Die Welt jenseits der Stille

Zum Vergrößern klicken

Ungewöhnliche Perspektiven als Annäherung an eine weltweite Krise: In zwölf kleinen Geschichten entwickelt sich der Blick auf den Planeten Erde in der Corona-Pandemie. Dabei geht es nicht um die Krankheit selbst, sondern um einzelne Persönlichkeiten und um ihr Leben in einer unerwarteten, neuen Situation. Arm und Reich, Alt und Jung … die einzelnen Schicksale sind so unterschiedlich wie die Standorte. Manuel Fenns Dokumentarfilm kombiniert die persönlichen Erfahrungen seiner Protagonisten zu einem stimmungsvollen, visuell gelungenen Kunstwerk universeller Einigkeit.

Website: https://www.24-bilder.de

The World Beyond Silence
Dokumentarfilm
Deutschland 2021
Regie, Buch: Manuel Fenn
Länge: 119 Minuten
Verleih: 24 Bilder
Kinostart: 2.9.2021

FILMKRITIK:

Der Film beginnt im März 2020: Eine Schafherde wird zur Quelle getrieben, alles ist normal, scheinbar wie immer. Aber tatsächlich ist praktisch die gesamte Welt im Pausenmodus. Fast überall gilt ein Lockdown. Die Straßen sind menschenleer. In Rom lebt die Altenpflegerin Sofia allein und beinahe wie eine Gefangene. Sie kann nicht mehr in ihre polnische Heimat zurück, nachdem ihr Schützling gestorben ist. Währenddessen lernt Baby Dante in London das Laufen. Dantes Mutter kommt aus Argentinien und hält den Kontakt mit den Eltern per Videokonferenz. Sie machen sich große Sorgen. In Berlin lebt der junge Chinese Chenyun als Kung Fu-Trainer. Sein Studio ist geschlossen, und Chenyun trainiert allein in der Sporthalle. Feel ist DJ und Songtexter in Moskau. Seine Freundin Mascha ist frisch verliebt in Feels besten Freund – sie hat ganz und gar nichts gegen die Selbstisolation einzuwenden. Endlich hat sie genug Zeit für die Liebe. Ein blinder Mann in Kuala Lumpur entdeckt die Stadt neu. Plötzlich hört er die Vögel singen, und er fragt sich: „Bin ich hier der Einzige?“

Same same but different … Ob in Cochabamba, Bolivien oder im brasilianischen Alto Xingu, in Nairobi, New York oder Rio – die Bilder der äußeren Welt gleichen sich: Die Erde scheint sich viel langsamer zu drehen. Das Leben der Menschen wird durch einen äußeren Umstand stark verlangsamt. Ein bolivianisches Ehepaar steht kurz vor der Trennung und zofft sich nur noch, ein indigener Stamm mitten im Amazonas-Regenwald versucht mit traditioneller Medizin und Aufklärung dem Virus zu entkommen, eine Schuhputzerin in Nairobi wird aufgrund des Lockdowns von ihrer Tochter getrennt, während ein obdachloser Pizzabote in New York von einer neuen Bleibe träumt. Noch mehr Schicksale entfalten sich: eine Israelin, die zu ihrer orthodoxen Familie zurückkehren muss, ein schwuler Sozialarbeiter in einer der Favelas von Rio de Janeiro …

Nicht nur die Persönlichkeiten im Film, sondern die gesamte Menschheit ist mit dem konfrontiert, was die meisten nur noch „das Virus“ nennen. Das Leben hat an Fahrt verloren, der Alltag muss neu gestaltet werden, und die Zukunft ist ungewiss. Viele sind ungeduldig, frustriert, gestresst oder ängstlich. Jeder Mensch für sich entwickelt eigene Hoffnungen und Perspektiven. Der Berliner Kung Fu-Trainer wünscht sich in Deutschland mehr Politiker, die Befehle geben, und der New Yorker Jorge trägt keine Maske, weil Präsident Trump keine trägt.

Manuel Fenn fängt den Alltag in der Pandemie ein und nähert sich dabei immer stärker den Menschen selbst. Dabei geht es nicht um Statistiken, Wohlverhalten und schon gar nicht um medizinische oder politische Themenbereiche, die die letzten anderthalb Jahre medial beherrscht haben. Nein: Fenn kombiniert individuelle Momentaufnahmen, er erklärt nicht, sondern lässt seine Protagonisten selbst sprechen. Er nähert sich seinen Figuren immer mehr an, gibt ihnen viel Raum und Zeit zum Erzählen. In aller Ruhe zeigt er Szenen aus dem Alltag und wechselt dabei zwischen den Schauplätzen hin und her. Dadurch und durch die vignettenhafte Erzählform entwickelt sich der Film nicht nur chronologisch, sondern auch inhaltlich. Manches klärt sich im Laufe der Zeit, wie das nun mal so ist im Leben, und vieles verändert sich zum Besseren. Der Blick über den Tellerrand hinaus in die Welt schafft eine eindrückliche Atmosphäre universeller Einigkeit. Am Ende kommt die Schafherde an der Quelle an …

Zwölf Standorte, zwölf Protagonisten, zwölf individuelle Geschichten zwischen Ungeduld, Beziehungsstress und innerer Einkehr – auf diese Weise ergeben sich neue Sichtweisen, die optimistisch stimmen.

Gaby Sikorski