Berlinale 2023
Ein Festivalbericht von Kalle Somnitz und Anne Wotschke

Schon vor Start der diesjährigen Filmfestspiele in Berlin erhoben sich kritische Stimmen der Pressevertreter: zu wenig Glamour stöhnten die einen, zu kopflastig die anderen. Und dennoch war die Freude zu spüren, endlich wieder einem Festival beiwohnen zu können, das von der Corona-Epidemie unbelastet aus dem Vollen schöpfen kann. Keine Maskenpflicht mehr, volle Platzkapazität und reisefreudige Stars aus aller Welt mit ihren neuen Filmen im Gepäck.

Gleich zur Eröffnung versammelten sich wie gewohnt Politprominenz sowie nationale wie internationale Stars und Sternchen auf dem Roten Teppich und drinnen im Saal wurde dann – auch schon fast ein Ritual – der ukrainische Präsident Selenskyj zugeschaltet. Doch diesmal warb er nicht für noch mehr Waffen, sondern philosophierte über das Verhältnis von Krieg und Kultur und machte letztlich Werbung für seinen eigenen Film SUPERPOWER, in dem ihn Sean Penn interviewt und porträtiert. Eigentlich sollte der Dokumentarfilm über einen Schauspieler berichten, der zum Präsident wurde, aber exakt am ersten Drehtag überfiel Russland die Ukraine und der Film bekam dann eine ganz andere Richtung.
Penn streift als Kriegstourist durch das Land und berichtet uns vom Schrecken des Krieges. Dabei inszeniert er hauptsächlich sich selbst, zwängt sich in eine Militäruniform, besucht die verschiedensten Kriegsschauplätze und ist ständig im Bild. Mal rauchend, mal trinkend, dann nachdenklich und schließlich als aufmerksamer Zuhörer, der den Ausführungen von Militär-Experten folgt. Anders als in MARIUPOLIS oder MARIUPOLIS 2 des von den Russen ermordeten Regisseurs Mantas Kvedaravičius, kommen wir dem Kriegsgeschehen hier nicht näher, sondern folgen dem naiven Patriotismus eines Hollywood-Stars, der auf der Pressekonferenz unumwunden zugab: “Mag sein, dass dies nicht gerade ein unvoreingenommer Film ist, aber schließlich geht es auch um einen ungerechten Krieg.”

Wesentlich unpolitischer, aber nicht gerade besser ging es mit dem Eröffnungsfilm SHE CAME TO ME weiter. Sieben Filme hat Rebecca Miller (Tochter von Arthur Miller) bereits gedreht und vier davon zuerst in Berlin präsentiert. Ihr neuer kann zwar mit Stars wie Anne Hathaway, Peter Dinklage und Marisa Tomei aufwarten – ist aber eine arg seichte Komödie: Opernregisseur Steven steckt in einer Schaffenskrise, aus der ihn auch seine frühere Therapeutin und jetzige Ehefrau nicht lösen kann. Denn seitdem er sich in einem One Night Stand von der nach Liebe suchenden Skipperin Katrina hat abschleppen lassen, schippert seine Ehe stürmischen Zeiten entgegen. Während seine Frau ihre Liebe zu Gott entdeckt und mit dem Kloster liebäugelt, hat sich sein pubertierender Sohn in die minderjährige Tochter der Putzfrau verliebt. So erzählt der Film gleich drei Liebesgeschichten, von denen er jedoch keiner wirklich auf den Grund geht und den ganzen aufkommenden Problemen am Ende mit einer heiteren Schiffstour entkommt. Dies scheint reiner Eskapismus zu sein und man muss sich fragen, ob ein solcher Eröffnungsfilm einem sich politisch und gesellschaftskritisch gebenden Festival würdig ist – allerdings brachte er ein wenig Hollywood-Glanz in die Hauptstadt.

Im Gegensatz zu den anderen A-Festivals wie Cannes und Venedig haben es deutsche Produktionen weniger schwer, in den Wettbewerb der Berlinale zu gelangen. Gleich fünf davon bewarben sich in diesem Jahr um den Goldenen Bären. Den Anfang machte Emily Atef mit ihrer Verfilmung von Daniela Kriens Roman IRGENDWANN WERDEN WIR UNS ALLES ERZÄHLEN (Pandora), der während eines heißen Sommers 1990 auf einem Bauernhof an der deutsch-deutschen Grenze spielt. Dort hat sich Johannes, der Sohn des Hauses, unter dem Dach mit seiner Freundin Maria ein kleines Liebesnest geschaffen. Er träumt davon, Fotograf zu werden und will an der Kunsthochschule in Leipzig studieren. Maria liest gerne russische Literatur und schwänzt dafür auch schon mal die Schule. Ihre Liebe bekommt Risse, als sie eine Affäre mit einem wesentlich älteren Nachbarn beginnt. Dieser teilt ihre Leidenschaft für Literatur und übt mit seiner fordernden rauen sexuellen Ausstrahlung eine starke Anziehungskraft auf sie aus.
Unaufgeregt und wirklichkeitsnah fängt Emily Atef diese ungewöhnliche Beziehung ein und führt ihre verstörenden Sexspiele auf eine Seelenverwandtschaft zurück, denn beiden ist das Dorf längst zu klein geworden und sie teilen eine wehmütige Form von Fernweh.

