80. Filmfest Venedig 2023

Ein Festivalbericht von Kalle Somnitz und Anne Wotschke

 

Erstaunlich einvernehmlich ging die 80. Ausgabe der Filmfestspiele in Venedig zu Ende, und die Jury um Damien Chazelle bildete mit der Vergabe der Preise die Aufnahme der gezeigten Filme bei Presse und Publikum überraschend gut ab. Jedenfalls stand Yorgos Lanthimos’ POOR THINGS fast das gesamte Festival, seit seiner frühen Premiere, ganz oben auf der Liste der Anwärter auf den Goldenen Löwen. Daran hat wohl selbst Searchlight Pictures nicht mehr geglaubt, weil der Film ohne Emma Stone, die wegen des Streiks in Hollywood nicht anreisen durfte, ins Rennen gehen musste. Deswegen hat man den Filmstart sofort von Oktober auf Februar nächsten Jahres verschoben, und so war Lanthimos umso erfreuter über den Erfolg. Er hatte den auf einer Novelle des schottischen Schriftstellers Alasdair Gray beruhenden Stoff Emma Stone auf den Leib geschrieben und sie sogar als Mitproduzentin ins Boot geholt. Schade für die Schauspielerin, dass sie der Premiere nicht beiwohnen, den Applaus nicht entgegennehmen und auch die Preisvergabe nicht erleben konnte. Sie war in Abwesenheit die Königin dieses Festivals.

 

In POOR THINGS (Walt Disney) spielt sie die schwangere Bella Baxter, die sich mit einem Sprung von der Klippe gerade selbst das Leben genommen hat, um sich ihrem übergriffigen Ehemann zu entziehen. Der unorthodoxe Arzt und Wissenschaftler Dr. Godwin Baxter (Willem Dafoe) findet sie, flickt sie wieder zusammen, transplantiert ihr das Gehirn ihres ungeborenen Babys und holt sie wieder ins Leben zurück. So erwacht Bella im Körper einer erwachsenen Frau, hat aber den Geist eines Kindes und muss neu lernen, sich zu bewegen und zu sprechen. Dabei macht sie faszinierende Fortschritte und entwickelt ganz nebenher einen völlig neuen Charakter. Steckte sie vorher in der Corsage einer Frau Ende des 19. Jahrhunderts, hat sie bei Godwin alle erdenklichen Freiheiten und entdeckt das Leben neu. Um ihre sexuellen Triebe zu kontrollieren, will Godwin sie mit seinem Assistenten verheiraten, wogegen Bella auch keine Einwände hat, doch vorher will sie die Welt kennenlernen. Auf ihrer Weltreise lebt sie ihre Sexualität zunächst mit einem Wissenschaftler und glühenden Verehrer (Mark Ruffalo) aus, der ihr aber schon bald nicht mehr genug ist. Ihr gelüstet nach anderen Männern, die ihr mehr vom Leben zeigen können, ist neugierig auf alles Neue, liest, lernt und nimmt sich stets, was ihr gefällt. Der Titel des Films ist dann wohl am ehesten auf ihre Männerbekanntschaften zu beziehen, die sie folgerichtig in ein Pariser Bordell führen, wo sie den Sozialismus einführen will.

So lässt sich diese “Frankensteiniade” als Plädoyer für Frauenrechte und Emanzipation lesen, aber noch beeindruckender sind die Bilderwelten, in die uns Lanthimos schon in KILLING OF A SECRET DEER und THE LOBSTER geführt hat. Diese visuelle Kunst hat er in seinen letzten Filmen derart verfeinert, dass er spätestens jetzt in den Olymp der zurzeit besten Regisseure aufgestiegen ist und neben Kollegen wie Wes Anderson, Dennis Villeneuve oder Christopher Nolan bestehen kann.

 

Pablo Larraín, der zuletzt mit seinen künstlerisch ambitionierten, aber beim Publikum nicht so erfolgreichen Biopics SPENCER  (Bester Film 2021)

und JACKIE (Bestes Drehbuch 2016) in Venedig war, blieb auch mit EL CONDE (Netflix) diesem Genre treu. Auch er wählt einen literarischen Ansatz, indem er für die Lebensgeschichte des sein Land 17 Jahre mit blutiger Hand regierenden chilenischen Diktators Augusto Pinochet die Figur von Dracula bemüht. Pinochet hat so viele Menschenleben auf dem Gewissen, dass Lorrain ihm ein blutrünstiges Leben über 250 Jahre andichtet, in dem er zunächst gegen die Französische Revolution kämpft und sich am Ende auf dem Land versteckt, wo ihn seine Kinder finden und ihren Erbteil einfordern. Mit dieser großartigen Metapher zeigt Lorrain wie das Erbe eines Diktators in der Gesellschaft verbleiben kann, obwohl dieser längst nicht mehr am Ruder ist und so zu einem nationalen Trauma wird, das vom Todd-Haynes-Veteranen Ed Lachman in prächtigen Schwarzweiß-Bildern festgehalten wurde.

Die Überführung des romantischen Charakters in eine moderne Horrorfigur ist nach Lorrains eigenem Bekunden in Chile nicht bei jedem gut angekommen, die Jury zeichnete die provokante Satire trotzdem für das Beste Drehbuch aus. Visuell erinnert sein Film phasenweise an Alejandro Iñárritus BARDO, in dem der Geist eines bekannten Journalisten in subjektiv surrealistischen Bildern mit den Realitäten seines Vaterlandes konfrontiert wird. EL CONDE ist optisch ähnlich beeindruckend, angesichts seines konkret historischen Themas inhaltlich aber nicht immer nachvollziehbar, weshalb Netflix unter Umständen auf eine Kinoauswertung verzichten wird.

 

Auch GREEN BORDER (Piffl) ist ein politischer Film, allerdings mit tagesaktuellem Bezug. Die vor 30 Jahren für HITLERJUNGE SALOMON mit einem Oscar nominierte polnische Regisseurin Agnieszka Holland führt uns darin an die grüne Grenze zwischen Polen und Belarus, wo Diktator Lukaschenko ein zynisches Spiel mit Flüchtlingen aus Afrika und dem Nahen Osten spielt. Mit der Aussicht auf einen sicheren Übergang in die EU lockt er sie, per Flugzeug nach Minsk zu kommen, von wo aus sie an die polnische Grenze gebracht werden und ihr Glück in der EU versuchen sollen. Natürlich sind die polnischen Behörden alarmiert, greifen die Flüchtlinge auf und verfrachten sie wieder nach Belarus. Ein Ping-Pong-Spiel, das tödliche Ausmaße annimmt, wenn die Flüchtlinge Tag und Nacht unterernährt und dehydriert durch die polnischen Wälder und Sümpfe irren.

