Freitstaat Mittelpunkt

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Die Dokumentation „Freistaat Mittelpunkt“ erzählt die Geschichte von Ernst Otto Karl Grassmé, einem Opfer der NS-Rassenideologie. Grassmé wurde von den Nazis zwangsinterniert und entwürdigt, später erfuhr er von der BRD nur Missachtung. Eine Wiedergutmachung blieb ihm verwehrt. Mittels einer ungewöhnlichen aber einfühlsamen, eher assoziativen Umsetzung, in der Ton und Bild auseinanderdriften, schafft der Film Zugang zu einer fragilen, empfindsamen Seele. Ein Werk zwischen Dokumentarfilmkunst, Porträt, Erinnerungskultur und historischer Aufarbeitung.

Website: www.freistaat-mittelpunkt.de

Dokumentation
Deutschland 2019
Buch & Regie: Kai Ehlers
Länge: 79 Minuten
Verleih: Kai Ehlers Film
Kinostart: 9.9.2021

FILMKRITIK:

Die Nazis diagnostizierten bei Ernst Otto Karl Grassmé in den 30er-Jahren eine Schizophrenie, ließen ihn zwangssterilisieren und internieren. Im Sinne der Erbgesundheit der Volksgemeinschaft wurden Menschen wie Grassmé aus der Gesellschaft entfernt. Er überlebte und entschloss sich 1939, kurz bevor die Nazis ihr Euthanasieprogramm starteten, zum selbst gewählten Ausstieg aus der Zivilisation. Fortan lebte er abgeschieden und ohne Kontakt zu anderen Menschen im Wald. Eine Wiedergutmachung oder Entschuldigung von Seiten des Staates für die an ihm begangenen Gräueltaten blieben aus – und eine Entschädigung erreichte den gebrochenen Mann erst kurz vor seinem Tod.

Regisseur Kai Ehlers wählt für das Porträt von Grassmé, dessen Schicksal von den Behörden im Nachkriegsdeutschland nie ernst genug genommen wurde, eine mutige Herangehensweise. Denn die Bilder und das Gesagte gehen hier gänzlich eigene, unterschiedliche Wege. Sie scheinen auf den ersten Blick nicht zusammenzupassen doch je länger der Film dauert, desto mehr erschließen sich einem die Innenperspektive und Emotionen des Porträtierten und desto besser kann man die Aufnahmen und Szenen einordnen.

Ehlers führt uns durch bewaldetes Moor, Waldwiesen und -wege, von Nebel umhüllte Ackerflächen und prachtvolle Landschaften. Zwischendurch sieht man Szenen vom traditionellen Landleben, eine Schlachtung von Hühnern, bäuerliches Treiben, Lagerfeuer und Naturidyll. Es sind die Orte und Regionen, in denen Grassmé einst gelebt hat. Der Wald, der früher sein Zuhause war und in den er sich zurückgezogen hat. Auf der Tonspur konfrontiert der Film den Zuschauer dann mit den eigenen Worten des 1991 verstorbenen NS-Opfers. Die Off-Kommentierung setzt sich aus seinen persönlichen Notizen sowie Auszügen aus Tagebucheinträgen, Arztbefunden und vor allem den Briefen an eine gewisse Katja zusammen. Katja war ein Mädchen aus der früheren Nachbarschaft Grassmés.

Die Ton-Bild-Schere, also die Diskrepanz zwischen Bildern und der über die Tonspur vermittelten Inhalte sowie des gesprochenen Textes, ist herausfordernd und verlangt die konzentrierte Auseinandersetzung mit Grassmés tragischer Lebensgeschichte. Aber sie erweist sich als genau richtige Herangehensweise und filmische Umsetzungsmethode, um dem Betrachter Grassmés ganz eigene Sicht auf die Geschehnisse, in dessen eigenen Worten, darzulegen.

Die zitierten Textpassagen und Briefauszüge gewähren Einblicke in das Innerste eines leidenden, bisweilen kraftlos wirkenden Mannes. Dessen Ausdrucksweise und Tonfall aber auch auf eine beachtliche Warmherzigkeit und hochsensible, empathische Art schließen lassen und immer wieder humorvolle Einschübe und lakonische Untertöne beinhalten – trotz des Erlebten. Wir erhalten Zugang zu einer liebenswürdigen, komplexen Persönlichkeit und einem Menschen, der letztlich natürlich auch exemplarisch und stellvertretend für viele andere Geschändeten der NS-Rassenideologie, Eugenik und Euthanasie steht. Insofern ist „Freistaat Mittelpunkt“ nicht zuletzt ein Film gegen das Vergessen und für das Erinnern.

Björn Schneider