Rize

USA 2004
Regie: David LaChapelle
Drehbuch: David LaChapelle
Darsteller: Tommy the Clown, Lil C, Miss Prissy
Filmverleih: Rapid Eye Movies
Länge: 86 Minuten
Kinostart: 06.10.2005

Normalerweise lichtet Fotograf David LaChapelle Superstars wie Jennifer Lopez oder Madonna für internationale Hochglanzmagazine ab. Nach seinem Kurzfilm „Krumped“ und dem TV-Beitrag „Clowns in the Hood“ hat er sich jedoch erneut eine Filmkamera geschnappt und ist zum dritten Mal in die schwarze Tanzszene von L.A. eingetaucht. Herausgekommen ist dabei eine spannende Dokumentation über alternatives Überleben im Ghetto.

Die südlichen Stadtteile von Los Angeles stehen seit Jahren sinnbildlich für Unruhen und Gewalt. Die schweren Ausschreitungen von 1992 haben viele noch vor Augen. Für einen Großteil der überwiegend schwarzen Bevölkerung gibt es im Leben nur zwei Alternativen: Den Knast oder eine Kugel im Kopf. Auch Tommy the Clown kennt diesen Strudel der Gewalt aus eigener Erfahrung. Doch nach  einem längeren Gefängnisaufenthalt hat er seinem Leben eine neue Wende gegeben. Statt mit der Waffe und Drogen trat er seither nur noch als tanzender Harlekin in Erscheinung. Damit schuf er eine vollkommen neue Tanzbewegung: das Clowning.

Unter Tommys Anleitung bemalen sich mittlerweile viele Jugendliche ihre Gesichter und schütteln zu satten HipHop-Beats die Hüften. Zu wilden Tanzduellen treffen sich die inzwischen weit über 50 verschiedenen Clowning-Gruppen tagtäglich auf der Straße. Die Stimmung steckt dabei zwar noch immer voller Rivalität, doch die Feindseligkeiten werden beinahe ausschließlich friedvoll auf der Tanzfläche ausgetragen. Und das ist natürlich allemal besser, als sich gegenseitig umzubringen.

In einigen großartigen und fürs europäische Auge bisweilen bizarr anmutenden Bildern fängt der Dokumentarfilm „Rize“ die Tanzeinlagen der neuen Jugendbewegung ein. Gleich zu Beginn des Films wird darauf hingewiesen, dass keine Szene beschleunigt wurde und somit in Echtzeit gezeigt wird. Man mag es kaum glauben.

Wie ein Sozialarbeiter streift Tommy the Clown durch die Straßen von Watts, South Central oder Inglewood, wo er immer neue Kinder einsammelt und von seinem Clowning überzeugt. Und auch außerhalb des Tanzunterrichts kümmert er sich um seine Schützlinge. Clowning ist für ihn weder ein  Trend noch eine Sportart, sondern ein soziales Konzept gegen die zunehmende Verwahrlosung der Kinder. Stocksauer reagiert Tommy, wenn seine Eleven die Schule schwänzen oder in den Farben irgendwelcher kriminellen Banden zum Tanzen erscheinen. Mit stolzer Stimme erzählt er davon, dass er wohl schon so manchem Jugendlichen das Leben gerettet hat, indem er ihn aus den Fängen der Gangs befreite.

Geschickt verbindet Regisseur David LaChapelle die Bilder der afroamerikanischen Tänzer mit Archivaufnahmen von den Naturvölkern Afrikas. Ihre tänzerischen Stammesrituale erinnern von der Bemalung bis zur Choreografie verblüffend an das Clowning. Und auch die Verbindung zum Wrestling, die LaChapelle kurz andeutet,  ist nicht sehr weit hergeholt, wenn sich die Jugendlichen in auffällige Kostüme werfen und sich auf der Straße wie in einem Boxring zum so genannten Battle-Dance gegenüber stehen.

Die Jugendlichen selbst nennen ihren Tanzstil gerne Ghetto-Ballett. Mit Hilfe des Tanzes erhoffen sie sich einen Ausweg aus den Slums. Für sie sind die spontanen Straßenfeste mehr als Frustabbau und körperliche Bewegung. Schnell werden da latente Assoziationen zu der deutschen Dokumentation „Rhythm Is It!” wach. Doch die von Tommy the Clown erschaffene Resozialisierung hat natürlich nur wenig Gemeinsamkeiten mit den pädagogischen Ansätzen eines Sir Simon Rattle.

Wenn sich am Ende Clowns und Krumpers, eine aggressivere Variante des Clowning, zum Duell herausfordern, ist das aus künstlerischer Sicht sicherlich ein Höhepunkt und wäre ein schöner Abschluss des Films geworden. Doch die Realität holte LaChapelles Dokumentation brutal ein. Während des friedlichen Zusammentreffens in einem großen Tanztempel wurde das Haus von Tommy the Clown komplett auseinander genommen und eine 15-jährige Tänzerin starb etwa zur selben Zeit im Kugelhagel vor einem Supermarkt. Bei all dem fantastischen Clowning bleibt der bittere Alltag im Süden von Los Angeles allgegenwärtig. Traurig aber wahr.

Oliver Zimmermann