Harald Naegeli – Der Sprayer von Zürich

Zum Vergrößern klicken

Harald Naegeli, der „Sprayer von Zürich“ genannt, sprayte 1977 seine ersten Strichmännchen an die Betonwände von Zürich. Der inzwischen 81jährige gilt seitdem als Vorläufer der Street Art. Bis heute spaltet der Junggebliebene mit verschmitztem Humor die öffentliche Meinung: Macht er Kunst oder handelt es sich bei seinen Graffiti um Sachbeschädigung? Von seiner freigeistigen und systemkritischen Haltung hat Naegeli freilich auch im Alter nichts eingebüßt. Das zeigt eindringlich das feinfühlige Porträt von Regisseurin Nathalie David, dessen schlichter wie berührender Höhepunkt am Ende erfolgt, unterlegt mit einer wunderbaren Ballade von Sophie Hunger. Ein hellsichties Kinoerlebnis, gerade in Corona-Zeiten.

Website: www.missingflims.de

Dokumentarfilm
Deutschland, 2021
Regie und Buch: Nathalie David
Darsteller: Harald Naegeli, Benjamin von Blomberg, Christoph Doswald, Regine Helbling, Markus Kägi, Corine Mauch, Pfarrer Christoph Sigrist
Länge: 99 Minuten
Verleih: missingFilms
Kinostart: 2.12.2021

FILMKRITIK:

Kunstwerk oder Straftat? Diese Frage provoziert Harald Naegeli, seit er 1977 als es hieß „Züri brännt“ seine erste Strichfigurenzeichnung an eine öffentliche Mauer sprayte. Während die Staatsanwaltschaft dem Sprayer von Zürich 1983 mit internationalem Haftbefehl auf den Fersen war, ist er für viele andere ein Pionier der Street Art Jahrzehnte vor Banksy. Heute, mit über 80 Jahren, ist er aus dem Düsseldorfer Exil nach Jahrzehnten in seine Heimat zurückgekehrt. Dort erlebt er seine Hassliebe mit der Stadt Zürich wieder. 2020 wieder in Zürich sprayte er während des ersten Covid-19-Lockdowns über fünfzig „Totentänze“ in der Stadt. Der Kanton verklagte ihn, die Stadt verlieh ihm den Großen Kunstpreis.

Die unterhaltsame Auseinandersetzung mit dem kontrovers diskutierten, vielseitigen und äußerst charismatischen Schweizer Künstler regt zum Nachdenken. Seine Graffiti sind minimalistisch, doch von ästhetischer Wucht. „Mein Lebensimpuls ist das Zeichnen“, verrät er. Die wenigen, gezielt gesetzten Linien verdichten sich zur mehrdimensionalen Bedeutung und erfassen das Dargestellte im Kern. Naegelis Markenzeichen sind menschliche oder tierische schlanke Figuren, die auf den Fassaden, meist in Schwarz, herumtänzeln. Besonders bekannt ist die Totentanzserie. Ein Sensenmann tritt einem fröhlich mit ausgestreckten Gliedern entgegen. Erinnern soll er nicht nur an die Sterblichkeit des Menschen.

„Die Botschaft ist auch achte das Leben“, betont der Künstler. Gleichzeitig prangert er damit die Nichtigkeit kapitalistisch geprägter, überbürokratisierter und schließlich leistungsorientierter Gesellschaftsstrukturen an. Dazu passt ein weiteres häufiges Motiv von Naegeli, nämlich die Wanze. Für ihn repräsentiert sie den Staatsbeamten und dessen parasitäre Natur. Als „Harry Wolke“ schreibt er an die „Freunde der Wolke“ philosophische und rebellische Nachrichten über seine neuesten Graffiti und Zeichnungen, um seine flüchtige Kunst, seine Utopien, etwas länger festzuhalten.

Virtuos schlägt Naegli den Bogen von der Höhlenmalerei über den Totentanz bis hin zu Dadakünstlern wie Hugo Ball und letztlich auch zu Aktionskünstler Joseph Beuys. Der unterstützte ihn auch als er vor einer Haftstrafe nach Deutschland flüchtete. Filmmaterial aus dem Archiv zeigt seine Fürsprache, um einen Gefängnisaufenthalt zu verhindern. Und auch Politiker wie Willy Brandt versuchten die Behörden umzustimmen. Wenn Naegli in der erhellenden Doku über seine Zeit im Lübecker Gefängnis berichtet klingt das schier unglaublich.

„Jeder will seine kleine Macht ausüben. Das ist ja so bekannt bei den Beamten“, weiß er. In der Keramikabteilung musste er Teller bemalen und selbst zum Tütenkleben zwang man ihn. Pfiffig wie er war, malte er jedoch in jede Tüte eine kleine Zeichnung - und aus einem von ihm in der Knast-Freizeit bemalten Keramikteller ein weiteres Kunstwerk. Immerhin hängt seit einem Jahr über dem Eingangstor des Züricher Schauspielhauses Schiffsbau ganz offiziell eine Neon-Installation nach einem Entwurf Naegelis. Im Gespräch mit dem Co-Intendanten Benjamin von Bloomberg freut sich der junggebliebene Künstler über diesen Schachzug.

„Meine Figuren provozieren die Menschen zum Nachdenken oder Wegputzen“, sagt Naegli und in seinen Augen blitzt sein typischer Schalk auf. In seinem Züricher Atelier malt er inzwischen auch apokalyptische Bilder. Beeindruckend zeigt das sensible Porträt auch, wie Naegli ganz unprätentiös mit der Endlichkeit seines Daseins umgeht. „Ich habe keine Angst vor dem Tod, aber vor der Sterberei“, verrät der krebskranke Künstler. Und zu seinen Graffitis gibt er dem Zuschauer nachdenkliches mit auf den Weg: „Mein Totentanz läutet die globale Katastrophe, die erst noch kommt, ein. Die Übel, die wir kennen, sind nennbar. Die noch kommen, unbekannt. Es gilt den Barbaren, der immer wieder aufsteht, in Schranken zu halten! Die Kunst ist dabei das beste Mittel!“.

Luitgard Koch