Petite Maman – Als wir Kinder waren

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In Céline Sciammas neuestem Film verschmelzen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, wenn ein Mädchen Freundschaft mit einer Gleichaltrigen schließt, die sich als ihre eigene Mutter entpuppt. „Petite Maman“ ist trotz der kurzen Laufzeit ein komplexer, vielschichtiger Film geworden, der geschickt mit Fantasy- und Mystery-Elementen kokettiert. Es geht um die Kraft der Imagination, Mutter-Kind-Beziehungen und verdrängte Erinnerungen. Ein sehenswerter kleiner, melancholischer Zeitreise-Film.

Website: https://www.alamodefilm.de

Petite maman
Frankreich 2021
Regie: Céline Sciamma
Drehbuch: Céline Sciamma
Darsteller: Joséphine Sanz, Gabrielle Sanz, Nina Meurisse, Stéphane Varupenne, Margot Abascal
Länge: 72 Minuten
Verleih: Alamode, Vertrieb: Filmagentinnen
Kinostart: n.n.

FILMKRITIK:

Nach dem Tod ihrer Großmutter hilft die achtjährige Nelly (Joséphine Sanz) ihren Eltern (Nina Meurisse, Stéphane Varupenne) beim Aufräumen eines alten Hauses. Es handelt sich um jenes Haus, in dem ihre Mutter Marion einst ihre Kindheit verbracht hat. Entsprechend sind für Marion das Haus und die Umgebung von (nicht immer nur guten) Erinnerungen geprägt. Nelly hingegen genießt es, mehr über die Vergangenheit herauszufinden und die Geschichten, die Marion im nahen Wald und im Baumhaus erlebt hat. Als ihre von Depressionen geplagte Mutter eines Tages plötzlich abreist, lernt Nelly im Wald ein gleichaltriges Mädchen kennen. In den folgenden Tagen verbringen Nelly und das Mädchen viel Zeit miteinander und werden Freundinnen. Der Name des Mädchens: Marion. Bald wird klar, dass Nelly durch eine Zeitschleife 25 Jahre in die Vergangenheit gereist ist.

Nicht einmal 75 Minuten lang ist das neueste Werk der Französin Céline Sciamma, das auf der diesjährigen Berlinale Weltpremiere feierte. Dennoch gelingt „Petite Maman“ trotz der kurzen Laufzeit eine umfassende, komplexe Betrachtung der Themenfelder Verlust, Annäherung, Kindheit und elterliche Liebe. Dabei geht es der 43-jährigen Regisseurin, die 2011 ihren Durchbruch mit dem Drama „Tomboy“ feierte, trotz der immer wieder aufflammenden, subtilen Mystery- und Spuk-Elemente nie um plakative Twists oder unerwartete Wendungen. Im Gegenteil: Schon der Filmtitel lässt darauf schließen, dass es sich bei dem Mädchen, das Protagonisten Nelly im Wald kennenlernt, um die eigene Mutter handelt.

Dass es dennoch nie langweilig wird, dem Entstehen dieser außergewöhnlichen Freundschaft zuzusehen, liegt unter anderem an der ruhigen, assoziativen Erzählweise, derer sich „Petite Maman“ bedient. Der Umgang der Mädchen miteinander, ihre Erlebnisse (sie bauen eine Unterkunft im Wald, backen Crêpes, machen einen Bootsausflug) sowie ihre komplette Beziehung leben von Erinnerungen, Gedankenspielen, kleinen Hinweisen sowie raum- und zeitübergreifenden Andeutungen. Als „Tor“ in die Vergangenheit und Gegenwart dient dabei der geheimnisvolle Wald, der – aus Sicht von der kleinen Marion – entweder in die Zukunft oder in längst vergangene Zeiten zurückführt, und zwar aus der Sicht von Nelly.

Darüber hinaus zeichnet Sciamma ihre Charaktere mit zärtlichem Wohlwollen, ohne dabei auf leise Ironie und hintersinnigen Witz zu verzichten. Etwa wenn die unterschiedlichen Zeit- und Handlungsebenen unmittelbar miteinander verschmelzen und die junge Marion in der Gegenwart zum Beispiel plötzlich Nellys Vater, also ihrem späteren Mann, gegenübersteht.

Ein Faible für surreale Stoffe und das Phantastische setzt „Petite Maman“ allerdings schon voraus und man sollte über den Willen verfügen, sich auf dieses manchmal etwas irritierende, stets herausfordernde filmische Experiment einzulassen. Die Irritationen sind nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass Sciamma die beiden sich im Verhalten und Charakter so sehr ähnelnden Mädchen auch noch mit eineiigen Zwillingen besetzte.

Doch die Aufmerksamkeit und das Interesse des Betrachters werden belohnt. Sie eröffnen neue Perspektiven auf die Verbindung von Eltern und ihren Kindern und erlauben frische Sichtweisen auf mitunter schwer zu verstehende, elterliche Verhaltensweisen. So versteht Nelly erst durch das Kennenlernen ihrer gleichaltrigen Mutter, wieso diese später, als erwachsene Frau, zu Depressionen neigt und zu Nelly ein doch eher distanziertes Verhältnis aufgebaut hat.

Björn Schneider