Politik und Wut liegen oft dicht beieinander. Menschen, die von politischen Entscheidungen betroffen sind, können sehr wütend werden. Aber auch Politiker können in Wut geraten, wenn die Menschen nicht verstehen wollen oder können, was sie mit ihren Entscheidungen bezwecken. Wenn beides aufeinanderprallt, wie in Ladj Lys explosivem, emotionalem Banlieue-Drama „Les Indesirables“, dann wird die Wut zu Hass und Hass wird zu Gewalt. Das ist emotional, oft plakativ, aber nie langweilig – ein wuchtiger Film, der eindeutig für die Schwächsten der Gesellschaft Stellung bezieht.
Webseite: https://www.filmkinotext.de/les-ind-sirables.html
Frankreich 2023
Regie: Ladj Ly
Drehbuch: Giordano Gederlioi, Ladj Ly, Dominique Baumard
Mitwirkende: Anta Diaw, Alexis Manenti, Aristote Luyindula, Steve Tientcheu, Aurélia Petit
Kamera: Julien Poupard
Musik: Pink Noise
Länge; 105 Minuten
Verleih: filmkinotext / Die Filmagentinnen
Start: 28.11.2024
FILMKRITIK:
Die Spirale der Wut beginnt mit zwei Toten. Zum einen werden wir Zeuge, wie der Sarg mit einer Verstorbenen in entwürdigender Weise durch das enge Treppenhaus eines Hochhauses manövriert werden muss, in dem Menschen mit afrikanischem oder arabischen Migrationshintergrund miteinander leben. Zum anderen sehen wir, wie der Bezirksbürgermeister des Banlieues, in dem dieses Haus steht, bei der Sprengung einer Unterkunft eine Herzattacke erleidet und stirbt. Der Arzt Pierre wird zum Interims-Bezirksbürgermeister gemacht und erweist sich als begabter, pragmatischer Strippenzieher, der Gefallen an der Macht findet und bei den nächsten Wahlen für das Amt kandidieren will. Haby aus Mali, eine Enkelin der Verstorbenen vom Anfang, arbeitet im Stadtarchiv und beschließt, sich für ihre Mitbewohner einzusetzen und gegen Pierre zu kandidieren. Denn Pierre radikalisiert sich im Amt und greift immer härter gegen vermeintliche Störenfriede durch, als die er vor allem die jugendlichen Bewohner des Banlieues betrachtet. Als im Hochhaus eine illegale Garküche abbrennt, die der soziale Mittelpunkt vieler Migranten war, nutzt Pierre die Gelegenheit, den gesamten Häuserkomplex für baufällig zu erklären und durch die Polizei evakuieren zu lassen. Die Bewohner haben nur wenige Minuten Zeit, ihre Habseligkeiten zu packen, bevor sie zwangsweise in noch beengtere Lebensumstände umgesiedelt zu werden. Aus Wut wird Gewalt, und der Afrikaner Blaz beschließt, dem Bürgermeister am eigenen Leib zu zeigen, was es bedeutet, an Weihnachten die Sicherheit der eigenen Wohnung zu verlieren …
Ladj Ly hat schon in seinem vielfach ausgezeichneten Debüt-Film „Die Wütenden – Les Misérables“ gezeigt, dass er wuchtiges, emotionales Kino machen kann. Das ist ihm auch in „Les Indesirables“ gelungen. Der Kraft seiner Bilder wird sich kein Zuschauer entziehen können. Die Sequenz, in der das Hochhaus in Minutenschnelle geräumt wird und die verzweifelten Menschen beginnen, ihre Habseligkeiten von den Balkonen zu werfen, ist schlichtweg herzzerreißend. Und wie Ly die Kälte und die wachsende Distanz, mit der er Alexis Manenti als Pierre agieren lässt, mit der stetig wachsenden, unmittelbaren Emotionalität der von ihm Regierten kontrastiert, ist wirklich clever gemacht.
Ly bezieht mutig und sehr eindeutig Stellung, indem er sich auf die Seite des unterdrückten, entrechteten Teils der Bevölkerung stellt. Doch durch diese eindeutige Positionierung wird der Film auch etwas vorhersehbar, und der plakative Unterton verstärkt sich noch. Ly gönnt weder seiner Protagonistin Haby noch ihrem Gegenspieler eine wirkliche Entwicklung. Diese Menschen sind und bleiben, wer und was sie sind. Das mag in der Wirklichkeit tatsächlich so sein, aber für eine wirklich spannende Kinogeschichte hätte man sich zumindest für die Hauptpersonen, vor allem für Haby, etwas mehr Individualität inklusive Ecken und Kanten und etwas weniger Klischeehaftigkeit gewünscht.
