Remainder

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Identität und Kontrolle – um diese Themen kreist der faszinierende, surrealistische Psychothriller nach dem Roman von Tom McCarthy. Der Held lebt zwischen Traum und Wirklichkeit in einer Welt, die er sich nach einem Unfall in allen Einzelteilen neu zusammenkauft, um sie zu verstehen. Doch am Ende ist er genau dort, wo er am Anfang war. Der Film ist ebenso anspruchsvoll wie begeisterungswürdig, und das gilt für die inhaltliche wie für die optische Umsetzung. Die Bilder sind von manchmal beängstigender Kälte und Brutalität. Sie zeigen das Leben in einem modernen Mikrokosmos, den niemand mehr verstehen kann. Ein toller Film für ein intelligentes Publikum.

Webseite: www.remainder-derfilm.de

Großbritannien/Deutschland 2015
Regie und Drehbuch: Omer Fast, nach dem Roman von Tom McCarthy (deutscher Titel: „8 ½ Millionen“)
Darsteller: Tom Sturridge, Cush Jumbo, Ed Speleers, Danny Webb, Nicholas Farrell, Arsher Ali
Kamera: Lukas Strebel
Musik: Schneider TM
97 Minuten
Verleih: Piffl Medien
Kinostart: 12. Mai 2016
 

FILMKRITIK:

Tom hat nach einem furchtbaren Unfall sein Gedächtnis verloren – ein merkwürdiger Gegenstand, vielleicht ein Flugzeugteil, ist auf ihn gefallen, als er mit einem Trolley auf der Straße stand, und nun muss er komplett neu lernen, seinen Körper und seinen Geist zu beherrschen. 8 ½ Millionen Pfund Schadenersatz kommen unerwartet und gerade rechtzeitig, bevor er zugrunde geht. Er verwendet das Geld, um mit Hilfe der schemenhaften Erinnerungen, die ihm geblieben sind, seine alte Welt zu rekonstruieren. Dabei hofft er, dass er sich erinnert, wenn die nachgestellten Bilder, Töne und Geräusche mit denen in seinem Kopf vollständig übereinstimmen. Tom engagiert einen halbwegs windigen Typen, Naz, der ihm dabei helfen soll. Naz wird zum Producer und Tom zum Regisseur und Hauptdarsteller seiner eigenen Lebensgeschichte. Doch für Tom entwickelt sich die Suche nach seiner Persönlichkeit zur Obsession, in der er sich vollständig zu verlieren droht. Dabei steigen Toms Ansprüche immer mehr. Die Schauspieler, die er engagiert hat, um Figuren aus seinem (vielleicht) vormals realen Leben darzustellen, müssen nach seiner Pfeife tanzen, und Tom ist irgendwann nur noch ein ziemlich fieser Diktator, der mit Geld eine Welt erschaffen will, die es vielleicht nie gegeben hat. Trotzdem funktioniert sein Plan irgendwie, denn die Mechanismen seiner Erinnerung führen ihn immer weiter zurück, bis zu einem Banküberfall, den Tom mit seiner Crew nachstellt. Das Ende ist der Anfang: Tom steht mit seinem Trolley auf der Straße, und im nächsten Moment wird …
 
Das Möbius’sche Band ist nicht nur endlos – das gilt auch für einen Kreis oder eine Acht. Das Besondere am Möbiusband, und was es nebenbei für Kunst und Literatur so interessant macht, ist, dass es sich um eine Fläche handelt, die nur eine Kante und eine Seite hat. Sie ist nicht orientierbar, so dass man weder oben und unten noch innen und außen definieren kann. Genau so ergeht es Tom, der nicht nur mühsam wieder lernen muss, seinen Körper zu beherrschen, sondern der sich selbst die Aufgabe stellt, seine Wirklichkeit und damit seine Persönlichkeit wieder zu erschaffen. Ihm sind nur ein paar Erinnerungsfetzen geblieben, bei denen unklar ist, ob es sich um Traumsequenzen oder tatsächliche Begebenheiten handelt. Aber was ist schon Wirklichkeit? Und wie stark lässt sich überhaupt eine Realität beeinflussen, die es vielleicht gar nicht gibt und die möglicherweise nur ein Abbild unseres Selbst ohne oder mit Spiegelung durch andere ist? Toms Geschichte ist eine stark surreale Begegnung mit dem Ungewissen. Und das gilt besonders für die Menschen, die er in seinem vorherigen Leben glaubt, gekannt oder vielleicht geliebt zu haben. Die gesichtslosen Gestalten aus seiner Erinnerung bleiben auch in den nachgestellten Szenen ohne Gesicht. Sie wirken wie bedrohliche Tänzer zwischen zwei Welten, die beide wenig mit der Wirklichkeit zu tun haben. Letztlich ist Tom zwar der eigentliche Hauptdarsteller in einem Leben, das er nicht mehr kennt. Doch die Gewissheit wird immer stärker, dass er, wie so viele andere, vielleicht noch nie ein anderes Leben geführt hat als dieses, in dem er sein Leben sucht. Seine Bilderwelten sind nicht nur unvollständig, sie sind möglicherweise symptomatisch für eine Zeit, in der die persönliche Wahrnehmung immer höher bewertet und immer schwieriger wird. Lukas Strebel (Kamera) leistet großartige Arbeit, denn ihm gelingt es in seiner Bildgestaltung, diese Visionen kühl und brutal festzuhalten. So wirken sie wahnhaft und real zugleich.
 
Tom Sturridge spielt diesen Tom aus Tom McCarthys Erfolgsroman, den Omer Fast mutig für die Leinwand bearbeitet hat. Die sinnbildlichen Schrauben können jetzt noch besser angezogen werden, der Thrillercharakter tritt stärker hervor, und Tom Sturridge zeigt den Helden von einer alltäglichen Ausgangsposition ausgehend als anfangs beinahe harmloses Opfer, das sich ganz unauffällig zum Täter wandelt. Beinahe wirkt er liebenswert auf der Suche nach seiner Persönlichkeit, seinem Selbst – ein bemitleidenswerter, ganz hübscher Kerl, der vollkommen verständlich alles wieder gut machen möchte. Aber wohin ihn diese Reise führt, und ob er wirklich etwas über sein früheres Leben erfährt, wird nie so ganz klar. Denn vielleicht gab es gar kein früheres Leben. In allen Brüchen, Spannungen und Steigerungen bleibt Tom Sturridge bei aller Unschärfe ein immer interessanter, kaum durchschaubarer Charakter. Toll!
 
Dieser Film besitzt eine ungeheure Power, unabhängig davon, ob er beim Publikum mehr Spannung, mehr Verwirrung oder innere Unruhe bewirkt. Er ist sehr starkes, auf die Leinwand gebrachtes Kopfkino und funktioniert ähnlich wie ein Geduldsspiel, das man immer wieder neu zusammensetzt im Glauben, es könnte irgendwann ein einfaches Muster entstehen, das sofort verständlich ist. Aber das geschieht nicht. Stattdessen kann sich das Publikum an einem hoch spannenden, intellektuellen Vexierspiel mit einem Touch von Existenzphilosophie erfreuen. Ein Film wie ein Alptraum, aus dem man nachdenklich, aber sehr gern erwacht und sich darüber freut, wie einfach doch das eigene Leben ist.
 
Gaby Sikorski