Mit ihren 80 Jahren war auch Margarethe von Trotta noch einmal im Wettbewerb vertreten. In ihrem Biopic INGEBORG BACHMANN – REISE IN DIE WÜSTE (Alamode) lässt sie geschickt zwei Handlungsstränge gegeneinander laufen. Da ist zum einen die Liebesgeschichte zwischen Bachmann und Max Frisch, die sie gegen all ihre Prinzipien eingegangen ist. Erwartungsgemäß zerbrach diese nach vier Jahren und verletzte sie dennoch so tief, dass sie in eine Schaffenskrise geriet, aus der sie nur durch eine Wüstenreise mit einem Freund wieder herausfand. In der endlosen Weite und Stille, die der toxischen Liebesgeschichte immer wieder entgegengestellt wird, schöpft sie neue Kraft und findet ins Leben zurück. Leider können die Bilder die großen Gefühle, die hier verhandelt werden, nicht einlösen. Selbst wenn sie es endlich zu ihrem Sehnsuchtsort Rom geschafft hat, wird die Kulisse im Studio nachgebaut, und Ronald Zehrfeld erscheint als Max Frisch fehlbesetzt, auch wenn er, laut Trotta, dem Schriftsteller nicht so sehr körperlich, aber dafür im Herzen ähnlich wäre. Noch dazu hatte Trotta keinen Zugriff auf den gerade veröffentlichten Briefverkehr, der den Macho-Literaten doch in ein besseres Licht stellt, als Ingeborg Bachmann das tat. So ist der Film auch nicht immer auf dem neuesten Stand und bringt uns dennoch einen interessanten Einblick in das Leben einer Künstlerin, die schon ein Stück weit vergessen scheint.

Dass Angela Schanelecs MUSIK (Grandfilm) harte Kinokost ist, damit war bereits im Vorfeld zu rechnen und in der minutenlangen Eingangssequenz folgen wir den Wolken eines nebelverhangenen Berggipfels. Irgendwie erinnerte mich die Szene an Apychatpong Werasetakuls UNCLE BOONMEE, wo meine Augen solange einem Wasserbüffel folgten, bis ich eingeschlafen bin. Später belehrte mich Bertrand Tavernier, ich sei nicht eingeschlafen, sondern vom Regisseur hypnotisiert worden. Den Trick nun kennend, bin ich hier der Vernebelung meiner Sinne knapp entgangen und wurde, als die Sonne herauskam, mit einer pittoresken Küstenlandschaft Griechenlands belohnt. Hier spielt die Geschichte von Jon, der gerade einen Mann in Notwehr erschlagen hat und sich nun in die Gefängniswärterin Iro verliebt und mit ihr ein Kind bekommt. Aber wie soll man hier an den Ödipus-Mythos denken, wenn das Geschehen quasi im Off stattfindet und wir auch nicht erfahren, dass es sich bei dem Erschlagenen um Jos Vater handelt und Iro seine Mutter ist. Auch der erste Dialog hilft nicht weiter, denn die beiden Krankenschwestern unterhalten sich hier nur über ein Kreuzworträtsel und so scheint auch der ganze Film zu funktionieren.

Niemand im deutschen Kino arbeitet so stark mit Auslassungen und Reduktionen wie Angela Schanelec. Sie erzählt in Tableaus und Ellipsen, mit minutenlangen Einstellungen. Man muss das Geheimnis eines jeden Bildes lösen, um das nächste verstehen zu können, und so kristallisiert sich dann langsam eine Geschichte heraus. Mit Unterhaltung hat das natürlich wenig zu tun und nur wenige Kinogänger werden eine solche Herausforderung annehmen, der Jury allerdings war MUSIK der Drehbuchpreis wert.

Wie Schanelec ist auch Christian Petzold der Berliner Schule zuzurechnen. Mit ROTER HIMMEL (Piffl) legte er aber einen wesentlich publikumsaffineren Film vor, der mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet wurde. Leon und Felix sind Freunde seit Kindertagen, gemeinsam fahren sie in ein Ferienhaus an die Ostsee, um zu arbeiten.

Felix will sich an der Hochschule für Fotografie mit einer Mappe bewerben, die er hier fertigstellen will, und Leon will seinen zweiten Roman vollenden. Doch es ist ein heißer Sommer, und nicht nur das kühle Nass der Ostsee lenkt die beiden ab, im Ferienhaus treffen sie auch auf Nadja (zum dritten Mal in Folge spielt Paula Beer die weibliche Hauptrolle in einem Petzold-Film) und ihren Freund Devid, der hier als Rettungsschwimmer arbeitet. Vier junge Menschen treffen in diesem Hitzesommer aufeinander, in dem ein Funke reicht, um nicht nur die umgebenden Wälder, sondern auch ihre Gefühle zu entzünden.

Petzold spielt mit großer Leichtigkeit auf der Klaviatur der Emotionen. Glück und Sehnsucht, aber auch Eifersucht und Empfindlichkeiten, die zu Spannungen führen, gehören zu diesem Urlaubserlebnis, das mit der Ankunft von Leons Lektor (Matthias Brandt) noch einmal eine entscheidende Wendung erfährt.