So sehr „Les Indesirables“ ergreift, so sehr die Moral des Films überzeugt – ein leichter Beigeschmack bleibt. Ladj Ly hat mit grobem Pinselstrich eine in Gut und Böse eingeteilte Welt entworfen. Doch dazwischen gibt es eine Vielfalt von Grautönen. Eine derart schlichte Welt wie in Lys Film existiert nicht und hat vermutlich niemals existiert. Die Realität ist kompliziert.
Gaby Sikorski
FILMKRITIK:
Ein Häuserblock in der fiktiven Stadt Montvielliers wird gesprengt, auf Knopfdruck des amtierenden Bürgermeisters. Doch die Schockwelle ist zu viel für den älteren Herrn, ein Herzinfarkt sorgt dafür, dass das höchste Amt der Stadt plötzlich vakant ist.
Kurzfristig muss die Regierungspartei einen Nachfolger finden und einigt sich auf den unbedarften Kinderarzt Pierre (Alexis Manenti), der sich schnell einen Namen als harter Hund machen will. Um die Zustände in den Hochhaussiedlungen am Stadtrand zu verbessern, wo vor allem Migranten erster, zweiter, aber auch noch dritter Generation leben, erlässt er ein abendliches Versammlungsverbot für Jugendliche. Diskriminierung! lautet die Antwort der jungen Bewohner, unter anderem Haby (Anta Diaw), die in der öffentlichen Verwaltung arbeitet und somit täglich aus erster Hand erleben muss, wie nachlässig der Staat mit Menschen mit Migrationshintergrund umgeht.
Zunehmend aggressiv wird die Konfrontation zwischen Staat und Bürgern ausgetragen, die Fronten sind verhärtet, ein Kompromiss scheint nicht in Sicht. Auch der Vize-Bürgermeister Roger (Steve Tientcheu) sieht der eskalierenden Situation hilflos zu. Dabei könnte Roger ein Vermittler zwischen den Fronten sein, denn als ehemaliger Bewohner der Banlieue weiß er aus eigener Erfahrung von den Nöten und Wünschen der Anwohner.
Roger, der Mann zwischen den Welten, erweist sich als komplexeste Figur in Ladj Lys zweitem Spielfilm „Les Indésirables – Die Unerwünschten“, der die Themen seines erfolgreichen, mit dem César ausgezeichneten Debüts „Les Misérables – Die Wütenden“ variiert. Mehr Verständnis als seine meist weißen Kollegen, mag Roger zwar für die Bewohner der Hochhaussiedlung haben, doch er ist längst selbst Teil des Systems geworden und hat die Rhetorik des Staates übernommen: Seine Eltern hätten einst aus eigener Kraft den sozialen Aufstieg geschafft, die heutigen Bewohner würden sich viel zu sehr auf staatliche Leistungen verlassen.
Ein Satz, wie er nicht nur in Frankreich, sondern auch in Deutschland fallen könnte, denn die sozialen Probleme der beiden (und vieler anderer Länder in Europa) sind ähnlich gelagert. Wie ausweglos die Situation oft wirkt, deutet Lady Ly in seinem erzählerisch breit angelegten Panorama an. Viele Figuren tauchen auf, die unterschiedlichste Aspekte der Thematik oft kaum mehr als anreißen. Immer wieder wirkt „Les Indésirables – Die Unerwünschten“ dadurch in Momenten thesenhaft, ja fast didaktisch.
Zumal in keinem Moment in Zweifel steht, auf welcher Seite der selbst in Mali geborene, in einer Kleinstadt unweit von Paris aufgewachsene Ly steht. Ganz so extrem wie in den Banlieue-Filmen seines Freundes Romain Gavras, an dessen oft reißerischem „Athena“ Ly als Drehbuchautor mitarbeitete, wird es hier zwar nicht, doch der Kessel steht immer wieder kurz vor der Explosion. Wut mag zwar nicht immer der beste Ansatz für eine vernünftige Diskussion sein, als Ausgangspunkt für engagiertes Kino aber immer wieder.
Michael Meyns