Il Buco – Ein Höhlengleichnis

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In faszinierenden Bildern erzählt die italienische Produktion vom Leben in der Natur und von der grenzenlosen Neugier des Menschen. Die Handlung spielt Anfang der 60er Jahre im Süden Italiens und rekonstruiert die Ereignisse um die Erforschung des „Abisso del Bifurto“ – eine Höhle von fast 700 Metern Tiefe. Parallel dazu dokumentiert Michelangelo Frammartino (VIER LEBEN, 2010) das Leben eines alten Hirten.
Ohne Dialoge und ohne zusätzliches Licht ist dieser Film eine Übung im Genauer-Hinschauen und im Sich-Einlassen auf die Kraft der Bilder. Ein cineastischer Leckerbissen!

Webseite: www.filmkinotext.de

Regie: Michelangelo Frammartino
Drehbuch: Michelangelos Frammartino, Giovanna Giuliani
Darsteller: Paolo Cossi, Jacopo Elia, Denise Trombin, Nicola LanzaKamera: Renato Berta
Länge: 93 Minuten
Verleih: FilmKinoText

Preise/Auszeichnungen
2021 Internationale Filmfestspiele Venedig, Spezialpreis der Jury

FILMKRITIK:

Der Blick aus einer Höhle in die friedliche Landschaft, Kühe auf einer Alm, im Hintergrund die Berge. Dazu die Geräusche des Windes und der Kuhglocken, ein Vogel ruft. Am Waldrand sitzt der Hirte, das Gesicht vom Wetter und vom Alter zerfurcht, und blickt auf seine Herde. Abends sitzen die Dorfbewohner vor dem Fernseher, der draußen vor der Bar steht und dessen Schwarz-Weiß-Bilder die Umgebung nur spärlich erhellen. Ein Beitrag über den Bau eines Hochhauses wird gezeigt. Darüber laufen die Titel.

Bereits in den ersten Minuten des Films, noch vor dem Vorspann, wird hier beinahe alles präsentiert, wovon der Film erzählt, worum es geht und was seinen Reiz ausmacht. Es fehlen lediglich die faszinierenden Bilder aus dem Inneren der Höhle. Doch bald wird die Höhlenexpedition in dem winzigen kalabrischen Bergdorf eintreffen. Mangels anderer Unterkünfte werden die 12 jungen Leute in der Sakristei der Kirche übernachten, bis sie ihr Camp an der Höhle errichtet haben.

Anfang der 60er Jahre im Süden Italiens: Hier unten, zwischen Absatz und Spitze des Stiefels, ist die Zeit stehen geblieben. Während im Norden das italienische Wirtschaftswunder für Arbeit und neuen Wohlstand sorgt, geht das Leben in Kalabrien seinen gewohnt ruhigen Gang, so wie vor 100 oder 200 oder 300 Jahren. Im Dörfchen gibt es kaum elektrisches Licht, der einzige Fernseher steht vor der Bar – die umlagerte Verbindung zur Zivilisation. Draußen vor dem Dorf leben die Hirten auf den Bergweiden, so wie vor Tausenden von Jahren. Der Fortschritt hält Einkehr in Gestalt der Höhlenexpedition mit ihrem Lastwagen, mit Zelten und Forschungsausrüstung, ohne dass sich das Leben der Dorfbewohner und der Hirten dadurch verändern würde. Es scheint sich auch kaum jemand von ihnen dafür zu interessieren, was da am relativ unauffälligen Eingang des „Abisso del Bifurto“ vor sich geht. Tatsächlich weiß keiner der Forscher, was ihnen bevorsteht – mehr als 700 Stunden, beinahe einen ganzen Monat, werden sie brauchen, um ans Ende der Höhle zu gelangen. Es befindet sich 683 Meter unter der Erde, was den „Abisso del Bifurto“ zur dritttiefsten Höhle der Welt macht.

Wie in seinem ebenfalls künstlerisch sehr beeindruckenden Film VIER LEBEN (LE QUATTRO VOLTE, 2010) arbeitet Michelangelo Frammartino, selbst ein Kind des Südens, auch hier viel mit der Stille, die dem Film einen kontemplativen, beinahe meditativen Charakter gibt. Die Naturgeräusche, die zu hören sind, wirken dabei ebenso beruhigend wie die Pfiffe und Rufe der Hirten, mit denen sie die Herde dirigieren. Auch wenn der Umgang mit dem Ton nur einen Teil der Faszination des Films ausmacht, trägt er doch unbedingt zum Gelingen bei und ist essenziell wichtig für das sinnliche Erleben, das in diesem Film eine lange vermisste Qualität erreicht. Die Töne unterstreichen tatsächlich lediglich die Bilder, sie konterkarieren oder kommentieren nicht, sie verstärken den Eindruck und der ist einfach überwältigend. Der geniale Bildschnitt macht das Ganze komplett: Das Timing, die Wechsel zwischen den einzelnen Schauplätzen, also zwischen Hirten, Dorf und Höhlenforschern, ist absolut perfekt, wobei es gelegentlich kleine Überschneidungen gibt. Es scheint manchmal, als ob der Film sich selbst erzählt, anstatt dass er erzählt wird. Alles wirkt extrem authentisch, der Film sieht aus wie ein beobachtender Dokumentarfilm, stellt aber eine besonders ausgefuchste Variante eines hybriden Spielfilms dar. Möglich wird das durch die engen Verbindungen zwischen dem Filmemacher und seiner süditalienischen Heimat, wo bisher alle seine Filme spielten. Einzelne Darsteller, auch die der gefährlichen Höhlenexpedition, sind hier unwichtig, denn es geht vorrangig nicht um Menschen, sondern um die Natur, oder anders gesagt: um das Verhältnis zwischen Mensch und Umgebung, um den Einfluss, den die Menschen auf ihre Umwelt haben, um ihren Drang, alles zu verändern. Das Leben in den Anfang 60er Jahren in den süditalienischen Bergen wird jedoch keinesfalls mit nostalgischer Wehmut betrachtet oder romantisiert. Lammartino zeigt, er kommentiert nicht. Seine Aussage liegt in der Wirkung seiner Bilder, und die sind so einfach wie beeindruckend, einprägsam, behutsam kadriert und wunderschön in ihrer Schlichtheit.

Schon wie Lammartino mit dem Licht umgeht, ist meisterlich. Die oft nur durch eine einzige kleine Lichtquelle erhellten Bilder machen es notwendig, sehr genau hinzuschauen. Dann schälen sich aus der Dunkelheit Personen, Muster, Höhlenlandschaften. Zusammen mit dem Ton und den Geräuschen ergibt das eine starke Sensibilisierung der Sinne, was den Film nicht nur zum intellektuellen Erlebnis, sondern auch zu einer Art erholsamen Kurzurlaub macht: als meditative Übung … und als herausragendes Kinoerlebnis für alle, die bereit sind, sich darauf einzulassen.

 

Gaby Sikorski