Die Inszenierung ist so unaufgeregt und sicher und das Spiel aller Protagonisten so authentisch, dass während der Pressekonferenz die Frage aufkam, ob es überhaupt ein Drehbuch gab. “Erst ist das Drehbuch”, antwortete Petzold, und dann werde so lange geprobt, bis vom ursprünglichen Text nichts mehr übrig ist. Das sei dann für ihn als Regisseur der glücklichste Moment. Petzold hat zur Vorbereitung die Waldbrände in der Türkei besucht. Dort herrschte Totenstille, keine Vögel, kein Rascheln der Bäume, eine gespenstische Atmosphäre, die ihn an den Sommernachtstraum von Shakespeare erinnerte. “In Deutschland gibt es eigentlich keine Sommerfilme und genau deswegen wollte ich einen machen.”

Der letzte deutsche Beitrag im Wettbewerb war dann BIS ANS ENDE DER NACHT (Grandfilm) von Christoph Hochhäusler. Wenn man ihn bisher ebenfalls der Berliner Schule zurechnen konnte, versuchte er sich nun im Genre-Kino. Sein Thriller erzählt von Robert, einem Undercover-Agenten, der von der Transfrau Lina ins Drogenmilieu eingeführt werden soll, um einem Großdealer das Handwerk zu legen. Bei Erfolg bringt Lina dieser Job die Freiheit, denn sie sitzt noch eine Haftstrafe ab, während Robert nicht nur mit der Drogen-Mafia, sondern auch mit seinen Gefühlen zu kämpfen hat. Er kannte und liebte Lina schon vorher, nun hat sie sich im Knast einer Geschlechtsumwandlung unterzogen und stellt ihn damit vor Fragen seiner eigenen Sexualität. Ihr Verhältnis ist geprägt von Misstrauen und Hassliebe, wobei Robert ein selbstzerstörerisches Bündel aus Zweifeln, Lina dagegen der Spielball von allen ist, doch sie ist fest entschlossen, sich einen Weg in die Freiheit zu erkämpfen.

Die Mischung aus Krimi und Liebesfilm funktioniert und Hochhäusler inszeniert sie wie einen ‘film noir’. Mit ungesättigten Farben, oft im Dunkeln oder im Off, verweigert die Kamera den Über- oder Durchblick. Vieles bleibt vage oder im Ungefähren und so spiegelt die Handlung Roberts Gefühlswelt. Nichts wird hier auserzählt, alles ist im Flow, die Geschichte verändert sich genauso schnell wie die Gefühle. Für Hochhäusler ging es nicht um die Story, sondern um eine mediale Erfahrung. Sein Vorbild war Abel Ferraras BAD LIEUTENANT. Doch der eigentliche Held des Films ist Debütantin Thea Ehre, die hier eine starke Transfrau spielt und von der Jury mit einem Silbernen Bären für ihre Leistung belohnt wurde.

Für schräge Rollen ist auch der deutsche Schauspieler Franz Rogowski bekannt, der in DISCO BOY, einer internationalen Koproduktion ohne deutsche Beteiligung, zu sehen war. Das Erstlingswerk des italienischen Regisseurs Giacomo Abbruzze setzt auf eine intensive Bildsprache und erzählt die Odyssee von Aleksei, der seiner Heimat Belarus entflieht, weil er sich von der Regierung missbraucht und verfolgt fühlt. Er schafft es bis nach Paris, wo er sich der Fremdenlegion anschließt. Die harte Ausbildung und die entbehrungsreichen Auslandseinsätze können ihm nichts anhaben, doch das Versprechen einer französischen Staatsbürgerschaft als Lohn rückt in immer weitere Ferne, bis ihm klar wird, dass er hier genauso ausgenutzt wird wie in Belarus.

Mag sein, dass die Geschichte etwas parabelhaft und manchmal sogar kitschig daherkommt, doch Abbruzze gelingt es, die kraftvollen Bilder seiner Kamerafrau Hélène Louvart mit dem Sound des Elektromusikers Vitalic zu kombinieren, was dem Film eine poetische Transzendenz gibt.

Philippe Garrel, sonst eher auf den Filmfestspielen in Cannes und Venedig zu Gast, folgte in diesem Jahr zum zweiten Mal einer Einladung nach Berlin. Diesmal brachte er alle seine Kinder mit, die auch in seinem Wettbewerbsbeitrag LE GRAND CHARIOT Geschwister spielen. Sie stellen die jüngste Generation einer Puppenspielerfamilie dar, die nach dem Tod des Vaters versuchen, den Betrieb aufrechtzuerhalten, letztendlich aber scheitern. Sohn Louis sieht seine Berufung eher in der Schauspielerei und schafft als erster den Absprung. Seine beiden Schwestern machen alleine weiter, versuchen zu modernisieren, schreiben eigene neue Stücke. Doch am Ende des Tages bleibt zu wenig übrig, um den Sprung in die Zukunft zu schaffen. Dritter im Gespann ist Louis’ bester Freund Pieter, ein erfolgloser Maler, der kurzzeitig beim Theater mitmacht und für amouröse Verwicklungen sorgt. Er verlässt seine von ihm schwangere Freundin, zu der sich jedoch Louis immer mehr hingezogen fühlt. Das Streben nach Individualität und Selbstverwirklichung, die Auflösung von Familienstrukturen am Übergang zu einem neuen Zeitalter – Philippe Garrel setzt eher auf Dialoge als auf Bilder, vermeidet jegliche Nostalgie, was dem Zuschauer ein wenig die Einfühlung erschwert.