Holland schildert diese Odyssee in vier Kapiteln, die alle aus einer anderen Perspektive geschildert werden. So begreifen wir das Geschehen nicht nur aus Sicht der Flüchtlingsfamilien, für die die politische Machtprobe zwischen Belarus und der EU oft tödlich endet, sondern sehen auch die Arbeit der Grenzsoldaten auf beiden Seiten, aber auch die verzweifelten Hilfsaktionen  unterschiedlicher NGOs (Non-Governmental Organisations) und zuletzt die Sicht der Aktivistin Julia, die ihren Job an den Nagel gehängt hat und der Situation nicht länger tatenlos zusehen will. Sie ist letzten Endes unser schlechtes Gewissen, weil sie sich gegen die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen zur Wehr setzt und sich nicht scheut, illegale Aktionen auszuführen, um auch nur das Leben eines einzelnen Flüchtlings zu retten.

Gefilmt in dunklen Schwarzweiß-Bildern zeigt uns Holland eindrucksvoll, nervenzerreißend und oft auch beklemmend, wie nicht nur im Mittelmeer, sondern scheinbar an allen Rändern Europas Menschenrechte mit Füßen getreten werden und die Demokratie deutliche Auflösungserscheinungen zeigt. Dabei scheut sie sich nicht, auch die polnische Position in Frage zu stellen, wofür sie aus Reihen der Politik als Vaterlandsverräterin beschimpft wurde.

Der Spezialpreis der Jury mache ihr Mut, sagte sie bei der Preisverleihung und wies noch einmal darauf hin, dass seit 2014 über 60.000 Flüchtlinge an den Grenzen Europas umgekommen sind und das Sterben hält an, weil Europa nicht helfen wil. Später auf der Pressekonferenz antwortete sie auf die Frage, was der Preis für sie bedeute: “Er hilft sicherlich, dass der Film gesehen wird, aber Filme allein werden die Welt nicht verändern. Die Veränderungen müssen andere bewerkstelligen. Europa erwache!”

 

In IO CAPITANO führt uns Matteo Garrone an das andere Ende Europas, wo er ausführlich die Odyssee zweier junger Männer erzählt, die Dakar verlassen, um nach Europa zu kommen. Seydou und Moussa sehen in ihrem verarmten Township keine Zukunft mehr und planen schon lange, nach Europa zu fliehen, um ihren Traum von einer Musikkarriere zu verwirklichen. Sie schlagen alle Warnungen in den Wind und begeben sich auf eine Reise, auf der sie Wüstentrekking, Gefängnisfolter und Sklavenarbeit ertragen müssen und von Betrügern, Erpressern und Menschenhändlern mit leeren Versprechungen einer sicheren Überfahrt um ihre kargen Ersparnisse gebracht werden. Obwohl die beiden regelrecht durch die Mangel gedreht werden, reduziert Garrone sie nie auf den Status von Opfern oder Märtyrern, sondern zeigt zwei junge Männer, die für ihre Ideale kämpfen und bereit sind, ihr Leben riskieren. Der senegalesische Hauptdarsteller Seydou Sarr ist ein TikTok-Star in seinem Heimatland und spielt den verletzlichen Jungen auf einer beschwerlichen Reise quer durch Afrika derart souverän, dass er mit dem Marcello Mastroianni Award als Bester Nachwuchsschauspieler ausgezeichnet wurde, während Garrone den Silbernen Löwen für die Beste Regie gewann.

 

Insgesamt wurden in diesem Jahr sechs italienische Filme im Wettbewerb gezeigt, was Festivalleiter Alberto Barbera damit begründete, dass derzeit ein Ruck durch Italien gehe und viele junge Produzenten verstanden hätten, dass Filme mit kleinem Budget national wie international keinen Sinn mehr machen. Aktuell entstehen in Italien Filme mit doppelt so hohen Budgets wie früher, die meist um die 10 Millionen Euro liegen. Der Eröffnungsfilm COMANDANTE von Edoardo De Angelis kostete gleich 17 Millionen Euro und konnte, obwohl wir gar keine Lust hatten, uns einen Kriegsfilm anzuschauen, sowohl visuell als auch schauspielerisch Akzente setzen. Am Eröffnungstag lag das U-Boot, auf dem der Film spielt, als Promo-Aktion bei Arsenale vor Anker.

Pierfrancesco Favino spielt den Comandante mit großer Präsenz. Er patrouilliert mit seiner Crew während des 2. Weltkrieges vor der europäischen Atlantikküste, und als sie ein vermeintlich feindliches Schiff versenken, nehmen sie nach einigen Bedenken die Schiffbrüchigen an Bord und bringen sie in einen sicheren Hafen. So entwickelt sich der Film vom anfänglichen Actionfilm, der in der Sequenz, bei der die verminte Meerenge von Gibraltar zu passieren ist, eine ungeheure Spannung entwickelt und an Petersens DAS BOOT erinnert, zu einem Plädoyer für Werte, die auch zu Kriegszeiten gelten sollten. Diese Diskussion ist erstaunlich aktuell, denkt man an die Geschehnisse im Ukraine-Krieg, aber auch an die Rettung der Flüchtlinge aus dem Mittelmeer, die die italienische Regierung am liebsten verbieten würde.

Am Ende wird der Comandante gefragt, warum er die Schiffbrüchigen gerettet hat und seine patriotische Antwort lautet: “Weil ich ein Italiener bin!” Hier hätte man sich gewünscht, er hätte gesagt: “Weil ich ein Seemann bin!”, dann hätte dieses Statement die damalige wie heutige Diskussion um Menschenrechte in Krisenzeiten auf den Punkt gebracht.

