Mein liebster Stoff

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Die aus Damaskus stammende Regisseurin Gaya Jiji erzählt in ihrem autobiografisch gefärbten Coming-of-Age-Drama „Mein liebster Stoff“ von einer jungen Frau, die im diktatorisch regierten Syrien nach Selbstbestimmung strebt. Sie steht exemplarisch für die schwierige Stellung der Frau inmitten eines verkrusteten, patriarchalischen Systems. Jijis poetischer, fast spiritueller Ansatz lässt vieles offen, bietet jedoch auch reichlich Spielraum für Interpretation und Reflexion. Die Kernfrage, die der Film aufwirft: Wie gelingt es, sich von den gesellschaftlichen Fesseln zu befreien?

Webseite: grandfilm.de/mein-liebster-stoff/

Deutschland, Frankreich, Türkei 2018
Regie: Gaya Jiji
Drehbuch: Gaya Jiji, Eiji Yamazaki
Darsteller: Manal Issa, Ula Tabari, Souraya Baghdadi, Mariah Tannoury
Länge: 95 Minuten
Kinostart: 10. Januar 2019
Verleih: Grandfilm

FILMKRITIK:

Syrien, Frühjahr 2011: Die 25-jährige Nahla lebt mit ihrer Mutter und ihren beiden Schwestern in einem Vorort von Damaskus. Nahla ist unverheiratet und träumt inmitten des Arabischen Frühlings von Freiheit. Eine arrangierte Hochzeit mit Samir, einem in die USA emigrierten Syrer, verspricht zunächst die Erfüllung all dieser Wünsche. Doch Nahlas Träume platzen, als Samir lieber ihre jüngere und gehorsamere Schwester Myriam zur Frau nimmt. Ablenkung und Trost findet Nahla bei ihrer Nachbarin: der geheimnisvollen Madame Jiji (Ula Tabari). Sie ist erst kürzlich in das Haus gezogen, um ein Bordell zu eröffnen. 

„Mein liebster Stoff“ ist das Langfilmdebüt von Gaya Jiji. Nach Abschluss ihres Studiums der Filmwissenschaften in Paris, inszenierte sie drei Kurzfilme. Alle drei Produktionen wurden auf internationalen Filmfestspielen gezeigt. Auch „Mein liebster Stoff“, der dieses Jahr in Cannes Weltpremiere feierte, schaffte es ins Programm einiger Festivals. Darunter das Filmfest Braunschweig sowie das Arabische Festival in Tübingen, bei dem Jiji auch selbst anwesend war.

Gaya Jiji nimmt in ihrem Mix aus Coming-of-Age- und Familien-Drama zum einen den Kampf gegen das restriktive, unterdrückende Assad-Regime in den Blick. Ein Kampf, der seinen Höhepunkt im Arabischen Frühling 2011 fand. Um auf den Protest der Bürger und damit auf die historischen Hintergründe des Films zu verweisen, nutzt Jiji immer wieder originale Archivaufnahmen aus jener Zeit. Wir sehen unter anderem Bilder von Bombenangriffe auf Damaskus ebenso wie blutige Auseinandersetzungen zwischen Sicherheitskräften und Protestierenden. Authentische Aufnahmen direkt von der Straße, die oft von Smartphone-Kameras eingefangen wurden.

Diese Momente sorgen für Beklemmung, da sie dem Zuschauer doch die dramatischen Lebensumstände der Menschen vor Augen führen. Menschen, die trotz der ständigen Unruhen und Bedrohung ihren Alltag bewältigen müssen – wie Nahla und ihre Familie. Dass Nahlas Schwestern der arrangierten Ehe und dem potenziellen Schwager aus den USA alles andere als positiv gegenüberstehen, wird in einer ebenso nachdrücklichen wie schwarzhumorigen Szene am Esstisch deutlich. Abfällige Bemerkungen der Schwestern über Nahlas  Zukünftigen wechseln sich ab mit zynischen und sarkastischen Äußerungen von Nahla selbst. In diesen Dialogen offenbart sich ein zweites Kernthema, auf das Jiji mit Nachdruck verweist.

Denn die Filmemacherin legt großen Wert darauf, ebenso auf die bestehende Ungleichheit zwischen den Geschlechtern in Syrien aufmerksam zu machen. Nur im Jemen und im Tschad ist laut des „Global Gender Reports“ des Weltwirtschaftsforums die Situation für Frauen noch schlimmer. Die Art und Weise jedoch, wie Jiji diesen Umstand sowie die fehlenden Möglichkeiten zur (gerade auch sexuellen) Selbstverwirklichung thematisiert und inszeniert, ist eine zwiespältige Angelegenheit.

Denn stellvertretend für die Sehnsüchte und Wünsche der Frauen stehen hier oft die geheimen romantischen Fantasien und sinnlich in Szene gesetzten, von schwermütig klingenden Streichern untermalten Tagträume der Hauptfigur – surreal anmutende Momente, bei denen jedoch häufig nicht klar ist, ob sie in Wahrheit nicht vielleicht doch stattfinden. Was ist Realität und was spielt sich nur im Kopf von Nahla ab? Der Film gibt darauf keine abschließende Antwort. Andererseits aber lässt diese meditative und poetische Herangehensweise aber natürlich auch Raum für Interpretationen. So oder so ist dieser gewählte Ansatz unkonventionell und fordert den Kinobesucher zu eigenständiger Reflexion auf.

Björn Schneider