Rolf de Heers THE SURVIVAL OF KINDNESS ist eine Allegorie auf den globalen Rassismus, manifestiert in der Gestalt einer namenlosen ‘Blackwomen’, die zu Beginn des Films mitten in der Wüste von Gasmasken tragenden weißen Männern in einem Käfig ausgesetzt und dem Tod überlassen wird. Doch unsere Protagonistin ist noch nicht bereit zu sterben, mit unendlicher Geduld gelingt es ihr, sich zu befreien. Sie begibt sich auf eine lange Wanderschaft zunächst quer durch die Wüste, dann durch Wälder und Gebirge bis in die Stadt. Überall trifft sie nur auf Tod, Zerstörung, Verzweiflung und Leid, keine Spur von der im Titel zitierten Freundlichkeit. Stattdessen hat eine Seuche die Erde fest im Griff, die den ohnehin vorhandenen Rassismus noch verstärkt. Farbige werden gnadenlos gejagt und getötet – von Menschen in Gasmasken. Der Handlung wird kein fester Ort oder eine feste Zeit und auch keine spezielle Sprache zugeschrieben, die Figuren unterhalten sich in einer Fantasiesprache. De Heers düstere Dystopie ist minimalistisch erzählt, bleibt ein wenig zu sehr im Vagen und beeindruckt dennoch durch seine Konsequenz.

Abgesehen vom Übergewicht an deutschen Filmen im Wettbewerb sollten die Kritiker des diesjährigen Line Ups recht behalten. Die internationale Konkurrenz war zu schwach, als dass man sich mit den anderen A-Festivals messen könnte. Und auch die Jury-Entscheidungen erscheinen wenig nachvollziehbar. Dass am Ende SUR L’ADAMANT, ein Dokumentarfilm über das Adamant, eine einzigartige Tagesklinik, die in Paris mitten auf der Seine schwimmt, den Goldenen Bären gewinnt, war nicht nur überraschend, sondern auch noch nie dagewesen. Der Regisseur hingegen ist kein Unbekannter: Altmeister Nicolas Philibert hatte vor über 20 Jahren mit seiner Schul-Doku SEIN UND HABEN einen phänomenalen Arthaus-Hit am Start, der sogar in Deutschland über 500.000 Besucher erreichte. Jetzt beschreibt er minutiös die tägliche Arbeit eines medizinischen Teams, das nach Kräften versucht, gegen die Entmenschlichung in der Psychiatrie anzuarbeiten.

Am Ende hielt der Wettbewerb dann doch noch ein Bonbon parat. SUZUME (Wild Bunch / Crunchyroll) ist ein mit Spannung erwartetes Anime des japanischen Visionärs Makoto Shinkai (WEATHERING WITH YOU) und seit Jahren mal wieder ein Zeichentrickfilm im Wettbewerb. Vor 21 Jahren gelang dies zum ersten Mal Altmeister Hayao Miyazaki mit CHIHIROS REISE INS ZAUBERLAND, der gleich den Goldenen Bären holte. Den hätte man auch SUZUME gegönnt, erzählt er doch eine Geschichte, die weit über das Genre hinausgeht und nicht nur als Abenteuerfilm funktioniert, sondern auch als Erkundungsreise ins eigene Ich. Der Regisseur war sich allerdings nicht so sicher, ob sein Film weltweit funktioniert: “Ich bin gespannt, wie er sich auf das internationale Publikum auswirkt, was ergibt Sinn, was nicht, und welche Gemeinsamkeiten haben wir zwischen unseren Kulturen?” In Japan haben ihn bereits über 10 Millionen Zuschauer gesehen und inzwischen dürfte er weltweit verkauft sein.

Shinkai nimmt die Tsunami-Katastrophe, die Japan 2011 heimsuchte und der auch das Atomkraftwerk in Fukushima zum Opfer fiel, als Ausgangspunkt seiner märchenhaften Geschichte. Damals sind tausende Menschen evakuiert und ihrer Wurzeln beraubt worden und einer davon war auch Suzume, die hier ihre Mutter verlor und bei ihrer Tante aufwachsen musste. Inzwischen ist sie ein junges Mädchen und auf dem Weg zur Schule trifft sie eines Tages auf Souta, einen rätselhaften jungen Mann, der nach einer geheimnisvollen Tür sucht. Suzume folgt ihm heimlich und findet tatsächlich die gesuchte Tür in den Wäldern und öffnet sie. Damit löst sie eine Katastrophe aus, die Souta zwar verhindern kann, aber jetzt öffnen sich überall in Japan solche Türen, hinter denen großes Unheil für die Menschheit lauert. Souta ist ein Schließer, dessen Aufgabe es ist, die Türen zu schließen und die vor Unheil zu schützen. So reisen die beiden in großer Hektik durch ganz Japan, um alle Türen wieder zu verschließen und am Ende kommen sie in das Katastrophengebiet rund um Fukushima, wo Suzume als Kleinkind ihre Mutter verlor.