 

Mit 29 Millionen Euro der teuerste italienische Film war FINALLY DAWN

(FINALMENTE L’ALBA) von Saverio Costanzo. Er erzählt anfangs ungeheuer romantisch die Geschichte der beiden Schwestern Mimosa und Iris, die im Rom der 1950er Jahre leben und fürs Kino brennen. Meist sehen sie amerikanische Schinken, die oft in Cinecitta gedreht wurden und so geschieht  es nach einer Nachmittagsvorstellung, dass Iris, ein üppiger Gina-Lollobrigida-Typ, von einem fremden Amerikaner angesprochen wird, ob sie nicht morgen zu Castings für einen neuen Film kommen wolle. Natürlich kann auch ihre Schwester mitkommen, doch die beiden müssen erst ihre Eltern um Erlaubnis bitten.

Costanzo nimmt sich viel Zeit für diese Anfangsszene, fängt nicht nur das Rom der 1950er Jahre ein, sondern auch die Euphorie, die die Traumfabrik in dieser Metropole auslöst und natürlich drängeln die beiden Teenager solange, bis die Eltern klein beigeben. Beim Vorsprechen trennt sich dann die Spreu vom Weizen, wenn es darum geht, den blanken Busen zu zeigen. So bekommt Iris eine Rolle, während Mimosa, die das verweigert, nach Hause geschickt wird. Enttäuscht, aber doch voller Neugier, lungert sie den ganzen Tag auf dem Studiogelände herum und wartet auf ihre Schwester, bis sie durch Zufall die Aufmerksamkeit der amerikanischen Hauptdarstellerin erregt, die sie sogleich zu einer Nebenrolle an ihrer Seite verpflichtet.

Während Mimosa ihre Schwester nicht mehr wiedersieht, wird sie von der Filmcrew adoptiert und überredet, mit zum Abendessen und später auf die Abschlussparty zu kommen. Überall lauern die Versuchungen und Gefahren des Filmbusiness und fast fühlt man sich auf eine merkwürdige Weise an Filme wie FROM DUSK TILL DAWN erinnert, doch Mimosa balanciert hier wie Alice im Wunderland mit traumhafter Sicherheit über menschliche Abgründe, gegen die sie trotz oder gerade wegen ihrer großen Naivität und Unschuld immun zu sein scheint.

Bedenkt man, dass Costanzo nach eigenem Bekunden eigentlich den nie aufgeklärten historischen Fall von Wilma Montesi erzählen wollte, die damals bei einer solchen Party zu Tode kam und am Strand von Ostia verscharrt wurde, ist sein Film dann wohl doch eher ein surrealistisches Märchen mit vielen Zitaten von Fellini bis Pasolini geworden.

Vielen Italienern war das angesichts des tragischen Stoffs zu märchenhaft, während den Amerikanern die Anschuldigung, mit dem Filmbusiness Verderben und Dekadenz nach Rom gebracht zu haben, gar nicht gefiel. Für uns war es eher ein amüsant-romantischer Film im Film, der zeigt, wie nah Glück und Unglück im Kino oft zusammen liegen.

 

Weitere italienische Filme im Wettbewerb, die wir leider nicht sehen konnten, waren ADAGIO, ENEA von Pietro Castellitto und LUBO, in dem Franz Rogowsky eine beinahe dreistündige Performance abliefert. Der am italienisch klingendste Titel FERRARI war dagegen eine rein amerikanische Produktion für den Weltmarkt, aus dem alles Italienische entfernt wurde. Von Michael Mann mit sicherer Hand inszeniert, spielt Adam Driver den berühmten Sportwagen-Konstrukteur und Penélope Cruz seine geschäftstüchtige Frau, die alle Hände voll zu tun hat, das Imperium ihres Mannes vor dem Ruin zu bewahren. Die vielen Autorennen haben das Kapital aufgefressen und bringen kaum noch neue Kunden, so dass am Ende nur noch die Teilnahme an der ‘Mille Miglia’ Rettung verspricht, ein 1.000-Meilen-Rennen quer durch Italien. Ferrari hatte bisher eine Beteiligung abgelehnt, zu unfallträchtig und gefährlich war dieses Rennen, nicht nur für die Fahrer, sondern auch für das Publikum, das ungeschützt an den Straßenrändern stand. Nun startet er gleich mit mehreren Autos in dieses zu einem historischen Disaster werdenden Rennen.

Wie schon in HOUSE OF GUCCI spielt Adam Driver den italienischen Unternehmer mit ungeheurer Präsenz und darf auf einen Regisseur vertrauen, der nach der Biografie des Sportjournalisten Brock Yates aus dem Jahr 1991 mehr an der Persönlichkeit des Genies interessiert ist, als am Motorsport. Mag sein, dass am Ende Ferraris Worte über Schuld und Verantwortung etwas schwülstig rüberkommen, einem internationalen Erfolg an der Kinokasse werden sie keinen Abbruch tun.

 

Ein weiteres sehenswertes Biopic legte Bradley Cooper mit seiner 2. Regiearbeit MAESTRO (24 Bilder / Netflix) vor, in dem er die Hauptrolle des WEST SIDE STORY-Komponisten Leonard Bernstein gleich selber spielt.

Im Vordergrund steht vor allem dessen Beziehung zu der in Costa Rica geborenen Schauspielerin Felicia Montealegre (Carey Mulligan), mit der er 27 Jahre verheiratet war und drei Kinder hatte. Die beiden waren Seelenverwandte, doch seine bis zuletzt vor der Öffentlichkeit geheim gehaltene Homosexualität, die er mit mehreren Liebhabern auslebte, war  eine schwere Belastung für ihre Ehe, umso mehr, je berühmter der Maestro wurde und die Fallhöhe in einer homophoben gesellschaftlichen Umgebung bei Entdeckung immer größer wurde.

So wurde Bernstein durch seine gesellschaftliche Umgebung zu einem schizophrenen Leben gezwungen, dem er zeitlebens nicht entkommen konnte. Carey Mulligan als Bernsteins Ehefrau bleibt dabei nicht nur eine Nebenfigur. Dank ihres intensiven, nuancierten Spiels leiden wir jederzeit mit ihr. Wir erkennen ihre Qual, ihren Mann einerseits nicht nur mit der Öffentlichkeit, sondern auch mit anderen Männern teilen zu müssen und dabei ihren Gefühlen keinen freien Lauf lassen zu können, da alles im Verborgenen bleiben muss und selbst Bernstein sich ihr gegenüber zunächst nicht öffnet. Erst als er sie wegen eines Mannes verlässt, kommt es zur Trennung der beiden, doch offiziell geht die sinnlose Einschränkung beider Leben durch rigide gesellschaftliche Normen weiter.

