Oktoberfest

Deutschland 2004
Buch/Regie Johannes Brunner
Kamera Thomas Riedeslheimer
Verleih: Movienet

Das größte Volksfest der Welt – Ort für gemeinschaftliche Ekstase und individuellen Ausbruch aus dem Alltag – wird zum Schauplatz für ein filmisches Drama, das von einsamen Suchenden erzählt. Der bildende Künstler, Johannes Brunner aus München, legt mit „Oktoberfest“ sein Spielfilmdebüt vor, das von Menschen erzählt, die sich am letzten Tag auf der Münchner „Wies´n“  begegnen.  „Oktoberfest“ ist einer der bemerkenswertesten Beiträge zur Reihe „Neue deutsche Kinofilme“ auf dem Münchner Filmfest 2005.

Glänzende Lichter, bunt blinkend, tanzen auf der Leinwand zu treibenden Beats. Mit diesem Sinnbild für das rauschhafte momentane Ausbrechen aus der Realität, den verheißungsvollen Glanz, der im Kontrast steht zur grauen Wirklichkeit, eröffnet Johannes Brunner seinen Film. – Eine kunstvolle Bildmontage, dann – jäher Schnitt: die Wirklichkeit. Die müde Kellnerin (Barbara Rudnik) quält sich im Bierzelt mit einer Erkältung und der Erkenntnis, dass ihr Leben an ihr vorbeigelaufen ist. Während sie die Maßkrüge durch die Massen manövriert, treibt ihr Mann, der Dirigent der Kappelle, es mit irgendeiner Fremden. Ein paar Gassen weiter erfährt eine Schaustellerin, dass ihr Traditionsgeschäft vor dem Bankrott steht. Ihre Tochter, die aufgewachsen ist zwischen Riesenrad, Geisterbahn und Zuckerwatte, nimmt unterdessen schon  innerlich Abschied von der Welt ihrer Familie und bereitet sich auf ein Leben jenseits der Jahrmärkte vor. Im Bierzelt locken drei junge Italiener – typische Oktoberfest-, Sex- und Biertouristen blonde Mädchen an ihren Tisch, auf der gleichen Bank das Ehepaar aus Japan, staunend, überwältigt und überfordert angesichts der trunkenen Massen. Draußen bei den Fahrgeschäften vergnügt sich ein Vater lieber mit seiner viel zu jungen Geliebten, statt den Tag mit seinen beiden Kindern zu verbringen – als er sie wieder treffen will, ist der Sohn verloren gegangen im Gewühl, seine Tochter tief enttäuscht. Und noch einem ist die Lust am Feiern längst vergangen: Frank, dem jungen Mann, der sich im Rollstuhl Wege durch die Menge bahnt und die Polizei per Telefon mit Anspielungen auf das Wies´n Attentat von 1980 in Aufruhr versetzt.

Die Figuren in Johannes Brunner chorischem Film tragen keinen festlichen Glanz in den Augen, sondern sie sind von einer Aura der Müdigkeit und Ratlosigkeit umgeben. Auch wenn man jedem Einzelnen von ihnen nur schwer nahe kommt – und dies ist die Schwäche des Films – so tragen sie einen gemeinsam doch durch die Geschichte. Die Melancholie dieser Einsamen steht in einem spannenden Kontrast zur lautstarken Jahrmarktsfröhlichkeit, die sie umschwappt. Denn wenn die Sessel des Kettenkarussells sich leicht  in die Luft heben und spielerisch  drehen, dann bleiben die Wehmütigen am Boden.

Hätten die hervorragenden Schauspieler – Barbara Rudnik, Peter Lohmeyer und die junge Mina Tander – mehr Raum gehabt, um ihren Figuren Tiefenschärfe zu geben, dann wäre „Oktoberfest“ emotional noch kraftvoller geworden. 

Aber auch so ist Johannes Brunner ein bemerkenswertes Debüt gelungen: Eine kunstvolle Sehnsuchtsmontage, die die übermütige Ausgelassenheit der Masse als Oberfläche zeigt, auf der Einzelne ins Taumeln geraten. Der treibende Rhythmus der Menge wird von einer melancholischen Melodie durchzogen, die sich im Ohr festsetzt und vom Anfang bis zum Schlussbild stimmig ist: Am Ende ist das größte Fest der Welt vorbei, die Gassen leeren sich, die Lichter der Traumwelt erlöschen und die Suchenden müssen sich neu zurechtfinden in der Realität. 

Sandra Vogell