Damit verneigt sich Shinkai vor dem Schicksal tausender Menschen, die damals umgesiedelt und entwurzelt wurden und erreicht damit neben dem rasanten Spannungsbogen auch eine für einen Animationsfilm erstaunliche emotionale Dichte. Dabei setzt er seine Metaphern so klug, dass sie eine Allgemeingültigkeit bekommen, schließlich hat ein jeder von uns mindestens eine Tür in seinem Leben, die er noch verschließen muss.

Auch die Panorama-Sektion eröffnete mit einem Zeichentrickfilm, der aber genau daran krankt, dass er keine emotionale Wucht entfaltet. Und das trotz seiner herzergreifenden Geschichte. Die vielfach ausgezeichnete Regisseurin Sepideh Farsi erzählt in LA SIRÈNE (Grandfilm) vom 14-jährigen Jungen Omid, der im Iran-Irak-Krieg 1980 in der iranischen Ölmetropole Abadan als Essenslieferant unterwegs ist. Nach einem irakischen Raketenangriff versinkt die Stadt im Chaos und Omid muss nach seinem verschwundenen Bruder suchen, doch es gibt kein Entkommen aus der eingekesselten Stadt. Also versorgt Omid seine Mitmenschen weiter und sucht nach einem Fluchtweg. Am Ende organisiert er ein Schiff und flieht mit all seinen Freunden nach dem Vorbild der Arche Noah hinaus aufs offene Meer.

Hätte man nicht gerade den hochemotionalen SUZUME gesehen, würde man behaupten, dass es nicht möglich sei, im Zeichentrickfilm eine solche emotionale Dichte herzustellen wie im Realfilm. Das erscheint hier jedenfalls als Manko, und auch wenn der Krieg, um den es hier geht (damals ließ Saddam Hussein den Irak mit Giftgas-Bomben beschießen), den wenigsten im Gedächtnis ist, ist die Geschichte universell, hoch tragisch und bewegend. Alleine die Bilder können die Emotionen nicht immer rüberbringen, was sehr schade ist.

Zusammen mit Ben Hopkins schrieb der Grieche Vasilis Katsoupis das Drehbuch zu seinem Spielfilm-Debüt INSIDE (SquareOne), für das er mit einem einzigen Schauspieler auskommt. Willem Dafoe spielt den Kunstdieb Nemo. Von einem Hubschrauber seilt er sich ab, auf den Balkon eines Luxus-Penthouses eines renommierten Sammlers im obersten Stock eines New Yorker Hochhauses. Die Sicherheitsanlage kann er kurzschließen und dringt ein in ein Luxusappartement, das gespickt ist mit avantgardistischen Möbeln und modernster Technik, die die Versorgung der Fische im Aquarium, der Pflanzen und einiges andere steuert. Die Wände hängen voll mit den erlesensten Kunstwerken, aber Nemo hat es nur auf fünf Gemälde von Egon Schiele abgesehen. Über Funk wird er von seinem Komplizen gesteuert, doch dann geht etwas schief, das Sicherheitssystem stürzt ab und verriegelt die Wohnung. Schnell ist Nemo mit seinem Latein am Ende, auch sein Compagnon kann ihm nicht helfen, und so fügt er sich in sein Schicksal und wartet auf den Hausherrn, Security oder gar die Polizei. Doch auch die werden nicht alarmiert, so werden aus Stunden Tage und aus Tagen Wochen. Da auch die Wasserversorgung heruntergefahren wurde, entwickelt sich die Situation schnell zu einem Survival-Thriller. Die vielen Gemälde, die Nemo sicherlich gerne hätte mitgehen lassen, zählen jetzt nichts mehr. Die Wohnung wird gesteuert von einer Künstlichen Intelligenz und er muss begreifen, wie sie programmiert ist.

Katsoupis gelingt es, den spannenden Überlebens-Thriller auf eine höhere Stufe zu heben und philosophiert am Ende über die wahren Bedürfnisse des Menschen. Willem Dafoe brilliert auch ohne Anspielpartner mit wenig Worten und dafür viel Mimik und Gestik. Ein spannender Spass mit vielen grotesken Szenen und einem feinen Humor.

Einen ähnlichen Spaß machte DAS LEHRERZIMMER (Alamode), den der preisgekrönten Regisseur İlker Çatak (ES GILT DAS GESPROCHENE WORT) mit Leonie Benesch (DER SCHWARM, DAS WEISSE BAND) in der Hauptrolle besetzte. Sie spielt Carla Nowak, eine junge, engagierte Lehrerin für Sport und Mathematik. Sie ist neu an dem Gymnasium, wo sie die 7. Klasse unterrichtet. Wer jetzt ein typisches Schuldrama mit marodierenden Schülern unterschiedlichster Herkunft erwartet, liegt falsch, denn eigentlich läuft es ganz gut. Carla ist engagiert und lässt sich einiges einfallen, und die Schüler*innen folgen ihr im Unterricht. Doch es gibt gerade einen Makel an dieser Schule, die sich für totale Transparenz einsetzt: Es kommt immer wieder zu kleineren Diebstählen und als einer ihrer Schüler verdächtigt wird, beschließt Klara, der Sache auf eigene Faust auf den Grund zu gehen.

