Geheimnis eines Lebens

Zum Vergrößern klicken

Verräterin oder Heldin? Diese Frage wirft das hellsichtige, britische Spionagedrama auf, inspiriert von der wahren Geschichte der englischen KGB-Agentin Melitta Norwood. In der Rolle der Joan Stanley, deren ruhiges Rentner-Leben aus den Fugen gerät, als sie vom britischen Geheimdienst MI5 wegen Hochverrat verhaftet wird, brilliert Oscarpreisträgerin Judi Dench. Einst begleitete Joan als Physikstudentin die britische Entwicklung einer Atombombe. Überzeugt etwas für das Gleichgewicht der Großmächte und damit für den Weltfrieden zu tun, gibt sie die Pläne an die Sowjetunion weiter. Als ehemalige James-Bond-Chefin „M“ ist die britische Ausnahmeschauspielerin längst Kult. Jetzt holt sie ihr Lieblings-Regisseur Trevor Nunn in eine andere Realität.

Webseite: www.GeheimnisEinesLebens-derFilm.de

Großbritannien 2019
Regie: Trevor Nunn
Darsteller: Judi Dench, Sophie Cookson, Tom Hughes, Ben Miles, Teresa Srbova, Freddie Gamminara 
Länge: 102 Minuten
Verleih: Entertainment One
Kinostart: 4. Juli 2019

FILMKRITIK:

In einem ruhigen Vorort von London verbringt die 85jährige Joan Stanley (Judi Dench) ihren Lebensabend. Eine ganz normale, bescheidene, unauffällige Rentnerin, so scheint es. Sie liebt ihre Gartenarbeit und ihren regelmäßigen Aquarellzeichenkurs. Doch eines Tages steht der englische Geheimdienst vor der Tür der pensionierten Wissenschaftlerin. Ihr gemächlicher Alltag wird schlagartig auf den Kopf gestellt. „Aufmachen, Staatssicherheit“. Vehement verschaffen sich die MI5-Agenten Einlass. In Handschellen wird sie vor den Augen der neugierigen Nachbarn abgeführt.

Standhaft weigert sich Joan jedoch bei den Verhören ihr bestgehütetes Geheimnis preiszugeben. Aber ein Sprung in ihre Jugend enthüllt nach und nach, was sie jahrzehntelang verbarg. Cambridge, 1938. Auf dem Campus trifft Joan (Sophie Cookson) als junge Physikstudentin den eloquenten russischen Kommunisten Leo (Tom Hughes). Sie lernt ihn über ihre schillernde Kommilitonin Sonya (Tereza Sbroza), die politisch sehr engagiert ist, kennen. Bald schon verliebt sie sich in den jungen Mann, der ihre Weltanschauung verändert.

Während des Zweiten Weltkrieges arbeitet sie in einer streng geheimen Nuklearforschungsanlage. Ihr Chef Max (Stephen Campbell Moore) lernt das wissenschaftliche Talent seiner Mitarbeiterin zu schätzen. Auch, wenn er sie zunächst nur für Schreibarbeiten als bessere Sekretärin einsetzen wollte. Für die Männerriege ist Joan quasi unsichtbar. Sie zählt nicht als ernstzunehmendes Gegenüber. Erst als der unglücklich, verheiratete Max mehr und mehr mit ihr zusammenarbeitet, ändert sich diese Ignoranz ein wenig.

Gleichzeitig realisiert die begabte Wissenschaftlerin zunehmend, dass die Welt am Rande der Zerstörung steht. Ihr Schlüsselerlebnis: Die Atombomben-Abwürfe auf Hiroshima und Nagasaki. Danach erscheint es ihr unerträglich, an der Atomforschung beteiligt zu sein und einfach weiterzumachen wie bisher. Ihrer Meinung nach ist einzige Option, dazu beizutragen, dass alle Länder auf dem gleichen Stand sind und so die Sicherheit durch ein Gleichgewicht hergestellt ist. Konfrontiert mit der Frage, welchen Preis sie für den Frieden zu zahlen bereit ist, muss die junge Frau wählen, ob sie Informationen geheim hält, oder im Namen des Friedens quasi ihr eigenes Land verrät.

Ihr inzwischen erwachsener Sohn Nick (Ben Miles) fühlt sich von der Vergangenheit seiner Mutter völlig überfordert. Dass er sie vor Gericht verteidigen soll, wie sie es sich sehnlichst wünscht, kann er sich nicht vorstellen  „Ich war bloss ein Schatten in dieser von Männern dominierten Welt. Unsichtbar... und am Ende mächtig.“, erinnert sich Joan am Ende der endlosen Verhöre. Ähnlich wie das historische Drama „Hidden Figures – Unerkannte Heldinnen“, das einen entlarvenden Blick in das Hinterzimmer der NASA in Zeiten des Kalten Kriegs wirft, zeugt auch ihre Geschichte von männlicher Ignoranz und dem Kampf um Anerkennung und Gleichberechtigung.

Die Fähigkeiten der jungen Physikerin werden nur zögerlich akzeptiert. Ironischerweise erhöhen derartige Widerstände und Stereotypen ihren Spielraum. Das repressive Geschlechterverhältnis avanciert zur Geheimwaffe. Denn wie ihre schillernde Kommilitonin Sonya im Film richtig bemerkt: „Wir sind Frauen. Niemand traut uns das zu.“  Frauen werden innerhalb der Spionagekrimis oft nur als Sexfallen, in der Tradition einer Mata Hari, dargestellt. Dieses Klischee greift hier nicht. Mit beachtlich erzählerischem Sog begleitet Regisseur Trevor Nunns Inszenierung, nach dem Roman von Jennie Rooney, seine ungewöhnliche Heldin.

Zwischen Schuld und Unschuld, Liebe und Verrat zeigt der ehemalige Intendant der Royal Shakespeare Company nicht zuletzt eine melodramatische Wahrhaftigkeit. Emphatisch identifiziert sich die Kamera mit den Figuren. Die Leinwandpräsenz der Oscar-Preisträgerin Judi Dench ist wie immer herausragend. In Zeiten, da es an guten Filmrollen für reifere Frauen immer noch mangelt, legte sie mit sechzig erst richtig los. Sämtliche sieben Oscar-Nominationen holte sich die meistgeehrte britische Schauspielerin nach dem offiziellen Pensionsalter. Sie ist ein Phänomen.

Aber auch ihrem jugendlichen Pendant, der Schauspielerin Sophie Cookson, gelingt es, das reale moralische Dilemma eine der einflussreichsten Spionin verständlich zu machen. Das Gespür für die Zeit und ihre Themen vermittelt der Film zwar präzise. Doch für die jüngere Generation dürften die Hintergründe über den „Kalten Krieg“ und den gefährlichen Ost-West-Konflikt inzwischen etwas verblasst sein.

Luitgard Koch