Ganz frei und bei sich fühlte sich der Musiker von Weltrang nur auf der Bühne, im Einklang mit sich und seiner Musik. All dies, vor allem die widerstreitenden unterdrückten Gefühle der beiden Protagonisten, werden virtuos inszeniert. Cooper nutzt unter anderem in Schwarz-Weiß gehaltene expressionistische Bilder zur Illustration der inneren Welt des Musikers und Farbfilm zur Darstellung der Welt des schönen Scheins, die doch nur Fassade ist. Und auch in der Auswahl der Musik kann er diesen Zwiespalt kongenial ausdrücken, wobei er nur an ganz wenigen Stellen auf Bernsteins Werk zurückgreift. Ein wenig zu kurz kommt Bernstein soziales Engagement und das weltpolitische Geschehen zu seiner Lebenszeit. Auch ist es zu empfehlen, sich schon vor dem Kinobesuch mit seinem Leben vertraut zu machen, um sich ganz auf diesen audiovisuellen Bilderrausch konzentrieren zu können.

 

Heiß erwartet wurde Sofia Coppolas Biopic PRISCILLA (Mubi) über das Leben von Priscilla Presley an der Seite des King of Rock ’n’ Roll, basierend auf deren 1985 erschienenen Biografie „Elvis and me“ und von ihr selbst mitproduziert. Wer das Buch nicht kennt, wird vielleicht enttäuscht sein, denn die Handlung konzentriert sich auf das Innenleben einer Beziehung, die zwar durch gemeinsame vertraute Gespräche, aber auch durch Abwesenheit des Partners und durch Langeweile in einem Goldenen Käfig gekennzeichnet ist.

Kennengelernt haben sich die beiden in Wiesbaden, wo Elvis ebenso wie ihr Vater als Soldat stationiert war. Als sie sich das erste Mal dort 1959 auf einer von Elvis veranstalteten Party in Bad Nauheim begegnen, ist Priscilla gerade einmal 14 Jahre alt und Elvis 10 Jahre älter als sie und schon ein Star. Er überredet ihren konservativen Vater mit einem militärischen Ehrenwort, mit ihr ausgehen zu dürfen und eine sehr ungleiche Beziehung beginnt. Nachdem Elvis versichert, sie nach ihrer Volljährigkeit zu heiraten, darf Priscilla mit dem Einverständnis ihrer Eltern schon Jahre vor der Hochzeit auf Elvis‘ Anwesen nach Graceland ziehen. An einer katholischen Mädchenschule absolviert sie ihren Highschool-Abschluss. Am 1. Mai 1967 heiraten die beiden, die einzige gemeinsame Tochter Lisa Marie kommt 1968 zur Welt. Die Ehe wird 1973 nach nur sechs Jahren geschieden.

Sofia Coppolas Film wirkt streckenweise ein wenig leblos und düster, was jedoch der Tatsache geschuldet ist, dass sie konsequent aus der Sicht ihrer Protagonistin erzählt – quasi als Gegenentwurf zur Elvis-Biografie von Baz Luhrmann im vergangenen Jahr, die sich ganz auf die Figur des Superstars und seines Managers konzentriert. Sowohl in Deutschland als auch in Graceland gilt das junge schüchterne Mädchen nur als Anhängsel von Elvis, das daheim bleiben muss, wenn der King in Las Vegas die Welt rockt oder mit seinen Freunden umherzieht. Von seinen Frauenbekanntschaften und anderen Exzessen erfährt sie nur aus der Zeitung. Sie wird vielmehr – wie es in dieser Zeit ja auch üblich war –  in die Rolle der braven Ehefrau gedrängt, die im Luxus-Ambiente von Graceland nicht einmal Kontakt mit der Dienerschaft haben darf. Elvis erwartet von ihr absolute Reinheit und Verfügbarkeit, bestimmt, wie sie sich zu kleiden und zu stylen hat. Bei ihr lädt er aber auch seine Sorgen, Ängste und Hoffnungen ab, wenn er nach Hause kommt. Leider werden diese Gespräche nur angedeutet und bleiben so ein wenig blutleer. Zuweilen fühlt man sich sogar an die Vorgänge auf der Neverland-Farm erinnert, wobei der sexuelle Aspekt hier, wie die mit dem Film sehr zufriedene Priscilla Presley selbst auf der Pressekonferenz in Venedig versicherte, keine Rolle gespielt hat. Elvis habe ihr sein Herz ausgeschüttet und sie habe zugehört und ihn getröstet. „Das war unsere Verbindung. Ich hatte vor der Hochzeit keinen Sex mit ihm.“

Cailee Spaeny als Priscilla holt mit ihrem subtilen Spiel aus dieser nicht gerade einfachen Rolle heraus, was möglich ist und wurde dafür mit dem Coppa Volpi als beste Schauspielerin belohnt. Sie widmete die Auszeichnung Priscilla Presley, die ihr zutraute, diese schwierige Aufgabe zu meistern und ihr immer mit gutem Rat zur Seite stand.

Sechs Jahre hat es gedauert, bis Priscilla dieser Ehe ein Ende setzte und endlich selbständig wurde. Während Elvis vier Jahre später an seiner Tablettensucht starb, eröffnete sie eine Boutique in Beverly Hills, wo Stars wie Cher, Lana Turner, Natalie Wood, Julie Christie und Eva Gabor zu ihrem Kundenstamm gehörten. 1982 öffnete sie Graceland für die Fans von Elvis und machte in der Fernsehserie DALLAS als Schauspielerin Karriere. Vielleicht wäre dieser Teil ihres Lebens eine interessantere Geschichte fürs Kino gewesen.

