsten Flusses der Erde fluten und dabei über 1700 Dörfer, 116 Ortschaften und 1600 Fabriken von der Landkarte tilgen wird. Nicht zu vergessen die Zwangsumsiedlung von bis zu zwei Millionen Chinesen. Kommentare zu dieser Situation hat Tamara Wyss durchaus untergebracht, bringt sie jedoch, ihrem Stil folgend, eher beiläufig unter. Auch der Verweis auf die im Titel angesprochenen chinesischen Schuhe ist von dieser Art. Mit ihnen deutet Tamara Wyss auf die im alten China noch übliche Sitte, chinesischen Mädchen während des Wachstums die Füße einzubinden, hin. Verkrüppelte Damenfüßchen nämlich galten zu Kaisers Zeiten als schick und sexy.

Wie der majestätisch sich vorwärtsbewegende Jangtse fließt auch diese filmische Zeitreise gemächlich dahin. Spektakuläres ist nicht zu erwarten, Tamara Wyss erweist sich hier als souveräne Erzählerin, die ihr Publikum auf eine Entdeckungsreise in eine andere Zeit und eine andere Kultur mitnimmt. Ein wenig erfordert „Die chinesischen Schuhe“ in seiner unaufdringlichen, auch auf Nebensächlichkeiten eingehenden Art aber auch eine Bereitschaft, sich in buddhistischer Genügsamkeit zu üben.

Thomas Volkmann