Ryuichi Sakamoto: Coda

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Fünf Jahre lang begleitete Stephen Nomura Schible den japanischen Ausnahmekomponisten Ryûichi Sakamoto, der für progressive Musik und Filmscores bekannt ist. Die Struktur des Porträts folgt keinen klassischen dokumentarischen Erzählformeln, sondern einem individuellen Faden: Während der Dreharbeiten erhielt Sakamoto eine Krebsdiagnose, entwickelte ein Album, nahm allerhand Töne auf, engagierte sich als Atomkraftgegner. Die Dramaturgie imitiert den abgebildeten Schaffensprozess. Ihre Weltpremiere feierte die mehrdimensionale Doku 2017 bei den Filmfestspielen in Venedig.

Webseite: www.sakamoto-filme.de

Japan/USA 2017
Regie: Stephen Nomura Schible
Mitwirkende: Ryuichi Sakamoto
Laufzeit: 102 Min.
Verleih: Edition Salzgeber
Kinostart: 12. Juli 2018

FILMKRITIK:

Ende der 1970er-Jahre trat der 1952 in Tokio geborene Komponist Ryûichi Sakamoto mit seiner Band „Yellow Magic Orchestra“ als Mitbegründer des japanischen Techno-Pop auf die Musikbühne. Es folgten Solo-Projekte und poppige Jazz-Alben, in denen die Grenzen zwischen klassischer und elektronischer Musik verschwimmen, was Sinn ergibt – die Parallelen zwischen Klassik und Elektro liegen auf der Hand. Ab 1983 machte sich Sakamoto zudem als Filmkomponist verdient: Seine Scores für Almodóvars „High Heels“ (1991) oder Iñárritus „The Revenant“ (2015) lassen die Bandbreite des Musikgenies erahnen. Preisgekrönt wurden seine Kollaborationen mit Bernardo Bertolucci: Für die Musik aus „Der letzte Kaiser“ (1987) bekam Sakamoto einen Oscar, bei „Himmel über der Wüste“ (1990) hagelte es einen Golden Globe. Dass Sakamoto im Anschluss den Score des Sexfilmklassikers „Tokio Dekadenz“ (1992) komponierte, spricht für ihn.
 
Der ebenfalls aus Tokio stammende Dokumentarist Stephen Nomura Schible begleitete Ryûichi Sakamoto von 2012 an fünf Jahre lang mit der Kamera. In seinem Porträt spielt der musikalische Werdegang Sakamotos eine untergeordnete Rolle. Tatsächlich ist es so, dass man via Blitzrecherche mehr Fakten über Sakamotos Laufbahn erfährt als im Film selbst. Stattdessen geht um andere Aspekte des Musikerlebens, denn das Leben selbst schrieb am Skript mit: 2014 – mitten im Dreh – erhielt Sakamoto die Diagnose Rachenkrebs, brach alle laufenden Vorhaben ab und wurde im Angesicht des möglicherweise verfrühten Ablebens aus der Bahn geworfen. Aus der Krise, die scheinbar glimpflich ausging, erwuchs das 2017 erschienene Album „async“.
 
Das unkonventionelle Künstlerporträt verzichtet auf Off-Dozententum, Interviews mit Wegbegleiter/innen oder Familienangehörigen, also künftigen Erbbegünstigten, und folgt keiner biographischen Chronologie, sondern einer essayistischen Struktur. Hier kommt nur Sakamoto selbst zu Wort. Im Fokus stehen der künstlerische Schaffensprozess und seine Wechselwirkung mit der Realität. Dass die Doku dabei den Begebenheiten während des Drehs folgt, passt gut.
 
Ein weiterer Aspekt aus Sakamotos Leben ist sein umweltaktivistisches Engagement seit der Erdbeben-induzierten Atomkatastrophe von Fukushima im März 2011. Der Musiker tritt als prominenter Unterstützer der Anti-Atomkraft-Bewegung auf und stand u.a. neben „Kraftwerk“ beim „No Nukes“-Konzert auf der Bühne, was bemerkenswert ist, weil es in Japan als unangebracht gilt, wenn sich Künstler/innen in Staatsangelegenheiten einmischen. Dennoch liegt hier kein eingleisiger Polit- oder Problemfilm vor. Stattdessen geht alles in Kunst über. Darum geht es; der Rest ist das, was sonst noch so passiert.
 
Auf welche Art und Weise die erwähnten Facetten in Ryûichi Sakamotos Musik widerhallen, gibt in Schibles Film den Ton an. Dazu kommen seltene Archivbilder sowie ein kreativer Umgang mit der Montage und der sonstigen filmischen Gestaltung, wenn Schible etwa ein 2011 bei Fukushima überflutetes Klavier mit einem Geigerzählersound parallelisiert.
 
Schön, wahr und richtig gut wird es, sobald Stephen Nomura Schible dem Protagonisten beim Aufnehmen und Sammeln verschiedener Töne über die Schulter schaut: Einmal „verewigt“ Sakamoto das Geräusch des brechenden „ewigen“ Eises der Arktis. Wo viele Menschen beim Wegschmelzen der Eismasse reflexartig ans Klima denken, hört Sakamoto das schönste Geräusch der Welt. Das inspiriert. Und auch wenn er versucht, den Regen festzuhalten, gehen einem die Ohren auf.
 
Am Ende steht ein Tonkünstlerporträt, das dem Protagonisten Ryûichi Sakamoto beim Schaffensprozess zuschaut und Verbindungslinien zum „echten“ Leben zieht. Es geht viel um das Verschwinden, die Vergänglichkeit, die alle Dinge umweht. Denn dass wirklich Alles irgendwann endet, liegt nun mal in der Natur der Sache.
 
Christian Horn