 

In der Nebenreihe Orizzonti war PET SHOP DAYS zu sehen. Olmo Schnabel, Sohn von Julian Schnabel, erzählt hier eine kleine New York Story, die vom Erwachsenwerden handelt und Anleihen bei Filmen von John Cassavetes und Brian De Palma nimmt. Jack lebt hier in einem bürgerlichen Haushalt bei seinen Eltern, die von Willem Dafoe und Emmanuelle Seigner gespielt werden. Er hat sich von ihnen entfremdet und will eigentlich weg von zuhause, doch sein kleines Gehalt als Verkäufer in einer Tierhandlung kann ihm einen solch großen Sprung nicht ermöglichen.

Ganz anders Alejandro, der gerade noch in seinem Zuhause in Mexiko mit seiner Mutter geschlafen hat, als er diese auf der Flucht vor seinem Vater überfährt. Er schafft es bis nach New York, wo er auf Jack trifft und dessen noch nicht ausgelebte (Homo)-Sexualitat nutzt, um ihm Freundschaft vorzugaukeln und mit ihm die Abgründe der Stadt, die niemals schläft, zu ergründen. Drogen, Sex und Alkohol bestimmem ihr Leben, und Alejandro nimmt Jack mit auf Raubzüge in Penthouse-Wohnungen von Superreichen. wo sie allerhand Geld, Klunker und Tafelsilber erbeuten. Doch den beiden Jungs sitzen ihre jeweiligen Väter im Nacken, die sie wieder auf den rechten Weg zurückbringen wollen. So beginnt eine Tour de Force durch das nächtliche New York, die familiäre Dysfunktionalitäten aufdeckt und versucht, den Freiheitsdrang einer jungen Generation einzufangen. Das ist wild, oft auch brutal und nicht immer gelungen, zeigt aber dennoch die Handschrift eines jungen Regisseurs, den man im Auge behalten sollte.

 

In Bestform zeigte sich Woody Allen und legte mit COUP DE CHANCE einen seiner stärksten Filme seit MATCH POINT (2005), VICKY CHRISTINA BARCELONA (2008) und MIDNIGHT IN PARIS (2011) vor. Für Thierry Frémaux, Festivalleiter in Cannes, war der Film ein zu heißes Eisen und so fand die Premiere von Allens 50. Film auf dem Lido statt, auch wenn es ziemlich absurd wirkt, wenn der bald 90-jährige Regisseur bei all seinen Premieren weltweit auf nackte Busen von protestierenden Frauenrechtlerinnen starren muss.

Unter Umständen sei dieser Film sein letzter Film, kündigte er auf der Pressekonferenz an. Immer schwerer falle es ihm, seine Filme in der Heimat zu finanzieren und Schauspieler*innen zu finden, die mit ihm arbeiten wollen. So drehte er erstmals in französischer Sprache und ausschließlich mit französischem Cast, darunter Lou de Laâge, Valérie Lemercier, Melvil Poupaud und Niels Schneider.

Doch der ganze Ärger hat auch gute Seiten: Herausgerissen aus seiner New York-Enklave wirkte sein neues Werk frisch wie nie. Beschwingte Musik von Herbie Hancock statt Freestyle Jazz, ein munterer Regiestil trotz durchaus düsterer Thematik in Anlehnung an Dostojewskis Schuld und Sühne – das kam gut an. Bereits vor den Screenings vor Fachpublikum und Presse gab es aufmunternden Szenenapplaus, der sich nach der Vorführung nur noch steigerte.

Im Fokus steht die junge Fanny, verheiratet mit dem ebenso reichen wie eifersüchtigen Jean, die mit ihrem Gatten in einem der besten Viertel von Paris in einer Traumwohnung lebt. Doch als sie eines Tages ihrem alten Schulfreund Alain zufällig auf der Straße begegnet, gerät ihre wohl geordnete Welt aus den Fugen. Beide kommen sich gefährlich nahe und Fannys Ehe steht vor dem Aus. Jean fackelt nicht lange, er lässt den Widersacher beseitigen und als Fannys Mutter beginnt, Verdacht zu schöpfen, hegt er auch für sie Mordpläne. Doch der Film heißt nicht ohne Bedacht „Coup de Chance“, zu deutsch: „Glücklicher Zufall“. Denn glückliche Zufälle spielen gleich mehrfach bis hin zum pointierten Schluss eine Rolle in diesem virtuosen Spiel der durchkreuzten Pläne, das gleichsam mit den Erwartungen seiner Figuren und der Zuschauer spielt.

 

Auch Roman Polanski steht seit Jahrzehnten auf der schwarzen Liste der Feministinnen. Er reiste gar nicht erst an, sein französischer Produzent bestätigte ebenfalls sein Finanzierungsproblem und regte sich darüber auf, dass genau die Firmen Polanski boykottieren, die mit den Rechten seiner alten Filme auf ihren Streaming-Portalen Millionen scheffeln. So erscheint sein neuester Film THE PALACE (Weltkino) etwas verunglückt, obwohl die Farce, die in der Silvesternacht während des Jahrtausendwechsels in einem mondänen Hotel in Gstaad spielt, fulminant beginnt. Hier an einem der teuersten Orte der Welt mitten in den Schweizer Bergen, bereiten sich  Hoteldirektor Hansueli – der eigentlich von Christopher Waltz, dann aber von Oliver Masucci gespielt wurde – und seine Crew auf die Ankunft ihrer schwerreichen Klientel gewissenhaft vor. Die rücken dann als Karikaturen ihrer selbst an. Mickey Rourke spielt einen amerikanischen Finanzhai im Trump-Look. Sein Schweizer Banker (Milan Peschel) soll seine Konten im neuen Jahrtausend ein wenig auffrisieren. John Cleese spielt einen Multimillionär, der mit seiner frisch angetrauten 22-jährigen Frau eintrifft und gleich seinen täglichen Blowjob einfordert, während eine Gruppe Russen mit Koffern voller Geld anreist und im Fernsehen verfolgt, wie Jelzin den Machtstab an den jungen Putin übergibt, und zuletzt sind da einige von Schönheitschirurgen entstellte Damen mit von der Partie, die gemäß den Prophezeiungen von Nostradamus den Weltuntergang zelebrieren möchten.

