InnenLeben

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Das „Innen Leben“ einer Wohnung mitten im syrischen Bürgerkrieg zeigt durch das Schicksal zusammengewürfelte Menschen in einer extremen Bedrohungssituation. Das erschütternde Kammerspiel baut seinen äußeren Druck weitgehend durch die Geräuschkulisse des Krieges auf, vermittelt über gutes, fast stilles Schauspiel unentrinnbare Schrecken.
Ausgezeichnet mit dem Panorama-Publikumspreis der Berlinale 2017

Webseite: www.innenleben-film.de

Belgien, Frankreich, Libanon 2017
Regie: Philippe van Leeuw
Darsteller: Hiam Abbass, Diamand Abou Abboud, Juliette Navis
Länge: 86 Minuten
Verleih: Weltkino Filmverleih
Kinostart: 22. Juni 2017

FILMKRITIK:

Eine Wohnung. Eine Familie. Ein paar Gäste. Ganz normal, doch hier ist die Tür verrammelt, von draußen hört man schweres Artillerie-Feuer, der Blick durchs Fenster zeigt Verwüstung und Tod. Die Wohnung in Damaskus und mitten im syrischen Bürgerkrieg sieht aus wie eine ganz normale, wie sie auch in Deutschland ähnlich eingerichtet wäre. Nur gibt es kaum fließend Wasser und nur selten Strom.
 
Die arabisch-israelische Star-Schauspielerin Hiam Abbass („Lemon Tree“, „Free Zone“, „Ein Sommer in New York“) verkörpert die schwer beladene Hauptrolle von Oum Yazan, die den Unterschlupft für Familie und Nachbarn am Laufen hält. Ein benachbartes junges Paar mit Baby, der Opa, Hiams Kinder, die Haushälterin Delhani, der Freund einer der Töchter. Dies sind die letzten Menschen im Haus. Ein Bewohner will die Flucht aus dem Land vorbereiten, wird aber schon auf dem Parkplatz erschossen. Seiner Frau soll dies nicht gesagt werden, weil jeder, der einen Angeschossenen retten will, im Visier der Scharfschützen landet. Dieses Schweigen legt sich früh bleiern über die schon schwere Stimmung in der überbelegten Wohnung.
 
Der belgische Regisseur Philippe Van Leeuw inszenierte ein Kammerspiel, bei dem das gewalttätige Außen des Bürgerkrieges ungemein intensiv nach innen dringt. Die Handkamera folgt den Bewohnern durch die Zimmer. Bei schwereren Einschlägen flüchten sich alle in einen Innenraum ohne Fenster. Aus Angst vor Gift werden die Ritzen verstopft. Doch Räuber im Haus machen Bedrohung und den gesetzlosen Zustand ganz konkret. Sie vergewaltigen die Nachbarin, die Familie hält sich nebenan versteckt, bekommt alles mit und schreitet doch nicht ein. Vor allem diese Wendung macht aus den versammelten Opfern eine ebenso grausame Gemeinschaft wie die Bürgerkriegs-Gesellschaft draußen vor der Tür. Oder vielleicht wie die Weltgemeinschaft, die auch nur zuschaut. Die Fronten werden unklar, es gibt Zweifel an der Integrität der Figuren.
 
Ähnlich wie beim afghanischen Drama „Stein der Geduld“ von Atiq Rahimi stehen Frauen im Zentrum der Entwicklungen - als Opfer und als Kraft, die im Chaos ein paar Reste zusammenhält. Das ist intensiver und heftiger als beispielsweise das Kammerspiel der in Amsterdam versteckten Familie Frank in Hans Steinbichlers „Das Tagebuch der Anne Frank“. Schuldzuweisung bleiben in der Situation der syrischen Familie ebenso „außen vor“ wie Perspektiven oder Hoffnung. Der Film gewann auf der 67. Berlinale den Publikumspreis der Sektion Panorama.

Günter H. Jekubzik