Wahre Lügen

Where the Truth Lies
Kanada 2005
Regie: Atom Egoyan
Buch: Atom Egoyan basierend auf dem Roman von Rupert Holmes
Kamera: Paul Sarossy
Schnitt: Susan Shipton
Musik: Mychael Danna
Darsteller: Kevin Bacon, Colin Firth, Alison Lohman, Rachel Blanchard, David Hayman, Maury Chaykin
108 Minuten, Format: 1: 2,35
Verleih: Concorde Filmverleih
Kinostart: 2. Februar 2006

Wie so oft beschäftigt sich der kanadische Regisseur Atom Egoyan auch in seinem neuen Film mit der Komplexität von Wahrheit und Lüge. Eine betont triviale Krimihandlung fungiert als Aufhänger für vielschichtige gesellschaftliche Fragen, die, obwohl sie zwischen 1950 und 1970 spielt, deutliche aktuelle Bezüge aufweißt. Überzeugende Darsteller und die wie stets ausgefeilte Machart, lassen Wahre Lügen zu einem weiteren herausragenden Werk Egoyans werden.

In den 50er Jahren sind Lanny Morris (Kevin Bacon) und Vince Collins (Colin Firth) ein überaus erfolgreiches Comedy-Duo. In verrauchten Nachtclubs treten sie auf und begeistern ihr Publikum mit schlüpfrigen Witzen und Eleganz. Während Lanny den vulgären Aufreißer gibt, sorgt Vince mit britischer Souveränität für die Akzeptanz seines Partners. Doch hinter den Fassaden herrscht ein anderes Bild, dass der Öffentlichkeit wohlweißlich verheimlicht wird: Ohne Drogen stehen die Entertainer ihre Shows nicht durch, die Mafia in Gestalt des Unterweltboss Sally San Marco (Maury Chaykin) bestimmt wo und wann das Duo auftritt und schließlich wird auch noch die Leiche der jungen Maureen (Rachel Blanchard), in der Badewanne ihrer Suite gefunden. Es ist das Ereignis, dass die Partnerschaft des Duos beendet und gleichzeitig Dreh- und Angelpunkt des Films ist. Was genau damals geschehen ist wurde nie bekannt, Lanny und Vince wurden dank stichhaltiger Alibis nicht verdächtigt und doch trennten sich ihre Wege nach einem unmittelbar danach stattfindenden Telemarathon.

15 Jahre später versucht die aufstrebende Journalistin Karen O’Conner (Alison Lohman) Licht in die Angelegenheit zu bringen. Für eine geplante Biographie über die Entertainer macht sie sich auf die Suche nach der Wahrheit und gerät tiefer in die Abgründe menschlicher Existenz, als sie ahnen konnte.

Ähnlich wie etwa der Versicherungsagent Mitchell in Das süße Jenseits fungiert hier Karen als Identifikationsfigur des Publikums, aus deren Perspektive ein einschneidendes Ereignis Schicht für Schicht enthüllt wird. Dass ihre Ermittlungen sowohl an Akira Kurosawas Rashomon, als auch an Orson Welles Citizen Kane erinnern – letzterer wird in einer Szene gar direkt zitiert – überrascht nicht. Es sind die beiden klassischen Beispiele für Filme, die immer wieder neue Versionen des gleichen Ereignisses vorführt, bzw. eine Persönlichkeit aus unterschiedlichsten Perspektiven schildert, um schlussendliche die subjektive Natur der menschlichen Wahrnehmung und Erinnerung zu betonen. Es ist das Thema, das auch Egoyan Zeit seiner Karriere immer wieder beschäftigt hat, sei es im schon erwähnten Süßen Jenseits oder zuletzt in Ararat, seinem vielschichtigen Film über den Genozid der armenischen Bevölkerung. Kein Wunder also, dass er in der oberflächlich betrachtet trivialen Geschichte, die letztlich wenig mehr ist als ein klassischer whodunit, die Gelegenheit sah, ein weiteres Mal über Wahrheit und Lüge zu erzählen.

Ähnlich wie etliche andere Filme nicht-amerikanischer Regisseure, die momentan ins Kino kommen (von David Cronenbergs A History of Violence bis zu Lars von Triers Manderlay), ist auch Wahre Lügen (die etwas ungelenke Übertragung des viel treffenderen Where the Truth Lies) ein Film über die amerikanische Nation. Je mehr man über die dunklen Geheimnisse von Lanny und Vince erfährt, desto klarer werden die aktuellen Bezüge. In jedem Moment ihres öffentlichen Lebens müssen sie eine Fassade aufrechterhalten, ihre wahre Natur verbergen, eine Rolle spielen. Das Publikum – und das gilt natürlich nicht nur für das amerikanische – will die Wahrheit nicht erfahren, will von Abgründen nichts erfahren, will das idealisierte Bild nicht in Frage stellen. Die wahre Natur eines Menschen ist nur schwer zu erfassen, so sehr nicht zuletzt das Kino unaufhörlich behauptet klare, einfache Antworten zu liefern.

Michael Meyns