Polanski hat das Drehbuch zusammen mit seinem Landsmann Jerzy Skolimowski und dessen Autorin von EO, Ewa Piaskowska, geschrieben. Tatsächlich gelingt ihnen in der ersten Hälfte nicht nur eine amüsante Vorstellung der skurrilen Protagonisten, sondern er fängt auch die Stimmung der Millennium-Nacht ein, die vom Machtwechsel in Russland, der internationalen Bankenkrise und anderen Weltuntergangs-Phantasien geprägt ist. Leider nimmt er diese Themen in der zweiten Hälfte des Films nicht mehr auf, sondern driftet ab in eine Screwball-Comedy, die auch den billigsten Gag nicht auslässt.

 

Neu im Bund der ‘personae non gratae’ der Feministinnen ist Luc Besson, der mit DOGMAN (Capelight) einen Thriller vorlegte, der sich streckenweise mit Todd Phillips JOKER vergleichen lässt. Dies gilt nicht nur für den Inhalt, sondern auch für die Performance von Caleb Landry Jones, an den wir uns aus THREE BILLBOARDS… erinnern. Er spielt einen Jungen, der vom gewalttätigen Vater und seinem debilen älteren Bruder vom Familientisch verwiesen wurde und im Hundezwinger aufwachsen musste. Mit den Hunden bildet er eine Art Familienverband, der weit weniger dysfunktional zu sein scheint als der mit seiner natürlichen Familie. So gelingt es ihm, als es zum Äußersten kommt, mit Hilfe seiner Hunde Hilfe zu holen. Doch auch die staatliche Obhut, kann dem inzwischen zu einem Mann mit ungewöhnlicher Persönlichkeit herangewachsen Douglas kein Zuhause bieten. So organisiert er mit seinen Hunden seine Flucht in ein altes Industriegebäude, das fortan seine Schaltzentrale ist. Von hier aus steuert er die Raubzüge, auf die er seine Hunde dressiert hat und bestreitet so ihren gemeinsamen Lebensunterhalt. Diese Passagen sind zwar reichlich überdreht und wenig realistisch, machen aber einen unheimlichen Spaß, weil man ihnen gerne folgt und von ihnen aufs Beste unterhalten wird. Dass diese Gauner-Idylle nicht lange Bestand hat, ist klar. Bald schon eskalieren die Ereignisse, so dass sich Douglas bei einer schwarzen Polizei-Psychologin wiederfindet, die auch die psychologische Dimension seiner Geschichte in Rückblenden aufdeckt. Zu ihr hat er Vertrauen, weil sie etwas gemeinsam haben: Beide haben in ihrer Jugend Schmerz erfahren und haben Angst davor, missbraucht zu werden.

Luc Besson ist eine erstaunliche Mischung aus Action-Thriller und psychologischer Studie mit Tiefgang gelungen, die mit seinen ungemein sensibel aufspielenden Schauspielern und natürlich den vielen Hunden punktet.

 

Hatten wir eben noch von den großzügigen Etats der italienischen Filme gesprochen, scheint das Französische Kino auf dem Rückzug in Richtung Fernsehen zu sein. Wie in Deutschland gibt es immer weniger Produktionen, die nicht mit Fernsehgeldern produziert wurden, und das sieht man ihnen auf der Kinoleinwand auch an.

 

So z.B. in Stéphane Brizé neuem Film HORS-SAISON, der, im Normalformat gedreht, kammerspielartig von einer Liebesbeziehung erzählt, die vor 15 Jahren abrupt endete und nun in einem Spa an der französischen Atlantikküste eine Neuauflage erfährt. Der bekannte Schauspieler Mathieu will sich eine Auszeit nehmen, sich vom Stress der Großstadt und des Berufslebens erholen und trifft hier die Klavierlehrerin Alice wieder, mit der er vor 15 Jahren zusammen war. Warum ihre Beziehung damals so abrupt endete, wissen sie gar nicht mehr, jedenfalls ist die Sympathie füreinander sofort wieder da, doch diesmal lassen sie es langsamer angehen. Lange Gespräche, ein Candlelight-Dinner und endlose Spaziergänge an der schroffen Atlantikküste setzen zwar keine kinematografischen Höhepunkte, erlauben es aber dem Zuschauer, tief in diese Beziehung einzutauchen. Dies alles ist sehr behutsam und einfühlsam verfilmt, kommt aber nicht über einen guten Fernsehfilm hinaus.

 

Dass die Fernsehhaftigkeit vieler französischer Filme mit dem lieben Geld zu tun haben könnte, thematisiert Cédric Cahn in seinem neuen Film. In Cannes hatte er im Frühjahr noch die Directors’ Fortnight mit THE GOLDMAN CASE eröffnet, da legt er nun in Venedig MAKING OF vor, der von einem chaotischen Filmdreh erzählt und einem ein wenig wie die light version von Michel Hazanavicius FINAL CUT vom letzten Jahr vorkommt.

Simon ist ein in die Jahre gekommener Filmemacher, der als eigensinnig, wenn nicht sogar stur gilt. Sein neuestes Projekt spielt in einer stillgelegten Fabrik und erzählt von einem Arbeitskampf, bei dem die Belegschaft gegen ihre Arbeitsbedingungen kämpft. Schon bald merkt Simon, dass er es in der Realität mit ähnlichen Problemen zu tun bekommt. Denn die Produzenten fordern eine Neufassung des Drehbuchs und drohen damit, die Finanzierung einzustellen, schlimmer noch, Simon stellt fest, dass ihnen ein Drehbuch vorliegt, dass er gar nicht geschrieben hat. Trotz allem hält er daran fest, die „die wahre Geschichte der vom Kapitalismus zerquetschten Menschen“ zu verfilmen. Als das Geld ausgeht und die weitere Finanzierung ausbleibt, steht er vor der Frage, in Selbstausbeutung weiterzudrehen oder das Projekt einzustellen. Die Frage des Geldes spaltet die Filmcrew. Während sich die Künstler am ehesten vorstellen können, auch ohne Bezahlung weiterzuarbeiten, weil sie hoffen, im Nachhinein vom Glanz des Werkes profitieren zu können, stellt sich diese Frage für die Techniker ganz anders dar: Ohne Geld, keine Arbeit!

Fortan muss Simon künstlerische und technische Lösungen finden, Komplikationen im Privatleben seiner Mitarbeiter lösen und immer wieder neue Kompromisse machen, die ihn an den Rand eines  Nervenzusammenbruchs führen. Zum Glück hat er einen jungen Pizzabäcker aus der Gegend engagiert, um all die Querelen mit einer kleinen Kamera festzuhalten und am Ende ist dessen Making Of interessanter als der Film.

