Eleanor & Colette (Wenn dir Flügel wachsen)

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Die Psychiatrie als Raum ohne Menschlichkeit prangerte erstmals der Kultklassiker „Einer flog übers Kuckucksnest“ an. Das mit fünf Oscars ausgezeichnete Drama sorgte damals für ein Umdenken. Ein Kassenschlager mit positiven Nebenwirkungen, der zur rechten Zeit die Leinwand eroberte. Nun rückt Regisseur Bille August das Tabuthema wieder ins Blickfeld. Berührend zeigt der dänische Oscar-Preisträger den Kampf der mutigen Psychiatriepatientin Eleanor Riese, basierend auf einer wahren Geschichte, gegen die Pharmaindustrie für mehr Selbstbestimmung.  Grandios unterstützt sie dabei ihre streitbare Anwältin. Exzellent verkörpert werden die beiden Alltagsheldinnen von der zweifachen Oscar-Preisträgerin  Hilary Swank und dem Londoner Ausnahmetalent Helena Bonham-Carter.

Webseite: www.warnerbros.de

USA, Deutschland
Regie: Bille August
Darsteller: Hilary Swank, Helena Bonham Carter, Jeffrey Tambor, Johan Heldenbergh, Cynthia Hoppenfeld,  Edward Bennett, Vincent Riotta, Doreen Mantle, Florence Bell, Michael Culkin, Douglas Reith
Länge: 115 Minuten
Verleih: Warner Bros. Pictures Germany
Kinostart: 3. Mai 2018

FILMKRITIK:

„Ein schönes Vermächtnis wäre für mich“, sagt Hilary Swank, „einige gute Filme zu hinterlassen, die den Zuschauern sagen, dass sie im Leben niemals aufgeben sollen.“ Diesem Ziel ist die geborene Draufgängerin wieder ein Stück näher gekommen. Denn genau diese Botschaft vermittelt der neue Film der 43jährigen, um die es längere Zeit still geworden war. Zudem basiert die David gegen Goliath-Fabel auf einer wahren Story: Der bewegenden Geschichte um mehr Selbstbestimmung und dem unerschütterlichen Kampf zweier mutiger Frauen.

San Francisco 1985, psychiatrische Abteilung St. Mary's Hospital. Eleonor Riese (Helena Bonham Carter) wehrt sich verzweifelt. Vier Pfleger zerren die schreiende Frau über den Flur in die Isolationszelle und schnallen sie fest. Grund: Die mit paranoider  Schizophrenie diagnostizierte Patientin weigert sich das ihr verordnete Psychopharmaka einzunehmen. Doch sie kennt die starken Nebenwirkungen dieses Medikaments, die ihren Zustand nur verschlimmern. Sie will lediglich selber entscheiden, welches Präparat sie nimmt. Stark mitgenommen sucht sie nach dieser Zwangsbehandlung nach Hilfe, um dieses Gefühl des Ausgeliefertsein nicht länger ertragen zu müssen.
 
Mutig erobert sie sich das Telefon am Gang und wählt die Nummer einer Selbsthilfeorganisation. Sie hat Glück. Die Anwältin für Patientenrechte Colette Hughes (Hilary Swank) am anderen Ende der Leitung spürt ihre Not. Als sie ihre neue Klientin trifft, erkennt die patente Juristin, dass ein Rechtstreit in Bonhams Fall für hunderttausende von gequälten Psychiatriepatienten in einer ähnlichen Situation ein wichtiger Meilenstein hin zu mehr Selbstbestimmung sein könnte.  In einem so gut wie aussichtslosen Verfahren stellen sich die beiden gegen ein übermächtiges Establishment aus Pharmaindustrie und Ärzten.
 
Trotzdem schafft es das ungleiche Paar, den Fall bis zum obersten Gerichtshof zu bringen. Ein gemeinsamer Kampf um Gerechtigkeit, bei dem die ebenso exzentrische wie liebenswerte Eleanor das Leben der arbeitssüchtigen Colette auch durcheinanderwirbelt. Denn längst leidet die Beziehung zu ihrem Freund Robert (Johan Heldenbergh) unter Colettes übertriebenen Pflichtbewusstsein.  Und letztlich macht sie ihr Weg durch alle Instanzen zu mehr als zu Mandantin und Klientin: Sie werden Freundinnen, die sich Halt geben, voneinander lernen und gegenseitig ihr Leben verändern.
 
Geradlinig chronologisch und faktenbasiert inszeniert der dänische Oscar-Preisträger und zweifache Cannes-Gewinner Bille August, der mit erfolgreichen Literaturverfilmungen wie „Das Geisterhaus“ und „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“ brillierte, sein erschütterndes Medizin-Drama. Der 69jährige rückt damit ein Tabuthema ohne übertriebenes Pathos erneut ins Blickfeld. Einst hatte der Kultklassiker „Einer flog übers Kuckucksnest“ einen nennenswerten Einfluss auf die Behandlung psychisch Kranker. Die sogenannte Lobotomie, die grausam, riskanten Gehirnoperationen, wurden abgeschafft. Doch die Elektroschocks, bei denen Patienten sich danach in so starken Krämpfen winden, dass sie manchmal Knochenbrüche erleiden, werden bereits wieder gepriesen
 
Mit ihrer gesamten schauspielerischen Kraft verkörpert das Londoner Ausnahmetalent Helen Bonham-Cater berührend die Figur der letztlich unerschrockenen Alltagsheldin  aus der Psychiatrie. Die Britin gehört zu den wandelbarsten Schauspielerinnen der Traumfabrik. Mit ihrem ehemaligen Partner, Erfolgsregisseur Tim Burton stellte die 51jährige ein echtes Power-Duo dar. Im exzellenten Zusammenspiel mit der zweifachen Oscar-Preisträgerin  Hilary Swank zeigt sich die Stärke der beiden Charakterdarstellerinnen, ganz direkt und ohne Gefälligkeit.
 
Ihr Kampf für mehr Selbstbestimmung und Menschlichkeit hat einen realen Hintergrund. Die Amerikanerin Eleanor Riese erreichte 1987 mit Hilfe ihrer Anwältin ein Urteil, das für Psychiatriepatienten in den Vereinigten Staaten einen Meilenstein darstellt: Der State Court in Kalifornien entschied, dass auch zwangseingelieferte Patienten das Recht haben, über die Anwendung von Psychopharmaka informiert zu werden und mitzubestimmen. Eine unfreiwillige Behandlung konnte von da an nur noch mit einer richterlichen Entscheidung durchgesetzt werden.
 
Luitgard Koch