“Was im Lehrerzimmer ist, bleibt im Lehrerzimmer!” ist das Credo der Lehrenden, doch eigentlich ist es ein frommer Wunsch und harmoniert nicht mit dem Transparenz-Gedanken, der den Schülern über die Schülermitverwaltung den Zugang zu allen Klassenkonferenzen ermöglicht. So bekommen alle schnell Wind von Karlas Ermittlungen, und da die Dinge komplizierter sind, als sie scheinen, bringt sie eine Lawine ins Rollen. Fortan muss sie vermitteln zwischen rechthaberischen Kollegen, empörten Eltern und angriffslustigen Schülern und gerät bald zwischen alle Fronten.
Genüsslich zerlegt İlker Çatak den Mikrokosmos Schule und hinterfragt die derzeitige Debattenkultur, die es allen – immer politisch korrekt – recht machen will und sich dabei selbst ad absurdum führt. Das ist intelligent geschrieben und verweist auf viele Probleme, die manchem Zuschauer bekannt sein könnten.

Filmversionen des Lebens der berühmten Kaiserin Elisabeth von Österreich erleben zurzeit einen Boom. Alle sind bemüht, der immer noch bekanntesten Version mit Romy Schneider von Ernst Marischka aus den fünfziger Jahren modernere Interpretationen entgegenzusetzen. Im Kino war es unlängst Marie Kreutzer mit CORSAGE, nun versucht sich Frauke Finsterwalder mit SISI & ICH (DCM) daran. Sie erzählt aus der Perspektive der letzten Hofdame der Kaiserin, Irma Gräfin Sztáray (Sandra Hüller). Diese muss für ihre Bewerbung nach Korfu reisen, wohin die Kaiserin sich im Kreis einiger adliger Frauen zurückgezogen hat, und dort erst einmal einen Fitness-Test bestehen. Doch einmal eingestellt, kommen sich die beiden Frauen schnell näher.

Finsterwalder kreiert hier einen fiktiven Frauenkosmos, in dem gerne Grenzen ausgelotet werden. Drogen, Tattoos, Séancen, alles ist möglich – Hauptsache der Hof ist fern. Doch das freie Leben hat ein Ende, als Kaiser Franz-Josef ein Machtwort spricht und Sisi heim nach Wien beordert. Die Regisseurin unterstreicht ihren modernen Ansatz auch mit ihrer Musikwahl – Portishead, Le Tigre – und den Kostümen, befreit von der Etiquette erlauben sich die Frauen fließende Gewänder, die ihnen die nötige Bewegungsfreiheit lassen. Hinzu kommt noch eine angedeutete homoerotische Komponente, die der Sisi-Rezeption eine neue Variante hinzufügt.

Der schwache Wettbewerb ließ in diesem Jahr auch die Stardichte schrumpfen. Um dem entgegenzuwirken, erhalten viele Filme eine feierliche Premiere in der Reihe ‘Berlinale Specials’. Hier hatte Steven Spielbergs Film DIE FABELMANS (UPI) Premiere, obwohl er bereits im letzten Jahr auf Festivals in Rom und Thessaloniki zu sehen war. Doch anwesend war Spielberg nur in Berlin, immerhin hatte man ihn mit einem Goldenen Bären für sein Lebenswerk gelockt.

Ähnlich wie Kenneth Branagh zuletzt in BELFAST verarbeitet Spielberg hier seine eigene Kindheit. Das semibiographische Werk ist eine behutsame Coming of Age-Geschichte, die die Begeisterung eines kleinen Jungen für das Medium Film ins Zentrum stellt. Seine Eltern entfachen diese Liebe zum bewegten Bild, indem sie ihm nach einem Kinobesuch eine Kamera schenken. Bald filmt der Junge, wo er nur kann, zum Beispiel Western-Szenen mit seinen Freunden in der Schule oder das ganz normale Familienleben. Diese Filmchen sind es aber auch, die ihm beim Schneiden durch die immer vertraulicher werdenden Gesten und Blicke zwischen Bennie, dem Freund des Vaters, und seiner Mutter bald bewusst werden lassen, dass die Ehe seiner Eltern sich dem Ende zuneigt.

Spielberg schrieb das Drehbuch zusammen mit Tony Kushner, mit dem er auch schon die WEST SIDE STORY und MÜNCHEN umgesetzt hatte. Gemeinsam mit dem hervorragenden Cast, darunter Hauptdarsteller Gabriel Labelle, Paul Dano und Michelle Williams als seine Eltern sowie David Lynch in einer furiosen Gastrolle als John Ford, gelingt ihm ein berührender und zuweilen poetischer Film über die Magie des Kinos.