Mit Denis Podalydès in der Hauptrolle taucht Cedric Kahn auf recht komische Weise tief in den Prozess des Filmemachen ein und stellt die Frage, ob Kapitalismus und Kultur überhaupt zusammengehen können.

 

Wie ein Pendant dazu im Journalistenmilieu wirkt der Spielfilm VIVANTS (ON THE PULSE) der französischen Drehbuchautorin und Regisseurin Alix Delaporte, die hier eigene Erfahrungen einfließen ließ. Im Mittelpunkt steht die junge Gabrielle, die sich auf eine Ausbildungsstelle bei einer der zahlreichen Pariser Nachrichtenagenturen bewirbt. Zwar hat sie bisher in diesem Metier nur ein wenig Erfahrungen im Technikbereich, doch ihr offenes Wesen, ihre Neugier und Lernbereitschaft bringen sie bald auch als Reporterin an die Front, zum Beispiel bei der Begleitung eines Einsatzes von Rettungskräften. Mit ihr erleben wir hautnah den hektischen Arbeitsalltag des Produktionsteams auf der Jagd nach heißen Stories, bei Interviews, aktuellen Filmdrehs und schnellen Schnitten, um rechtzeitig auf Sendung zu sein. Eine kleine Liaison zwischen ihr und einem der erfahrenen Journalisten wird auch noch integriert, was ein klein wenig aufgesetzt wirkt. Auch die politischen und wirtschaftlichen Erwartungen an das Produktionsteam, in der heutigen Presselandschaft mehr denn je von Relevanz, werden thematisiert. Wobei wir wieder bei der Frage wären: Passen Kapitalismus und freier Journalismus zusammen? Die Regisseurin war selbst einmal Kamerafrau bei Reportage-Magazinen – sie begleitete zum Beispiel den Fussballer Zinédine Zidane für TF1 – und konnte so ihre Erfahrungen einbringen.

Ein nicht ganz einfacher Film, denn die Hektik und der Termindruck übertragen sich auch auf die Zuschauer: nicht zuletzt die schnellen Schnitte verhindern, dass wir die Charaktere wirklich kennenlernen, die Charakterzeichnung bleibt so ein wenig oberflächlich. Aber auch die Freude, die das Arbeiten im Team machen kann, wenn alle zusammenhalten und an einem Ziel arbeiten, wird spürbar.

 

Aus Skandinavien kam THE PROMISED LAND (Plaion), in dem Mads Mikkelsen erneut unter der Regie von Nikolaj Arcel spielt, mit dem er 2012 DIE KÖNIGIN UND DER LEIBARZT verwirklichte. Das Drehbuch schrieb Arcel zusammen mit Anders Thomas Jensen (ADAMS ÄPFEL). Sie erzählen die Geschichte des Soldaten Ludvig Kahlen, der im Dänemark des 18. Jahrhunderts die wilde Heide von Jütland kultivieren will. Das Vorhaben gilt als unmöglich, weshalb ihm der König eine Parzelle Land überschreibt, die er fortan gegen brutale Räuberbanden, gefräßige Wölfe und eine unbarmherzige Natur verteidien musst. Dabei erweist er sich als geschickter Verhandler, der Feinde zu Freunden machen kann und für jedes Problem eine Lösung findet. Als sich endlich ein kleiner Erfolg abzeichnet, ruft das einen skrupellosen Gutsherrn auf den Plan, der ihm seine Grenzen aufzeigen will.

Die Geschichte ist ganz auf Mikkelsen zugeschnitten, der den verzweifelten Farmer mit einer archaischen Kraft und enormen Präsenz spielt, so dass er  die Aufmerksamkeit des Zuschauers komplett in seinen Bann zieht.

 

Ebenfalls aus Skandinavien kommt Mika Gustafson’s zärtliches, aber auch ausgesprochen vitales Debüt PARADISE IS BURNING, für den sie den Regiepreis in der Nebensektion Orizzonti erhielt. Sie erzählt von drei Schwestern, die im Haus Ihrer Mutter leben, obwohl die mal wieder seit Wochen verschwunden ist. Laura (16) bringt sich und ihre Schwestern Mira (12) und Steffi (7) mit kleinen Diebstählen und Betrügereien durch. Ihren  aggressiven und lärmenden Auftritten in der Öffentlichkeit steht ein zärtliches Familienleben untereinander gegenüber. Während sich gesellschaftliche Hilfsstrukturen auflösen, ist die Solidarität der Schwestern untereinander intakt. Ihr Zuhause haben sie sich in ein Paradies umgebaut, das in Gefahr gerät, als sich das Jugendamt zu einem Prüftermin anmeldet.

Gustafson gelingt ein ausgesprochen intimes und zärtliches Porträt dieser kleinen Familie, die solange funktioniert, wie die Außenwelt sie in Ruhe lässt. Dabei dringt sie so tief in die zum Teil verschütteten Familienstrukturen vor, dass sie es mit dem Meister des dysfunktionalen Familien-Films, Hirokazu Kore-eda, aufnehmen kann.

 

Womit wir den Sprung nach Asien wagen. Hier stach vor allem EVIL DOES NOT EXIST (Pandora) heraus, der den Großen Preis der Jury gewann und den wir leider nicht sehen konnten. Nach seinem Oscar-prämierten Film DRIVE MY CAR gelingt Ryusuke Hamaguchi hier eine poetische Parabel über die komplexe Beziehung zwischen Mensch und Natur, die viel Anerkennung fand und mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet wurde.

 

Zu einem Trip ins Land der Geister lädt uns auch die französische Filmemacherin Élise Girard mit ihrer dritten Regiearbeit SIDONIE IN JAPAN ein. Isabelle Huppert spielt Sidonie, die bei einem Autounfall ihren geliebten Mann verloren hat. Seitdem fühlt sie sich mit ihrer Trauer allein auf der Welt, folgt aber der Einladung ihres japanischen Verlegers, nach Osaka zu kommen, um die Neuauflage ihres Buches zu präsentieren.

