Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot

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Sein und Zeit sind nicht nur zwei der wichtigsten Themen der Philosophie, sondern auch der Titel des Hauptwerks von Martin Heidegger, der wiederum in gewisser Weise Hauptfigur von Philip Grönings außerordentlichem Film „Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot“ ist. Fast drei Stunden begibt sich Gröning in dieser mal inzestuösen, mal gewalttätigen Geschwistergeschichte in philosophische Sphären, die zu vielfältigen Interpretationen einladen.

Webseite: www.wfilm.de

Deutschland, Frankreich, Schweiz 2018
Regie: Philip Gröning
Buch: Philip Gröning, Sabine Timoteo
Darsteller: Julia Stange, Josef Mattes, Urs Jucker, Stefan Konarske, Zita Aretz, Karolina Porcari
Länge: 172 Minuten
Verleih: 22. November 2018
Kinostart: w-film

FILMKRITIK:

Sommer in Deutschland. Auf einem Feld im Niemandsland, die Alpen im fernen Hintergrund, eine Tankstelle als einziges Zeichen der Zivilisation, sitzen die Geschwister Elena (Julia Stange) und Robert (Josef Mattes). Es ist Wochenende, es ist heiß, am Montag hat Elena ihr Abitur in Philosophie und versucht zu lernen. Um Heidegger und Augustinus geht es, um das Sein, die Zeit, die Erkenntnis, den Menschen als denkendes Wesen, der versucht, den Sinn seiner Existenz auf der Welt zu begreifen.
 
Doch nicht nur philosophische Zitate werfen sich die Geschwister an den Kopf, sie reden im wahrsten Sinne des Wortes über Gott und die Welt, über Roberts Freundin, Elenas Zukunft, die sie an einem anderen Ort sieht, als hier. Zwischendurch geht sie an die Tankstelle und holt Bier und Eis, dann baden die Geschwister in einem nahegelegenen See, sind der Natur ganz nah, aber auch dem Kampf ums Überleben: In einer atemberaubend schönen Aufnahme sieht man einen Grashüpfer, der auf einer Zigarettenschachtel im See treibt, die langsam schwerer wird und sinkt und das Insekt in den Abgrund zu reißen droht. So wie es später den Geschwistern zu widerfahren scheint, die in der Tankstelle eine Pistole finden und ihre theoretischen Überlegungen in blutige Praxis überführen.
 
Zeit ist das große Thema im Werk von Philip Gröning, in der Dokumentation „Die große Stille“ ebenso wie im Spielfilm „Die Frau des Polizisten.“ Viel Zeit verging auch mit der Genese seines neuen Films, der dieses Jahr im Wettbewerb der Berlinale seine Weltpremiere erlebte und bei der Preisverleihung leider leer ausging. Schon Ende der 90er Jahre sprach Gröning in Interviews von „Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot“. Gedreht wurde schließlich im Sommer 2013, die folgenden Jahre verbrachte Gröning beim Schnitt.
 
Man darf davon ausgehen, dass praktisch jeder Moment, jedes Detail des Films exakt Grönings Vorstellungen entspricht, zumal er neben Buch, Produktion und Regie, auch noch die Kamera selbst machte und am Schnitt mitarbeitete. Wenn die Tankstelle also Avia heißt, darf man da gewiss an den Weg denken, bzw. das Gehen und den Namen als Hinweis auf den Scheideweg verstehen, an dem sich die Geschwister wiederfinden. Nach Elenas Abitur, dessen altertümlicher Name Reifeprüfung in diesem Kontext sicher noch besser passt, werden sich ihre Wege trennen, werden sie nicht mehr länger Jugendliche sein, sondern Erwachsene. Doch wohin ihr Lebens-Weg sie führen wird ist offen, Antworten suchen sie zunächst in den philosophischen Texten, schließlich auch in der Praxis, im Versuch, etwas zu spüren.
 
Angesichts Martin Heideggers problematischem Verhältnis zum Nationalsozialismus, aber auch dem bewusst vage gewählten Schauplatz, der mit seinem Alpenpanorama und der Tankstelle eine Art Idealbild Deutschlands darzustellen scheint, mag man den Weg der Geschwister auch als Metapher für den Weg Deutschlands deuten: Nach der Philosophie folgte die Gewalt. Als direkte Konsequenz? Viele Fragen wirft Philip Gröning in seinem Film auf, Antworten gibt er kaum, die bleiben dem Zuschauer überlassen, der sich auf diesen ebenso spröden wie faszinierenden, so komplexen wie rätselhaften Film einlässt. Einfach macht es Gröning sich und seinem Publikum mit „Mein Bruder ist Robert und ist ein Idiot“ nicht, aber er öffnet in einem Maße Raum für Erkenntnis, wie man es im Kino nicht oft erlebt.
 
Michael Meyns