In dieser Sektion zeigte auch Robert Schwentke seinen neuen Film SENECA (Weltkino) und brachte Weltstar John Malkovich mit nach Berlin. Der spielt in dem Historienfilm den titelgebenden römischen Senator, einen der reichsten Männer des antiken Roms, der sich gewählt ausdrücken konnte und für seine liberalen Theorien zu einem friedlichen Miteinander bekannt war. Er war mit der Erziehung Neros betraut, doch der hat sich von dem humanistischen Denker gerade losgesagt und verurteilt ihn zum Tode. Er befiehlt, dass er sich selbst hinrichten soll, am nächsten Morgen muss er tot sein. Was folgt, ist ein endlos langer Monolog, den Seneca in seiner Villa, wie auf einer Theaterbühne aufsagt und seine eigene Identität in Frage stellt. Ist er ein Mitläufer, ein Kollaborateur oder gar ein Kriegsgewinnler oder ist er der integre weise Mann, der dem Tod ins Gesicht sehen kann?

Auch Helen Mirren führte diese Reihe nach Berlin. In GOLDA spielt sie die israelische Ministerpräsidentin Golda Meir – und wir ahnen es schon: Es gibt niemanden, den sie nicht vollendet zu verkörpern vermag, auch wenn der Maskenbildner hier Verblüffendes geleistet hat. Regisseur Guy Nattiv konzentriert sich auf eine Phase in ihrem Leben, in der sie innerhalb kurzer Zeit schwerwiegende Entscheidungen für ihr Land treffen musste. Es geht um den rund dreiwöchigen Jorn-Kippur-Krieg 1973, als Ägypten, Syrien und Jordanien einen Überraschungsangriff auf Israel starteten. Im Krisenstab wird gemeinsam mit Verteidigungsminister Mosche Dajan, Generalstabschef David Elazar und Mossad-Leiter Tzwi Zamir um eine Lösung gerungen.

Nattiv legt den Film vorwiegend als Kammerspiel an, informiert den Zuschauer über den Kontext unter anderem mittels eingeblendeter Zeitungsschlagzeilen. Blutige Kriegshandlungen meidet er dagegen. Nur selten weicht er seiner Protagonistin von der Seite und schafft ein intimes wie pointiertes Porträt einer starken Frau, die sich geschickt in einer männerdominierten Welt durchzusetzen vermag. Aber auch ihr Kampf mit einer Krebserkrankung und ihre damit verbundenen Ängste werden thematisiert und fügen dieser faszinierenden Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts eine weitere Facette hinzu. Als Rahmenhandlung fungiert in einer zweiten Zeitebene der nach dem Krieg eingesetzte Untersuchungsausschuss, vor dem sich Meir für ihre getroffenen Entscheidungen rechtfertigen muss.

David Cronenbergs Sohn Brandon brachte seinen neuen Film INFINITY POOL (UPI) als Berlinale Special mit in die Hauptstadt. Aufmerksamkeit erregte Hauptdarsteller Alexander Skarsgård bei seinem Auftritt vor der Premiere, bei dem er sich bäuchlings auf den Roten Teppich legte. Bei der New York-Premiere hatte er sich gar an der Leine auf allen Vieren vom Regisseur in den Saal führen lassen – passend zum Film, in dem es ebenfalls eine solche Szene gibt. Skarsgård spielt hier James, einen Schriftsteller mit Schreibblockade, der mit seiner reichen Ehefrau Em Urlaub auf der fiktiven Insel Tolqua in einem Luxusresort macht. Von einem anderen Pärchen lassen sie sich überreden, einen Ausflug zu machen. Bei der Rückfahrt überfährt James einen Fußgänger und begeht Fahrerflucht, wird jedoch schnell von der Polizei ausfindig gemacht und festgenommen. Auf der Insel steht auf ein solches Vergehen die Todesstrafe, doch können sich die Deliquenten mit viel Geld freikaufen. Dann wird von ihnen ein Klon hergestellt, der an ihrer Stelle bestraft wird. Natürlich nimmt James das Angebot an. Nach der Freilassung stellen er und seine Frau fest, dass auch einige andere Urlauber das Verfahren kennen und zum Anlass nehmen, ihre dunkle Seite voll auszuleben, schließlich haben sie keine Konsequenzen mehr zu fürchten.

In einem Genre-Mix aus Horror, Science-Fiction und Gesellschaftssatire stellt Cronenberg gnadenlos einen Mikrokosmos zur Schau, in dem es keine Werteordnung mehr gibt. Auch wenn diese Konstellation ein interessanter Ansatz ist, verliert sich der Film zunehmend in ebenso provokante wie unappetitliche Gewaltexzesse. Ob dies immer notwendig ist, bleibt dahingestellt, immerhin hält INFINITY POOL seinen Spannungsbogen bis zum Schluss und bietet Diskussionsstoff.

Die australischen Zwillingsbrüder Danny und Michael Philippou feierten bisher Erfolge mit ihrem YouTube-Kanal “RackaRacka”, auf dem sie unter anderem mit Begeisterung in kurzen Clips Horror- und Actionfilme parodierten. Nun legten sie ihren ersten Langfilm TALK TO ME (Capelight Pictures) vor und kreierten damit ihren eigenen, durchaus gelungenen Horrorfilm, der bereits in Sundance Aufmerksamkeit erregte. Im Mittelpunkt steht eine Gruppe Teenager, die ein ganz besonderes Partyspiel zelebrieren. Mittels einer mumifizierten Hand können sie mit Toten Kontakt aufnehmen und diese in ihren Körper fahren lassen. Dabei filmen sie sich per Handy und stellen die Bilder ins Netz. Mia, die vor zwei Jahren auf tragische Weise ihre Mutter verloren hat, ihre Freundin Jade und deren jüngerer Bruder Riley, lassen sich auf einen Versuch ein. Riley verletzt sich dabei schwer und wird die Geister nicht mehr los. Ein munterer Mix aus Horror und Psycho-Thriller, spannend erzählt, der jugendlichen Voyeurismus aufs Korn nimmt und ansprechende schauspielerische Leistungen der jungen Crew vorweisen kann.