Girards subtile und subjektive Kamera folgt Sidonie auf ihrem Trip, angefangen vom entvölkerten Flughafen in Paris über menschenleere Abfluggates bis hin zur japanischen Zollstation, wo sie der einzige Customer ist. Auch die endlosen Hotelgänge, durch die übereifriges Hotelpersonal ihren roten Koffer schiebt, sind einsam und verlassen. Irgendwie scheint es, dass Sidonie ihre Umwelt längst nicht mehr wahrnimmt, weswegen ihr Verleger ihr nicht von der Seite weicht, hält er sie doch für selbstmordgefährdet. Doch im Land der Geister manifestiert sich ihre Trauer in einer Wiederbegegnung mit ihrem verstorbenen Ehemann (August Diehl), mit dem sie reden und Zeit verbringen kann. Am Schluss führt er sie unter einen blühenden Kirschbaum, wo es einen Moment so scheint, als würden sich die beiden berühren, doch als die Kamera um die Küssenden herumfährt, wird aus ihrem Mann ihr Verleger. Wie die Kirschblüte mit dem vergangenen Jahr abschließt und in farbiger Pracht neues Leben ankündigt, so gelingt es Sidonie hier, sich von ihrer alten Liebe zu lösen und offen für eine neue zu sein.

 

Noch herzergreifender war RYUICHI SAKAMOTO | OPUS, mit dem uns Neo Sara einen wunderbaren Abschied von seinem Vater ermöglicht. Sakamoto ist schon von seiner schweren Krebserkrankung gezeichnet, nimmt aber noch einmal all seine Energie zusammen, um uns die wesentlichen Stationen seiner großartigen Karriere als Komponist noch einmal eigenhändig vorzuspielen. Schwarz gekleidet sitzt er am schwarzen Flügel, den einzigen Kontrast bilden die weißen Klaviertasten, die Notenblätter, sein weißes Haar und die Stehlampe neben dem Klavier. So dürfen wir noch ein letztes Mal, meist im Gegenlicht, dem Meister bei der Arbeit zusehen. Keine Dialoge, keine Handlung, nichts lenkt in diesem Film von seiner Musik ab, wozu auch viele Fil-Scores zählen, wie z.B. DER LETZTE KAISER, FURYO MR. CHRISTMAS und zuletzt BROKER. Am Ende verneigt sich der Meister noch ein letztes Mal, bevor er plötzlich verschwunden ist und das Klavier auch ohne ihn seine Musik weiterspielt.

 

Zuletzt wollen wir auf den einzigen deutschen Beitrag im Wettbewerb hinweisen, der durchaus heiß diskutiert wurde, auch wenn die Bandbreite der Urteile von genial bis hanebüchen reichte. DIE THEORIE VON ALLEM (Neue Visionen) ist die zweite Regiearbeit des deutschen Kameramanns Timm Kröger, die sich weder die internationale noch die deutsche Presse zu verreißen traute, zu verworren und unter Umständen doch logisch ist die Handlung und zu komplex mit vielen Zitaten aus der Filmgeschichte die Machart. In der amerikanischen Presse wurde er gar mit Christopher Nolans OPPENHEIMER verglichen, ein stringent erzähltes Biopic, zu dem Krögers Film eine Art metaphysisches Gegenteil ist.

Er blendet zurück ins Jahr 1962, wo Johannes Leinert (Jan Bülow) mit seinem Doktorvater (Hanns Zischler) zu einem physikalischen Kongress  in den Schweizer Alpen reist. Johannes hat eine Doktorarbeit vorgelegt, in der er die Existenz multipler Universen aus der Schrödinger Gleichung ableitet. Sein Doktorvater steht seiner Theorie eher ablehnend gegenüber, doch auf diesem Kongress soll ein iranischer Wissenschaftler einen bahnbrechenden Vortrag zu diesem Thema halten. Aber der Vortragende taucht nicht auf, und so ist die illustre Gesellschaft unter sich und muss sich die Zeit mit geistreichen Dinnerpartys und eleganten Ski-Ausflügen vertreiben. Dabei trifft Johannes auf einen dubiosen Professor mit dunkler Vergangenheit, der ihn in seiner Theorie ermutigt und auf eine geheimnisvolle Pianistin (Olivia Ross), die Dinge von ihm weiss, die sie nicht wissen kann. Mit ihrer Hilfe kommt er einem Verbrechen auf die Spur, das schwer zu enträtseln ist. Denn hier in den Schweizer Bergen, wo zu Nazizeiten Uran abgebaut wurde, gehen merkwürdige Dinge vor sich. So entwickelt sich ein Kriminalfall, der in drei Universen spielt und Begriffe wie Schuld und Wahrheit relativiert, denn was in dem einen Universum geschehen ist, kann in dem anderen ganz anders abgelaufen sein.

Kröger nutzt die Theorie der Multiplen Universen und ihren Einfluss auf die Zeit, um eine metaphysische Geschichte zu erzählen, die zwischen Wissenschaftsfilm, Love Story und Krimi hin und her schwingt und dabei inhaltlich kaum zu fassen ist, weil man nie weiss, in welchen Universen sich die Protagonisten gerade befinden und ob die gerade gefundenen Spuren wirklich aus unserer Welt kommen. Gerne lässt Kroger Namen fallen wie Heisenberg oder Niels Bohr und erzeugt eine Pseudo-Spannung, die sich am Ende im Nichts auflöst.

Dem wird nicht jeder folgen wollen, seinem visuellen Artwork hingegen kann man sich kaum entziehen, denn Kröger und sein Kameramann zitieren sich in ihrem Schwarzweiß-Film quer durch die Filmgeschichte, angefangen vom deutschen Expressionismus über Erich Kästner, Hitchcock und Tarkowski bis hin zur Nouvelle Vague und stellen die Frage, inwieweit Begriffe wie Wahrheit und Existenz angesichts ihrer Relativität wichtig sind.

So war endlich mal wieder ein deutscher Beitrag Tagesgespräch auf dem Lido, auch wenn am Ende die Jury an ihm vorbeigegangen ist. Insgesamt haben wir im Gegensatz zur Meinung einiger Kollegen viele Filme gesehen, die wir uns gut in den deutschen Arthouse-Kinos vorstellen können und die den Hype, den ‘Barbenheimer’ sogar in unseren Kinos entfachte, zwar nicht toppen, aber vielleicht aufrechterhalten kann.