König der Raben

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Leben im Schatten: Laut Schätzungen halten sich etwa eine halbe Million Menschen illegal in Deutschland auf. Wie sich das anfühlt, erzählt Piotr J. Lewandowski in seinem packenden zweiten Spielfilm. Dabei verbindet er realistische Betrachtungen mit poetischen Einschüben und vor allem mit der filmischen und literarischen Tradition der „Amour fou“, einer obsessiven, gefährlichen und oft zerstörerischen Liebe zwischen Menschen, die eigentlich nicht zusammenkommen dürfen.

Website: http://www.salzgeber.de/raben

Deutschland 2020
Regie: Piotr J. Lewandowski
Drehbuch: Denise Langenhan, Carsten Strauch, Piotr J. Lewandowski, Finn-Ole Heinrich, Daniel Olteanu
Darsteller: Malik Blumenthal, Antje Traue, Karim Günes, Mert Dincer, Danuta Stenka
Länge: 105 Minuten
Verleih: Salzgeber
Kinostart: 19.8.2021

FILMKRITIK:

Mitten in der Nacht: Die Polizei steht im Flur. Darko (Malik Blumenthal) springt aus dem Bett, weckt seine Mutter, läuft ins Bad, entfernt eine Plastikfolie und beginnt, Steine aus der Wand zu nehmen. Ein geheimer Fluchtweg, für alle Fälle. Heute Nacht braucht er ihn allerdings nicht. Die Beamten haben an der Nachbartür geklopft. Eine Familie aus Afrika wird abgeschoben. Ein Schicksal, das auch Marko, seiner Mutter und seinen beiden Kumpels droht. Alle hier in dem heruntergekommenen Bau sind illegal in Deutschland. Marco hat es aus Mazedonien hierher verschlagen, zusammen mit seiner schwer traumatisierten Mutter, die den Verlust ihres Mannes und des anderen Sohns nicht verkraftet.

Es geht ruppig zu in diesem halbkriminellen Milieu, in dem mafiöse Ausbeuter das Sagen haben. Krumme Geschäfte und kleine Tricks sichern notdürftig das prekäre Leben. Wer sich hier durchboxen will, muss zuschlagen können. Aber Darko hat neben seinen Muskeln auch eine zarte Seite. Liebevoll küsst er seine Tauben, der er in einem geräumigen Verschlag hält. Und manchmal sagt er Sachen, die aus einem Gedicht oder Märchen stammen könnten. Alina (Antje Traue) gefällt das Spontane, Lebenspralle an dem jungen Mann, der mindestens zehn Jahre jünger ist als sie. Ein verrückter Zufall bringt die beiden zusammen. Nichtschwimmer Darko wird eines Nachts in einen See geworfen. Alina rettet ihn und stürzt sich in eine wilde Affäre, ohne Rücksicht auf Verluste.

Neben der genauen Milieuzeichnung ist es das Muster der „Amour fou“, das dem Film sein doppeltes Gesicht als Sozialstudie und Liebesdrama verleiht. „Ich bin ein einziges Geheimnis“, sagt Alina, als Darko nach ihrem Vorleben fragt. Vieles an dem verführerischen Geschöpf ist rätselhaft, etwa das riesige Dachgeschoss, in das sie Darko mitnimmt. Atelier, Wohnung oder Rückzugsraum? Oder der Beziehungsstaus, in dem sie lebt: mit einem Ex, einem Arbeitspartner oder doch in einer Art Ehe? Klar wird nur eins, Darko hat einen deutlich älteren Nebenbuhler aus dem akademischen Milieu. Und Alina meldet sich immer nur dann, wenn sie gerade Lust auf den jüngeren Liebhaber hat. Dass Darko nicht nur das Abenteuer sucht, sondern Gefühle entwickelt, scheint sie nicht zu bedenken.

Halb realistisch, halb poetisch verklärt entwickelt Regisseur Piotr J. Lewandowski mit seinen Darstellern eine Intensität, die bereits sein Spielfilmdebüt „Jonathan“ (2016) auszeichnete. Emotionen treiben die Geschichte voran, Wut und Leidenschaft laden die meist nächtlichen Aufnahmen mit einer Lebensenergie auf, die symbolisch in Darkos Vorliebe für Vögel gespiegelt wird. Schnelle Schnitte und die agile Handkamera von Jan Prahl stürzen sich mitten ins Getümmel verschlungener Nebenhandlungen. Zärtlich verklärte Ruhepausen verschaffen dem Zuschauer Einblicke in das Seelenleben zweier Gestrandeter, die ihr Leben gefährden, indem sie es zu retten versuchen.

Auch im Vorgängerfilm „Jonathan“ hatte es der Regisseur nicht bei einer dramatischen Verwicklung belassen, sondern mindestens vier Motive miteinander verschränkt. In „König der Raben“ hat er noch mehr hineingepackt, etwa eine homoerotische Anziehung, die Solidarität unter den Illegalen, die Ausbeutung durch Deckmänner, das Krankheitsbild der Mutter und die schwierige Lage von Alina, die nach einer Fehlgeburt suizidgefährdet ist. Das führt zu hohen Anforderungen an die Aufmerksamkeit der Zuschauer. Wer sich nicht nur von der unberechenbaren „Amour fou“ und den starken Darstellerleistungen mitreißen lassen will, sondern alle Details aufdröseln möchte, braucht wache Augen.

Peter Gutting