I Miss You

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Das Theaterstück avancierte zum Coup in Bolivien und sorgte für eine nationale Diskussion über Diskriminierung und Homophobie. Das Land schickte die Verfilmung prompt ins Oscar-Rennen. Die Story ist so schlicht wie ergreifend. Nach dem Selbstmord seines Sohnes begibt sich der konservative Vater auf Spurensuche und entdeckt dessen sexuelle Orientierung. Dem anfänglichen Hass folgt allmählich Verständnis und schließlich Akzeptanz. Mit Venedig-Gewinner Oscar Martínez sowie Almodóvar-Muse Rossy de Palma ist das bewegende Drama hochkarätig besetzt. Der schwule Sohn wird in Rückblenden verfremdend von diversen Doppelgängern gespielt - stolze 30 Gabriel-Darsteller verzeichnet der Abspann! Bisweilen etwas viel verschachtelter Theaterzauber für die Leinwand. Das tränenreiche Coming-out sowie ein furiose Finale haben freilich fast Klassiker-Qualitäten.

Webseite: www.pro-fun.de

Bolivien 2019
Regie: Rodrigo Bellott
Darsteller: Oscar Martínez, Rossy de Palma, Fernando Barbosa, Rick Cosnett, Dominic Colón, Jose Duran
Filmlänge: 106 Minuten
Verleih: PRO-FUN MEDIA Filmverleih
Kinostart: 8. Oktober 2020

FILMKRITIK:

„Du sollst dich schämen! Solche Leute gibt es nicht in unserer Familie!“. Der Ton ist gereizt zwischen Jorge aus Bolivien und dem jungen Sebastian in New York. Der eine hat gerade seinen Sohn Gabriel verloren. Der andere war lange Zeit dessen Liebhaber. Von der sexuellen Orientierung von Gabriel ahnte der Vater nichts. Beim Aufräumen gerät er zufällig an die Skype-Nummer in New York und wählt. Zunächst reagiert Sebastian gelassen auf die Vorwürfe des konservativen Anrufers. Als er vom Tod seines Ex-Lovers erfährt, kippt die Stimmung: „Sie haben ihn getötet. Schande über Sie, der den eigenen Sohn nicht einmal kannte!“.

Der heftigen Streit-Ouvertüre per Skype folgt eine nicht minder rabiate Begegnung in der Wirklichkeit. Der Vater reist nach New York, um mehr über Gabriel zu erfahren. Als er bei dessen trauerndem Ex-Freund vor der Tür steht, reagiert dieser abweisend mit einer Kaskade von Vorwürfen. Erst ein hilfsbereiter Mitbewohner sorgt dafür, dass Jorge ein Dach über dem Kopf bekommt - der Beginn einer wunderbaren Freundschaft zwischen den ungleichen Männern.

Mit Rückblenden und Zeitsprüngen erzählt das Drama, wie Gabriel und Sebastian sich im Kaufhaus zufällig begegneten und zum Liebespaar wurden. Als weitere dramaturgische Ebene erzählt ein eingebautes Theaterstück die Lovestory parallel aus etwas anderer Perspektive - mit diversen Doppelgängern von Gabriel! Regisseur Rodrigo Bellott hat sein überaus erfolgreiches Bühnenstück für die Leinwand adaptiert, entsprechend kunstvoll (bisweilen verkünstelt) fällt die ambitionierte Verfilmung aus. Bei den sarkastischen Queer-Quasseleien selbstgefälliger Diven der New Yorker Szene wäre weniger allemal mehr gewesen. Überzeugend fallen derweil die emotionalen Elemente aus: Die langsame Verwandlung des homophoben Jorge zum verständnisvollen Vater. Die erst zögerliche, dann rigorose Liebe von seinem Sohn Sebastian. Schließlich sein tränenreiches Coming-out vor der älteren Schwester - das der Vater später aufgezeichnet auf dem Smartphone finden wird.

Für seine Rolle in „Der Nobelpreisträger“ wurde Oscar Martínez vor vier Jahren in Venedig mit dem Volpi Cup ausgezeichnet. Hier zeigt der Argentinier einmal mehr, über welch enorme charismatische Leinwandpräsenz er verfügt und wie sehr ihn die Kamera liebt. Souverän bewältigt er die emotionale Achterbahn, die ihn nach dem Suizid seines Sohnes erwartet. Trauer, Wut, Verachtung, Verständnis, Akzeptanz - Martinez spielt mit großer Präzision und scheinbarer Leichtigkeit auf der Klaviatur der Gefühle.

Sein Filmsohn Gabriel, alias Jose Duran, hat es nicht ganz so einfach im Verfremdungs-Spektakel. Er muss sich die Rolle mit zunächst drei Doubles teilen, die später beim Finale im Theater auf 30 Doppelgänger anwachsen. Mit seiner zehnminütigen Coming-out Rede sorgt er auf jeden Fall für Gänsehautfaktor.

Für Regisseur Rodrigo Bellott, den einstigen Casting-Direktor von Steven Soderbergh, ist das autobiographische Werk erst sein dritter Film. Bereits mit seinem Debüt „Sexual Dependency“ lieferte er 2003 den ersten bolivianischen Oscar-Kandidaten überhaupt. Wenngleich es mit dem Academy Award auch beim zweiten Anlauf nicht geklappt hat, beim Festival von Palm Springs gab es für „I Miss You“ den Publikumspreis - und vom Branchenblatt „Variety“ wurde der 42jährige Bolivianer nicht umsonst zu den „Top Ten Latin American talents to watch“ gekürt.

Dieter Oßwald