Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen ist

Zum Vergrößern klicken

In einer Kunstwerkstatt für Menschen mit Behinderung hat Sabine Herpich ihre Dokumentation „Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen ist“ gedreht, die im Forum der Berlinale ihre Premiere erlebte. Mit zurückhaltendem, emphatischem Blick werden Menschen gezeigt, die vor allem Kunst machen und höchstens in zweiter Linie behindert werden.

Website: https://fsk-kino.peripherfilm.de/

Dokumentation
Deutschland 2020
Regie: Sabine Herpich
Länge: 107 Minuten
Verleih: peripher
Kinostart: 12.8.2021

FILMKRITIK:

Spricht man von „Kunst von Behinderten“ schwingt damit meist eine Abgrenzung mit: Von den nicht behinderten, den vorgeblich „normalen“ Menschen und Künstlern, die Teil des „normalen“ Kunstbetriebs sein können, die Insider sind, im Gegensatz zu den Behinderten und ihrer Kunst, die oft als Outsider-Kunst bezeichnet wird. Doch was bedeuten solche Kategorien, welchen Wert haben sie? Sollen sie eine Seite schützen und wenn ja welche?

Im Berliner Bezirk Spandau hat Sabine Herpich ihre Dokumentation „Kunst kommt aus dem Schnabel wie er gewachsen ist“ gedreht, in der Kunstwerkstatt Mosaik, in der momentan 21 Menschen mit Behinderungen als Künstler arbeiten. Ein soziales Projekt also, zumindest auf den ersten Blick, denn mehr und mehr wird deutlich, dass hier nicht einfach Menschen mit Behinderung zum Zeitvertreib ein wenig mit Pinsel und Farbe rumspielen, sondern Kunst gemacht wird, zufällig eben von Menschen, die auch eine Behinderung haben.

Suzy van Zehlendorf etwa, die in Berlin geboren wurde und seit 15 Jahren in der Kunstwerkstatt arbeitet. Neben aufwändigen, verspielten Skulpturen, malt sie, zum Beispiel eine Serie, die man die Hahn-Bilder nennen könnte: Berühmte Vorlagen, etwa Munchs „Der Schrei“ oder Leonardos „Mona Lisa“, variiert sie, indem sie statt der Menschen Hähne einfügt. Eine ebenso witzige wie prägnante Idee, die man sich durchaus auch als ironischen Beitrag bei einer Kunstausstellung vorstellen könnte.

Ebenso wie die Arbeiten von Adolf Beutler, die aus weitläufig, fein gezeichneten Linien-Geflechten bestehen, die sich meist über Leinwänden und Papier ziehen, aber auch Blöcke umfassen können, die wie kleine Städte wirken. Beutler hat inzwischen einen gewissen Bekanntheitsgrad im „normalen“ Kunstbetrieb gewonnen, vielleicht auch wegen seiner kaum zu glaubenden Lebensgeschichte, die gut einen eigenen Film rechtfertigen würde: 1935 geboren, als Autist in den Kliniken des Nationalsozialismus gesteckt, überlebte er den Krieg nur knapp, kam anschließend in die Psychiatrie, aus der er erst in den 80er Jahren herauskam. Dass er großes künstlerisches Talent besitzt wurde danach eher zufällig entdeckt, was vielfältige Fragen aufwirft.

Fragen, die von Herpich nur angedeutet werden. In klassischer dokumentarischer Manier, mit ruhiger, beobachtender Kamera, ohne Musik, mit nur wenigen, aus dem Off kommenden Einwürfen, beobachtet sie die Menschen in der Werkstatt, deutet an, zeigt auf. Im besten Sinne fühlt man sich hier an die Filme von Ferderick Wiseman erinnert, der mit ähnlicher filmischer Zurückhaltung und humanistischem Blick auf die Institutionen des amerikanischen Alltags blickt.

So wie sich die „Aktion Sorgenkind“ vor einigen Jahren in „Aktion Mensch“ umbenannte, um den Fokus nicht auf die Behinderung zu lenken, sondern den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen, so agiert auch die Kunstwerkstatt Mosaik und Sabine Herpichs Film. Nicht um Kunst von Behinderten geht es beiden, sondern um Menschen, die Kunst machen. Dass diese Menschen auch eine Behinderung haben, ist nur ein Teil, aber gewiss nicht der entscheidendste Aspekt ihrer Persönlichkeiten. Das wird zum einen durch ihre Kunst deutlich, vor allem aber durch die Menschen selbst, die Sabine Herpich in den Mittelpunkt ihrer eindrucksvollen, emphatischen Dokumentation stellt.

Michael Meyns