Im Jahr von Loriots 100. Geburtstag präsentierten Bettina und Susanne von Bülow zusammen mit Regisseur Peter Geyer LORIOTS GROSSE TRICKFILMREVUE (Die Filmagentinnen / Salzgeber). Der Film kommt schon bald als ‘alternativ content’ in die Kinos und wird hauptsächlich in Einzelvorstellungen in den Multiplexen zu sehen sein. Ob er auch was für die Programmkinos ist, wollten wir wissen und habe ihn uns am Publikumstag am Sonntag Nachmittag im Haus der Berliner Festspiele angesehen. Auch wenn man die meisten der 31 Trickfilme kennt, der Film ist liebevoll restauriert, teilweise neu gezeichnet, erstmals koloriert und behutsam ins 4K-Kinoformat übertragen. Dabei ist es die clevere Montage, die die einzelnen Kurzfilme geschickt miteinander verbindet und der Badewannen-Sketch zieht sich wie ein roter Faden durch den Film. Der Saal war prallvoll mit einem vorwiegend bürgerlichen Publikum, die ein nostalgisch vergnügliches Kinoerlebnis erlebten, und einige der frühen Sketche hatten wir auch noch nicht gesehen. Ein idealer Film für einen Sonntag-Nachmittag.

Politisch wurde es dann nochmal bei der Weltpremiere von Lars Kraumes DER VERMESSENE MENSCH (Studiocanal). Auf eine Pressekonferenz hatte er verzichtet und stellte sich lieber nach dem Film zusammen mit seinen Schauspielern den Fragen eines interessierten Publikums. Das zeigte sich ergriffen von der Geschichte, die von dem jungen Ethnologen Alexander Hoffmann erzählt, der an der Uni Ende des 19. Jahrhundert mit der evolutionistischen Rassentheorie konfrontiert wird. Er selbst hält wenig davon, anhand des Vermessen von afrikanischen Schädeln, die Überlegenheit der deutschen Rasse nachweisen zu wollen. Er macht dennoch mit, vielleicht auch um das Gegenteil zu beweisen, jedenfalls lernt er auf einer Konferenz Kezia kennen, die für eine Delegation von Nama und Herero, die zur Teilnahme an dieser „Völkerschau“ gezwungen wurden, übersetzt und ihr Missfallen an dieser Veranstaltung auch zum Ausdruck bringt. Kurz nach der Rückreise der Delegation beginnt im damaligen „Deutsch-Südwestafrika“ ein Aufstand gegen die deutsche Kolonialmacht, und Hoffmann startet zu einer Expedition ins Kriegsgebiet, wo er unter dem Schutz der kaiserlichen Armee durch das ganze Land reist auf der Suche nach Schädeln – und nach Kezia.

Kraume deutet hier eine romantische Liebesgeschichte an, die Hoffmann vorgeschwebt haben mag, doch angesichts von Folter und Massenvergewaltigungen von Kezia niemals erwidert werden kann. Kraume behandelt hier ein Thema, das die meisten Deutschen nicht auf dem Radar haben. Irgendwie ging nach zwei verlorenen Weltkriegen und dem Holocaust die Fragen nach den Verfehlungen des deutschen Kolonialismus verloren. Hoffmann wird Zeuge der ersten deutschen Konzentrationslager in Afrika, von Genozid und Vertreibung und allerlei anderer Gräueltaten. Am Ende findet er Kezia in solch einem KZ auf der Haifischinsel wieder, wo sie wie eine Sklavin gehalten wird und die Schädel von getöteten Namibier*innen säubern und sorgfältig verpackt nach Deutschland schicken muss. Hoffmann traut sich nicht, ihr vor die Augen zu treten, mag sie nicht mehr retten, sondern kehrt als desillusionierter Wissenschaftler und opportunistischer Mitläufer zurück nach Hause. Auch wenn Hoffmann ein fiktiver Charakter ist, führt er uns durch ein Land grenzenlosen Unrechts und stellt Fragen, die beim anschließenden Publikumsgespräch thematisiert wurden. Lars Kraume verwies darauf, dass dieser Genozid nicht einmal in namibischen Geschichtsbüchern vorkommt und fragte sich laut, wie es sein kann, dass immer noch so viele Schädel von ermordeten Namibiern in unseren Museen lagern.

So war die Berlinale für uns trotz eines schwachen Wettbewerbs ein recht erfolgreiches Festival, das in fast allen Sektionen starke deutsche Filme präsentierte, die in unseren Kinos Aussichten auf Erfolg haben. Wenn dann Cannes im Mai noch entsprechend hochkarätige internationale Filme beisteuert, können wir einem guten Kinojahr entgegensehen.