Die Jurybegründung im Wortlaut

In einem minimalistisch-kühlen Setting treten zwei Charaktere auf. Ihre verbalen Ausführungen bilden eine drastische Rede, die sich an ein unsichtbar und stumm bleibendes Gegenüber richtet. Vom ersten ausgesprochenen Satz an entwickelt sich daraus ein Sog in die schwer aushaltbare Realität menschlicher Grausamkeit. Die beiden Männer waren maßgeblich an Verbrechen gegen die Menschlichkeit beteiligt und legen jetzt ungehemmt Rechenschaft über ihr Handeln und dessen Beweggründe ab. In die unheimliche Alltäglichkeit ihrer Formulierungen mischen sich immer wieder Begriffe, die einen Horizont von historischen Referenzen eröffnen. De Facto präsentiert nicht einfach zwei Täter, sondern bietet eine szenische Reflexion über Täterschaft und die sozialpsychologischen Dimensionen von Massengewalt. Die Dramatis personae sind keine Individuen sondern zu lesende Kunstfiguren, geformt aus einer Vielzahl verdichteter und ineinander verwebter Zeugnisse dokumentierter genozidaler Verbrechen. Mit unglaublicher Wucht macht der Film nur durch das gesprochene Wort und seine Verkörperung das Nachleben der Gewalt ebenso erfahrbar wie ihre bedrohliche Aktualität. Selma Doborac ist ein außergewöhnlicher und hochintensiver Film gelungen, der wie kaum ein anderer zuvor zerstörerische (Gruppen-)Dynamiken und das Inhumane im Menschen auch philosophisch zu denken gibt. De Facto interveniert in unsere Tendenz, die unangenehme aber notwenige Auseinandersetzung mit Massengewalt zu Verdrängen. Er ermöglicht eine neue Form künstlerischer Zeugenschaft, die auch unseren Glauben an Gerechtigkeit herausfordert.

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