Vitalina Varela

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Der Locarno-Preisträger von 2019 ist ein cineastisches Highlight in magischen Bildern: Filmkunst in Vollendung – jedes Bild ein Gemälde. Das Drama um die kapverdische Witwe Vitalina Varela, die auf den Spuren ihres verstorbenen Mannes nach Lissabon reist, widersetzt sich den üblichen Formen des Geschichtenerzählens und der Filmsprache. Daraus entsteht eine gewisse Distanz, die in ihrer Sprödigkeit extrem spannungsreich und ausdrucksstark wirkt.

Preise: Filmfestival in Locarno 2019 Goldener Leopard bester Film, Silberner Leopard für die beste Darstellerin

grandfilm.de/vitalina-varela/

Portugal 2019
Regie: Pedro Costa
Drehbuch: Vitalina Varela, Pedro Costa
Darsteller: Vitalina Varela, Ventura, Manuel Tavares Almeida, Francisco Brito, Imídio Monteiro, Marina Alves Domingues
Kamera: Leonardo Simões
124 Minuten
Verleih: Grandfilm
Kinostart: 10. September 2020

FILMKRITIK:

Aus dem Dunkel schälen sich Figuren, sie formen einen merkwürdigen Trauerzug zwischen hohen Mauern, angeführt von einem zittrigen Priester, der von zwei Männern gestützt werden muss. Joaquim ist gestorben, ein Mitglied der kapverdischen Gemeinschaft in einem Elendsviertel in Lissabon. Seine spärliche Habe wird mitsamt einem blutigen Laken verbrannt. Als das Flugzeug landet, in dem seine Witwe Vitalina Varela sitzt, ist alles vorbei. 40 Jahre war sie von Joaquim getrennt, der sie wenige Wochen nach der Hochzeit verließ, um in Portugal ein besseres Leben zu finden. Doch er hat Vitalina nicht zu sich geholt, bis zum Ende hatte sie gehofft, doch ihr Warten war umsonst. Und nun ist es zu spät – alles ist zu spät. Barfuß geht Vitalina die Gangway hinab, die Reinigungskräfte, die ihr entgegenkommen, um das Flugzeug zu putzen, tuscheln ihr zu, sie solle gleich wieder zurückgehen. „Hier in Portugal gibt es nichts für dich“, sagen sie. Aber Vitalina bleibt, sie geht zum Haus ihres toten Mannes – eine Bruchbude mit vergitterten Fenstern und bröckeligen Wänden, sie trifft seine Freunde, die Nachbarn, die Geliebte. Sie alle leben in ihrer ganz besonderen, eigenen Schattenwelt, umgeben von Dunkelheit und weit entfernt von dem, was die Reichen, die Weißen haben. Das andere Lissabon – es muss heller sein dort – doch Vitalina bleibt bei den anderen Kapverdiern im Slum, der so verwirrend ist wie ein Irrgarten. Vitalina ist verbittert, die Einsamkeit hat sie alt gemacht. Sie gibt ihrem Mann die Schuld daran, sie hadert mit ihm und mit ihrem Schicksal.

Pedro Costa erschafft Bilder aus der Dunkelheit. Nicht das Licht scheint hier die Körper zu formen, die Straßen und die Wohnungen, sondern es ist die Schwärze der Nacht, aus der alles entsteht, aus der er seine Schauplätze baut. Nur selten erhellt ein Lichtstrahl die Szenerie, die aussieht wie gemalt – durchkomponierte Gemälde in einer ungewohnten Bildsprache voll absurder, unwirklicher Schönheit. Durch sparsam gesetzte Kontraste tritt der Ausdruck noch stärker in den Vordergrund. In der Malerei nennt man diese Technik „Chiaroscuro“, doch Pedro Costa geht noch radikaler mit dem Licht um.

Die Bewegungen der Menschen hier sind langsam, eher träge als gelassen und dennoch, bei aller Künstlichkeit und bei aller Theatralik, wirkt alles irgendwie normal. Dabei arbeitet Pedro Costa nicht nur mit minimalem Originallicht, sondern auch hauptsächlich mit Originalgeräuschen. Auf diese Weise entsteht eine merkwürdige, beinahe religiös anmutende Stimmung. Manches ist auf seltsame Weise überzeichnet, so formen sich auf Vitalina Varelas nackten Füßen, die die Gangway herunterschreiten, Wassertropfen in Form von Schmerzensmalen, und die Putzkolonne, die ihr entgegenkommt, erinnert an Priester. Die Menschen in Pedro Costas außergewöhnlichem Film sind ebenso dunkel wie ihre Umgebung, in der sie als geisterhafte Schatten wandeln. Vitalina Varela scheint gezeichnet vom Leben, da ist keine Freude mehr; Würde und Verbitterung spiegeln sich gleichermaßen in ihren Gesichtszügen.

Auf diese Weise vom Leben der zugewanderten Kapverdier in Portugal zu erzählen, beweist sehr viel Mut und noch mehr Sensibilität. Pedro Costa hat schon in seinen bisherigen Filmen häufig mit Laiendarstellern von den Kapverdischen Inseln zusammengearbeitet. Vitalina Varela, die Hauptdarstellerin und Co-Autorin, gehört ebenso dazu wie der zittrige Priester. Gemeinsam haben sie ein Kunstwerk geschaffen, das in Form und Inhalt tatsächlich innovativ ist: eine filmische Ode an die Dunkelheit.

Gaby Sikorski