Im Spinnwebhaus

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Eine alleinerziehende Mutter überlasst ihre drei Kinder ihrem Schicksal und verschwindet für einige Monate. Was am Anfang noch gut klappt, steigert sich für die drei Geschwister bald zu einer ausweglosen Situation. Da bleibt ihnen nur, sich in phantastische Gedankenwelten zu flüchten und zu versuchen, das fragile Konstrukt aus Lügen und Ausreden gegenüber der Umwelt aufrecht zu erhalten. Das Debüt „Im Spinnwebhaus“ besticht durch seine stilsichere Inszenierung, den professionellen Kinderdarstellern und der stimmungsvollen Mischung aus Familien- bzw. Sozialdrama sowie düsteren Mystery- und Fantasy-Elementen. Am beklemmendsten ist jedoch der Umstand, dass diese tragische Geschichte auf realen Ereignissen beruht.

Webseite: www.missingfilms.de

Deutschland 2015
Regie: Mara Eibl-Eibesfeldt
Drehbuch: Johanna Stuttmann
Darsteller: Ben Litwinschuh, Lutz Simon Eilert, Helena Pieske, Ludwig Trepte, Matthias Koeberlin, Sylvie Testud
Länge: 90 Minuten
Verleih: missingfilms
Kinostart: 31. März 2016
 

FILMKRITIK:

Der 12-jährige Jonas (Ben Litwinschuh) ist es durchaus gewohnt, seiner alleinstehenden Mutter Sabine (Sylvie Testud) bei der Erziehung der kleineren Geschwister Nick (Lutz Simon Eilert) und Miechen (Helena Pieske) unter die Arme zu greifen. Doch dass er bald zum alleinigen Familienoberhaupt wird, damit hätte er nicht gerechnet. Doch so kommt es, als die völlig überforderte Mutter die Familie eines Tages alleine lässt. So sehr sich Jonas bemüht, ihr Verschwinden – so wie sie es gewünscht hat –  geheim zu halten, treten doch bald gravierende Probleme auf: das Geld wird immer weniger, der Hunger immer größer und auch der Strom funktioniert bald nicht mehr. Halt und Hoffnung geben Jonas nur die Freundschaft zu dem geheimnisvollen Felix Graf von Gütersloh (Ludwig Trepte) und die Tatsache, dass sich die Geschwister in phantastische Gedankenwelten flüchten, um die Zeit zu überstehen.

Das düstere Sozialdrama „Im Spinnwebhaus“ beruht auf einer wahren Begebenheit. Über Monate hinweg überließ eine Mutter ihre Kinder sich selbst. Das Haus verwahrloste und die sich bildenden Spinnweben hingen irgendwann so weit von der Decke, bis sie fast die Köpfe der Kinder erreichten. Aus dem Familienhaus wurde ein Spinnwebhaus, daher auch der Filmtitel. Der Film, Ende 2013 in Heidelberg gedreht, ist das erste abendfüllende Werk von Mara Eibl-Eibesfeldt, die bisher mit ihren Kurzfilmen für Aufsehen sorgte. Seine Premiere feierte er bei der letztjährigen Berlinale in der Reihe „Perspektive Deutsches Kino“.

Mit großer Stilsicherheit und einem professionellen Gespür für Stimmungen und Atmosphäre, bewegt sich Mara Eibl-Eibesfeldt durch ihr Debüt, das aufgrund seiner surrealen Momente und Fantasy-Anleihen auch als Sozialmärchen durchgehen könnte. Ein großer Coup ist ihr mit der Besetzung der Kinder im Film gelungen, die ihre Sache herausragend machen. Mit viel Tiefe und einem ausgewogenen Changieren zwischen Trauer, Leid, ausgelassener Freude ob der „sturmfreien Bude“ aber auch der immer wieder aufkeimenden Hoffnung auf die Rückkehr der Mutter, legen sie ihre Figuren – für ihr Alter – enorm vielschichtig an. Besonders Ben Litwinschuh als junges, heillos überfordertes und sich immer weiter in Lügen verstrickendes Familienoberhaupt, überzeugt.

Nachdem die ersten Wochen ohne die Mutter trotz immer neuer Ausreden von Jonas gegenüber kritisch nachfragenden Nachbarn und der Kita-Mitarbeiterin, noch einigermaßen problemlos laufen, bricht der versuchte, fragile Familienzusammenhalt allmählich auseinander. Ungewaschene Haare und über Wochen getragene Kleider sowie die sich im Haus überall rasant ausbreitenden Spinnweben – die sich wie ein roter „Faden“ durch den kompletten Film ziehen und immer wieder auch an anderen Stellen auftauchen –  sind da noch das kleinste Übel. Kritisch wird es, als sich die kleine Miechen bei einem Unfall verletzt und Jonas auch hier dem Wunsch der Mutter vor ihrem Verschwinden treu bleibt: keine Hilfe von außen, denn niemand darf erfahren, dass Sabine die Familie verlassen hat.

Ablenkung vom heimischen Leid erfährt er lediglich durch den unnahbaren Felix Graf von Gütersloh. Ludwig Trepte spielt diesen, stets skurrile Reime von sich gebenden jungen Mann mit großer Spiellust und Leidenschaft, wobei man bei dieser Figur – vor allem zu Beginn und während einer großartigen, kraftvollen (Tanz)-Szene in der Unterkunft von Felix – nie so genau weiß: entspringt der reimende Graf nur der Fantasie des Jungen oder existiert er tatsächlich.
Denn phantastischer und vor allem auch surrealer Momente und Einfälle – die sich oft nur in den Köpfen der Figuren abspielen –  bedient sich Mara Eibl-Eibesfeldt  hier immer wieder. Durch diese bizarren, oft morbiden Bilder und Elemente, generiert der Film hauptsächlich seine beklemmende, dunkle Stimmung – neben der Tatsache, dass er komplett in schwarz-weiß gedreht wurde. Spinnen, die in der Lage sind, einen zu einem beliebigen Ort zu teleportieren oder ein abgelegenes Gebiet namens Sonnental, indem Sabine ihre Dämonen bekämpft, sind da nur der Anfang. Die Ausweglosigkeit der Situation für Jonas kulminiert gegen Schluss in einem mitreißenden, filmischen Endspurt, bei dem Traum und Wirklichkeit mehr denn je kaum mehr auseinander zu halten sind.

Björn Schneider