Island mit seiner Landschaft von betörender Wildheit bildet den Hintergrund für ein Roadmovie, das gleichzeitig eine ziemlich schwarze Komödie ist: An der Westküste Islands ist Jón mitsamt seiner Mutter im Schneckentempo unterwegs, um ihr einen Herzenswunsch zu erfüllen, und er muss sich beeilen, denn die Mama ist bereits tot.
Isländischer Humor vom Feinsten inklusive Melancholie, unterkühltem Charme und lakonischer Kürze – atmosphärisch dicht und komplett in Schwarzweiß gehalten, ist der Film ein kleiner Leckerbissen für Arthouse-Fans.
Island/Estland 2022
Drehbuch und Regie: Hilmar Oddsson
Mit: Þröstur Leó Gunnarsson, Kristbjörg Kjeld, Tómas Lemarquis Arnmundur, Ernst Björnsson, Pálmi Gestsson
Kamera: Óttar Guðnason
Musik: Tõnu Kõrvits
Länge: 112 Minuten
Verleih: Prokino
Kinostart: Winter 2023/24
FILMKRITIK:
Direkt neben den faszinierenden Mondlandschaften in Islands Inneren liegen die Westfjorde, die selbst den wohlwollendsten Betrachter bestenfalls an Abraumhalden erinnern. Vor dem Hintergrund dieser bizarren Trostlosigkeit spielt Hilmar Oddssons melancholisch komisches Roadmovie-Abenteuer um einen Mann, der durchs Land fährt und dabei mit seiner Vergangenheit konfrontiert wird. Zu Beginn lebt Jón allein mit seiner Mutter und dem Hund Breschnew auf einem einsamen Hof inmitten der Westfjorde. Mutter und Sohn vertreiben sich die Zeit mit Pulloverstricken. Weil die Frau Mama ihren Tod nahen fühlt, befiehlt sie ihrem Sohn, dafür zu sorgen, dass sie in ihrem Geburtsort Eyrarbakki begraben wird. Außerdem verbietet sie ihm, allein in den Westfjorden zurückzubleiben.
Und dann kommt es, wie es kommen muss: Die Mutter stirbt – der „call for action“ für Jón. Wie immer gehorcht er seiner Mutter aufs Wort, schon weil er weiß, dass sie keinen Widerspruch duldet. Er setzt ihre Leiche, nicht ohne ihrem Gesicht ein groteskes Makeup verpasst zu haben, auf den Rücksitz seiner altersschwachen Limousine, nötigt den widerwilligen Hund zur Mitfahrt und macht sich auf den Weg nach Eyrarbakki – mit maximal 20 Stundenkilometern. Diese entschleunigte Auffassung von einer Autofahrt stößt bei anderen Verkehrsteilnehmern nicht gerade auf Zustimmung: Jóns Mission und sein Fahrstil bergen einiges Konfliktpotenzial, das die Regie in genüsslicher Langsamkeit zelebriert. Überhaupt scheint es, als ob die Komik in diesem Film auch durch Dehnung der Zeit erzeugt wird, was unter anderem von Laurel & Hardy gepflegt und kürzlich in den „Banshees of Inisheren“ wieder aufgegriffen wurde.
„Driving Mum“ ist dabei ein Balanceakt zwischen tiefer Traurigkeit und Hochkomik mit faszinierenden Bildern, die nicht nur die Weite, sondern auch die auf Dauer zermürbende Ödnis der isländischen Westküste festhalten. Wie Jón-Darsteller Thröstur Leó Gunnarsson auf alle Unbillen reagiert oder besser gesagt: spät oder gar nicht reagiert, die der Roadtrip selbst, die mehr oder weniger untote Mutter – Mama nörgelt auch als Leiche weiter – und exzentrische Begegnungen ihm bescheren, und wie er souverän die gesamte Klaviatur hilflosen Entsetzens bespielt, ist grandios und trotz der absurden Situation stimmig. Gunnarsson ist in seiner Rolle als stoischer, schweigsamer und zur Melancholie neigender Mann an der Schwelle zum Alter die Idealbesetzung und hält stets die Balance zwischen Abstrusität und Normalität. Das ist gar nicht so einfach, aber notwendig, um überzeugend zu wirken.
Jedoch denunziert der Film seine Figuren nicht: So grotesk die Situationen auch werden, in die Mann, Mutter und Hund hineindriften, sie bleiben plausibel, und es steckt auch immer eine gewisse Zuneigung in der Zeichnung der Personen. Ob es die alkoholisierten Damen sind, die Jón unverhohlen anbaggern, als er den Weg in das vermutlich tristeste Ausflugslokal der Welt findet – inklusive eines schmierigen Entertainers, ob ein cholerischer deutscher Tourist oder der krebskranke Wanderer aus Frankreich: Irgendwie sind sie alle gemeinsam mit Jón Geschwister im Geiste, denn ihrer aller Schicksal erfüllt sich in den Westfjorden. Nach und nach enthüllt sich auch die Ursache für Jóns Dauer-Melancholie: Da gab es einst eine große Liebe …
Doch mehr soll nicht verraten werden zu diesem originellen Film, der gleichzeitig herrlich bodenständig und wunderbar abgehoben ist. Absolut sehenswert.
Gaby Sikorski